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Ar­beit­neh­me­r:in­nen­rech­teDie Fesseln des Streikrechts

Es gibt Dinge, die in Deutschland nicht zum intuitiven Allgemeinwissen gehören. Zum Beispiel der Fakt, dass Menschen mehr Geld verdienen sollten.

Nur tariffähige Gewerkschaften dürfen einen Streik ausrufen, hier streiken die Mitarbeiter der Verkehrsbetriebe in Hannover am 03.03.2023 Foto: Moritz Frankenberg/dpa

S eit Kurzem verfolgt mich ein kleiner, unscheinbarer Satz. Eigentlich war es bei dem Telefonat um ein konkretes Anliegen gegangen, doch meine Bekannte und ich hatten uns zuletzt zu Beginn der Pandemie gesprochen, und so verfielen wir bald in eines dieser gegenwärtig so typischen Blitz-Aufholgespräche.

In unter zehn Minuten tauschten wir Trennungen, Todesfälle und andere Alltagsumbrüche, als seien es Panini-Karten. „Ach so, ich wusste nicht, dass du da nicht mehr bist. Und ist der neue Job denn okay?“, fragte meine Bekannte. „Ja schon. Aber eben wieder nur Mindestlohn, es bleibt also stressig.“ – „Was, echt? Soll jetzt nicht blöd klingen, aber du könntest doch mehr verdienen.“ Es soll hier nicht um meine individuellen Chancen und Hinde­rungen gehen, der Satz hallt anders nach. Morgens, während ich beim Warten am überfüllten U-Bahnhof dabei zusehe, wie ein junger, nicht-weißer Typ mit der Reinigungsmaschine Muster auf den Boden zeichnet.

Als ich in der U-Bahn dann Zeugin werde, wie eine unübersichtlich wackelnde Kleinkindbande von einer Erzieherin und einem Praktikanten auf die freien Sitze verteilt und bei Anfahrt des Zuges bereits mit Apfelschnitzen versorgt wird. Und auch, als ich nach Feierabend in den Supermarkt springe und der Kassierer die Waren roboterschnell über den Scanner zieht, als wolle er ein sagenhaftes nächstes Level freispielen.

IHR MÜSSTET ALLE MEHR VERDIENEN. Es gibt statistische Wahrheiten, die in diesem Land nicht in das intuitive Allgemeinwissen einfließen. Mit der neoliberalen Umstrukturierung des Arbeitsmarktes und der massiven Privatisierung von staatlicher Infrastruktur wurde die soziale Landschaft Deutschlands grundlegend umgegraben. Viele einst gut bezahlte Mittelstandsjobs wie etwa bei der Deutschen Post wurden so in den Niedriglohnsektor geschoben, der folgende allgemeine Lohnverfall lässt sich durchaus als kalkuliert beschreiben.

Das Bekenntnis zum aggressiven Lohndumping verschaffte Deutschland ohne Zweifel einen klaren Wettbewerbsvorteil innerhalb des europäischen Staatengefüges. Erarbeitet wird er vor allem von Frauen, Mi­gran­t*in­nen und ostdeutschen Arbeiter*innen. Sind also diese Gruppen gemeint, wenn Bundesfinanzminister Christian Lindner mal wieder von den Leistungsträgern spricht, für die er Politik machen will?

Tatsächlich arbeitet in Deutschland je­de*r Fünfte für einen Stundenlohn, der unter 12,50 liegt. Ein Aufstieg in höhere Gehaltsklassen gelingt nicht etwa zufällig nur den wenigsten, er steht von vorneherein im Gegensatz zum wirtschaftlichen Interesse „unseres Landes“. Nur in Lettland, Litauen, Estland, Polen und Bulgarien ist die Lohn­ungerechtigkeit ausgeprägter.

Lohnbeschäftigte werden oft zu individueller Anstrengung zur Verbesserung ihrer Lage ermutigt, dabei läge ihre tatsächliche Macht im kollektiven Zusammenschluss. Doch auch die Arbeitnehmerrechte sind in Deutschland stärker beschnitten als beispielsweise in Ländern wie Frankreich oder Italien. Gerade anlässlich der aktuellen Entscheidung der Post-Beschäftigten zum Streik sollte an die reaktio­näre Schlagseite des deutschen Streikrechts erinnert werden. Streikformen, die anderswo als selbstverständlich gelten und wichtige demokratische Mittel von Ar­beit­neh­me­r*in­nen darstellen, sind im Land der strukturellen Ungleichheit verboten.

Be­am­t*in­nen dürfen nicht streiken und Ar­bei­te­r*in­nen sich nicht selbst zum streikenden Arbeitskampf organisieren – nur tariffähige Gewerkschaften können die Arbeitsniederlegung ausrufen. An diesen undemokratischen Fesseln des Streikrechts muss kollektiv und solidarisch gerüttelt werden, so wie es die Ini­tiative „Kampagne für ein umfassendes Streikrecht“ vorschlägt. Gerade für uns Nied­rig­lohn­ar­bei­te­r*in­nen ist es wichtig, vom Ich zum Wir zu kommen. Unsere Kraft zeigt sich im Streik. Schauen wir, dass wir ihn uns zurückholen.

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8 Kommentare

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  • o stupid, es herrscht klassenkampf.



    + die arbeitenden waren + sind mal wieder die verliererInnen.



    die derzeitige streikwelle zeugt von einer aufholjagd.



    wie wäre es mal mit festgeld-lohnerhöhungen und scala mobile, also gleitender lohnskala?

  • Als einer der auch Arbeitsrecht studiert habe, kann ich diesem Artikel und Frau Aseva zu 100 % zustimmen.



    Wenn es dann doch trotz einiger rechtlichen Hürden zum Streik kommt, (Friedenflicht etc) und die Arbeitgeber Ausperrungen von Arbeitnehmer:innen vornehmen, wurde das Gesetz so verändert, dass nunmehr auch die Ausgesperrten aus der Streikkasse der Gewerkschaften bezahlt werden, damit das Streikziel nicht gefährdet wird.... Und die Gesetze haben die Sozialdemokraten mit beschlossen.....



    Liege taz, berichtet bitte mehr über das Thema!!!!

  • Und das Ganze angesichts der Selbstbedienungsmentalität vieler Politiker ...

  • Die Einkommens- und Arbeitsbedingungen von Reinigungskräften, Erzieherinnen und Kassiererinnerinnen wären demnach besser, wenn sie ohne Zutun von Gewerkschaften streiken dürften? In meinen Augen ist das eine ziemlich unrealistische Wunschvorstellung.



    Nichts gegen eine Ausweitung des Streikrechts, aber mit einer Stärkung der Gewerkschaften wäre in meinen Augen viel mehr zu gewinnen. Vom Ich zum Wir bedeutet für mich, sich kollektiv dort zu organisieren, wo es auf jeden und jede ankommt - in den Gewerkschaften.

  • Frankreich und Italien sind halt ein schlechter Vergleich, da es in beiden Ländern um die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit schlecht bestellt ist und die Aussichten eher düster sind. Mit ursächlich dafür ist der Reformstau bzw. die Unwilligkeit für Reformen.

    Jobs, die heute mit dem Mindestlohn entlohnt werden sind in der Regel auch nicht mehr wert und werden in naher Zukunft auch digitalisiert werden. Wer mehr verdienen möchte sollte sich halt entsprechen fortbilden.

    • @DiMa:

      Sorry aber das ist halt auch nicht wahr. Also bei der Digitalisierungsgeschwindigkeit in Deutschland kann ich mir nicht vorstellen, dass Supermarktkassierer, Kellner und Putzkräfte und co. bald alle digitalisiert sind.



      Wie im Artikel steht sind ein Fünftel aller Jobs im Mindestlohnbereich. Also ein Fünftel aller Arbeit im Land wird schlecht bezahlt. Wenn die sich alle weiterbilden und woanders arbeiten, dann bricht das System zusammen. Weil für Positionen im Management und Verwaltung von Betrieben braucht man Menschen und Arbeitskräfte die man managen und verwalten kann.

      • @curiouscat:

        Die Digitalisierungsgeschwindigkeit auf die Sie abstellen, zielt auf Behörden ab.

        An den Kassen haben wir ja bereis teilweise entsprechende Systeme. Das wird sich schnell ändern. Lokomotivführer und LKW-Fahrer wird es auf Dauer auch nicht mehr lange geben. Und das Putzen im Haushalt übernehmen ja bereits jetzt teiweise elektische Geräte. Das wird sich mittelfristig auch im öffentlichen Bereich durchsetzen.

        Je höher die Personalkosten, desto schneller wird die Digitalisierung kommen.

  • Wenn ich darüber nachdenke, wie meine ideale Welt aussehen würde, dann würden wir gleicher verdienen und es gäbe weniger Geld. Grundbedarfe wären qualitativ hochwertiger gedeckt (hochwertige Nahrungsmittel, robuste und gut verarbeitete Gebrauchsgegenstände). Es gibt so viel Geld - und es wird so oft genutzt für Statuskonsum. Ich bin also solidarisch mit Streikenden, insbesondere in Berufen, die oft von Frauen ausgeübt werden. Gleichzeitig, bin ich im Hinblick auf die Forderung nach mehr Geld, statt nach gleicheren Möglichkeiten und Bedingungen zurückhaltend. Ich wünschte machmal, dass mehr über dezentrale und unkommerzielle Strukturen gesprochen werden würde.