Antisemitismus in der Linken: Safe Spaces auch für Jüd:innen
Antirassistische und migrantische Bündnisse haben ein Antisemitismus-Problem. Radikale Selbstkritik in Teilen der Linken ist dringend nötig.
N ach dem rassistischen Anschlag in Hanau im Februar 2020 gründeten sich mehrere sogenannte Migrantifa Gruppen, aktivistische Bündnisse, in denen sich seither vor allem migrantische Personen politisch organisieren. Diese Gruppen bieten einen Raum zum Austausch und zur Emanzipation. Doch die politischen Ansichten der Mitglieder stimmen nicht immer überein. Das gilt insbesondere beim Thema Nahostkonflikt und dem Umgang mit Antisemitismus.
Die Spaltung der Linken in dieser Thematik hat eine lange Geschichte. Bis 1967 unterstützte die deutsche Linke die Gründung des jüdischen Staats mehrheitlich, hatte dabei oft die Beispiellosigkeit des erst zwei Jahrzehnte zurückliegenden Holocaust vor Augen. Nach dem Sechstagekrieg jedoch erfolgte ein ruckartiger Sinneswandel, man richtete sich von da an gegen den „zionistischen Besatzerstaat“ – als höchste Form des US-Imperialismus und Kolonialismus. In diesem Weltbild fanden auch Verschwörungsideologien von der „zionistischen Weltherrschaft“ und vom „jüdischen Finanzwesen“ in Form des regressiven Antikapitalismus Platz. Sie wirken bis heute in relevanten Teilen der Linken fort, während Antisemitismus sowie die permanente Bedrohung jüdischen Lebens kategorisch ausgeblendet und stattdessen eine bedingungslose Solidarität mit Palästina eingefordert wird.
Israel ablehnende Positionen und antizionistische Sprechchöre und Plakate auf linken, antirassistischen Demonstrationen sind also kein neues Phänomen. Manche dieser Demonstrationen haben zunächst thematisch nichts mit dem Nahostkonflikt zu tun, andere sind explizit propalästinensisch. Auch in den vergangenen Monaten erweckte es den Anschein, als würden antirassistische Demonstrationen zunehmend von antiimperialistischen und antizionistischen Gruppierungen vereinnahmt, um unter dem Deckmantel des Antizionismus gegen Jüd:innen zu agitieren.
Dabei greifen Aktivist:innen und Bündnisse auf eine effektive Sprache zurück, indem sie nach dem Vorbild der postkolonialen Theorie, zu deren Vordenkern unter anderem Edward Said und Frantz Fanon gehören, in der Debatte um Israel und die palästinensischen Gebiete mit Begriffen wie „Apartheid“, „Siedlerkolonialismus“ oder gar „Genozid an den Palästinenser:innen“ um sich werfen.
Ereignisse wie die Intifada werden von Morden und Attentaten bereinigt und zu einer Aktion des legitimen palästinensischen Widerstands und revolutionärer „Abschüttelung der zionistischen Herrschaft“ stilisiert, wissenschaftlich elaborierte und anerkannte Begriffs- und Arbeitsdefinitionen werden abgelehnt, die Antisemitismusforschung der letzten Jahrzehnte wird ignoriert oder übergangen. PFLP-Terroristen wie Leila Chaled, die Hitler aufgrund seiner Judenfeindschaft bewunderte und Israels Umgang mit den Palästinensern mit dem Holocaust verglich, werden in diesen Kreisen zu Widerstandsikonen verklärt.
Vage Statements gegen Antisemitismus
Besonders in den vergangenen Monaten war zu beobachten, dass sich im Vorfeld solcher Demonstrationen zwar viele migrantische Bündnisse vor allem auf ihren Onlinekanälen von Antisemitismus abgrenzen, meistens aber ohne dabei ins Detail zu gehen, was sie unter diesem verstehen. Es wird stets betont, dass in ihren Reihen auch Jüd:innen aktiv sind – sie deshalb nicht antisemitisch sein könnten. Die Frage, wie und weshalb eine jüdische Identität antisemitische Haltungen verunmöglichen soll, wird gar nicht erst gestellt.
„Die Zusammenarbeit mit jüdischen, jedoch explizit antizionistischen Gruppen ist eine Imprägnierungsstrategie, um sich gegen Kritik im Vorhinein zu immunisieren“, sagt Samuel Salzborn, Antisemitismusbeauftragter des Landes Berlin. Häufig offenbare sich ein sehr naives, verkürztes oder falsches Verständnis von Antisemitismus im antirassistischen Bereich. Während offener, völkischer Antisemitismus der extremen Rechten erkannt werde, gebe es nur wenig Bewusstsein für neue Formen des Antisemitismus, der sich in den letzten Jahrzehnten gewandelt habe, sich auf anderen, die Schuldabwehr beinhaltenden Wegen artikuliert oder im arabisch-muslimischen Kontext vorhanden ist, sagt Salzborn.
Die jüdischen Gruppen in vielen migrantischen Bündnissen sind explizit antizionistische Jüd:innen, die als Kronzeugen fungieren, um die Kritik an Antisemitismus abzuweisen. „Diese Formen des modernen Antisemitismus werden ausgeblendet, entweder naiverweise, weil man sich nur prekär dafür interessiert, was Antisemitismus ist, oder vorsätzlich, weil man in dieser Frage israelbezogene, antisemitische Positionen formulieren, aber nicht als Antisemit:in bezeichnet werden will“, so Salzborn.
Da im antirassistischen Kontext Zionismus oftmals eine Gleichsetzung mit Rassismus erfährt, Antisemitismus als Unterform des Rassismus verstanden und Antizionismus somit zu einem unbedingten, antirassistischen Standpunkt erklärt wird, erfolgt eine manichäische Aufspaltung in „gute“, also antizionistische, und „schlechte“ Juden. Jüd:innen wird nach einigen Spielarten reduktionistischer, postkolonialer Theorie, ein sogenanntes Jewish privilege und das Attribut weiß attestiert.
Israel wird dabei als rassistischer Kolonialstaat dämonisiert und fungiert nicht selten als Projektionsfläche für alles Böse, sagt Jakob Baier, Politikwissenschaftler und Antisemitismusforscher. „Hier treten antizionistisch-antisemitische Ressentiments zum Vorschein, die den politischen Aktivismus mancher antirassistischer Gruppen prägen“, sagt er. Die hochkomplexe Konfliktkonstellation werde häufig auf einen vermeintlich universalen Kampf von Unterdrückern vs. Unterdrückte reduziert. Gerade für junge Menschen, so Baier, kann das in einer bestimmten Phase ihrer Politisierung ein verführerisches Weltbild sein, „wonach sich im Staatswesen Israels angeblich die gesamte Ungerechtigkeit postkolonialer Herrschaftsverhältnisse konzentriert“.
Diese binäre Aufspaltung wird zum Grundmuster der gesamten Menschheitsgeschichte erklärt und somit jede:r, der die Gegnerschaft zu Israel nicht bedingungslos unterstützt, als rassistisch oder „nicht wahrhaftig links“ markiert und die Definitionsmacht darüber, wie eine linke Praxis auszusehen hat, vereinnahmt. Inhaltlicher Widerspruch in dieser komplexen Debatte und differenzierte Kritik werden energisch abgewehrt. Sowohl Migrantifa Berlin als auch Palästina Spricht lehnten eine Interviewanfrage der taz zu diesem Thema ab.
Antisemitismus bei Black Lives Matter
Levi Salomon, Vorsitzender des Jüdischen Forums für Demokratie, kritisiert die fehlende Debattenkultur. Personen, die sich nicht dezidiert antiisraelisch positionieren oder Positionen, die an der widerspruchsfreien Darstellung des Nahostkonflikts rütteln, seien nicht erwünscht. „Israelsolidarische Linke und zionistische Juden haben in vielen dieser antirassistischen Bündnisse keinen Platz“, sagt er.
Derartige Ausschlussmechanismen führen dazu, dass Jüd:innen nur dann ein Teil der Bewegung sein können, wenn sie gegen Israel sind und damit gegen den einzigen Staat, der Jüd:innen eine Zuflucht vor dem weltweiten Antisemitismus bietet. Die deutschlandübergreifende Gruppe „Jewish Resistance Alliance“, die sich aus ebendiesem Grund organisiert hat, kritisiert: „Im antirassistischen Kontext wird nur selten mitgedacht, dass auch viele Jüd:innen migrantische Identitäten haben, sie also teilweise nicht nur von Antisemitismus, sondern auch von Rassismus betroffen sind. Vor allem der Vorwurf aus vielen antirassistischen Kreisen, zionistische Jüd:innen oder Unterstützer:innen des Existenzrechts Israels seien rassistisch, trifft besonders hart.“
Antisemitismus unter dem Deckmantel des Antizionismus ist kein ausschließlich deutsches Problem: Auch Black-Lives-Matter-Gruppen (BLM) in den USA, England und Frankreich wurde dahingehend ein blinder Fleck und die Unfähigkeit zwischen Kritik an israelischer Politik und Antisemitismus zu unterscheiden attestiert. So wurden im Zuge mehrerer BLM-Proteste Synagogen und jüdische Geschäfte geschändet, zu Angriffen auf „Zionisten“ aufgerufen, uneingeschränkte Unterstützung für die „Befreiung Palästinas“ und für die BDS-Bewegung sowie die Ablehnung des „Apartheidstaats Israel“ erklärt. Zwischen den Fronten finden sich schwarze Jüd:innen wieder, die bei solidarischer Kritik an der BLM-Bewegung Anfeindungen aus dem antirassistischen Milieu erlitten. Bis heute steht eine Distanzierung von BLM von diesen lautstarken antisemitischen Äußerungen aus.
Bevor die Rechte, unter dem Vorwand Antisemitismus anprangern zu wollen, die Kritik an migrantischen Bündnissen für ihre rassistische Agenda vereinnahmt, bedarf es einer radikalen Selbstkritik, etwas, was die Linke seit Jahrzehnten auszeichnet, um ebendiese Gruppen inklusiver, universalistischer und somit auch weniger angreifbar zu gestalten. „Ich sehe eine Form von Abwehr der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und der Schoah. Die Linke ist mehr denn je gefragt, hier selbstkritisch zu sein und eine klare Solidarität mit Jüdinnen und Juden zu bekennen und zu leben“, sagt Antisemitismusforscher Salzborn. Dazu gehöre auch eine scharfe Kritik am antiisraelischen Antisemitismus.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Geschasste UN-Sonderberaterin
Sie weigerte sich, Israel „Genozid“ vorzuwerfen
Prognose zu Zielen für Verkehrswende
2030 werden vier Millionen E-Autos fehlen
Fake News liegen im Trend
Lügen mutiert zur Machtstrategie Nummer eins
Mord an UnitedHealthcare-CEO in New York
Mörder-Model Mangione
Partei stellt Wahlprogramm vor
Linke will Lebenshaltungskosten für viele senken
Vertrauensfrage von Scholz
Der AfD ist nicht zu trauen