Anne Helm über NSU 2.0 und Neukölln: „Ich bin eine Reizfigur für Rechte“
Anne Helm ist neue Chefin der Linksfraktion im Berliner Abgeordnetenhaus. Im Interview spricht sie über ihre Schulzeit, Nazi-Drohungen und die Zukunft von R2G.
taz: Frau Helm, als neue Fraktionschefin der Linken wollen Sie sicher über Ihre politischen Anliegen sprechen. Derzeit stehen Sie aber bundesweit im Fokus, weil Sie von Rechten bedroht werden. Stört es Sie sehr, wenn wir jetzt dennoch damit anfangen?
Anne Helm: Ja. Aber wir können das trotzdem gern machen. Natürlich sind die Drohungen nervenzehrend und rauben Energie. Aber das Thema Rechtsextremismus ist ja gleichzeitig ein politischer Schwerpunkt von mir. Ich gehe davon aus, dass das auch der Grund ist, warum ich im Fokus von Rechten und rechtsterroristischen Strukturen stehe.
Wie ist denn die aktuelle Bedrohungslage?
Das Landeskriminalamt sagt, dass sich mit den NSU-2.0-Drohschreiben nichts an der Situation geändert hat. Ich muss davon ausgehen, dass diejenigen, die mir diese E-Mails schreiben, Kontakte zu Personen haben, die auch persönliche Observationen in Berlin betreiben – auch in meinem Wohnumfeld. Aber das ist auch nicht neu für mich, aber natürlich belastend. Die Drohmails kommen alle paar Nächte. Ich schaue morgens direkt, ob wieder was reingekommen ist.
Was ist Ihre Erklärung dafür, dass vor allem öffentlich bekannte Frauen zur Zielscheibe werden?
Aus den E-Mails geht sowohl ein ideologischer Antifeminismus, als auch ganz direkte Frauenfeindlichkeit hervor. Frauen haben im völkischen Weltbild dem Volkserhalt zu dienen. Meinungsstarke Frauen stehen diesem Weltbild entgegen. Neonazis sehen Migrantinnen zudem als Gefahr für den Erhalt eines imaginierten Volkskörpers. Wir betroffenen Frauen müssen herhalten für sexualisierte Gewaltfantasien, die die Täter in ihren Formulierungen gern Geflüchtete oder People of Colour ausführen lassen. Diese Kombination von Rassismus und Sexismus erleben engagierte Frauen ganz oft.
In verschiedenen Fällen wurden Daten von hessischen Polizeicomputern benutzt, um Informationen über Betroffene herauszufinden. Inwiefern ist das auch in Berlin Thema?
Datenabfischung aus Polizeicomputern oder auch das Durchstechen von Informationen an rechte bis rechtsterroristische Kreise müsste noch mal größer behandelt werden. In Berlin hatten wir mehrere ähnliche Fälle. Schlaglichter fielen darauf aber immer nur, wenn etwas herauskam: Wir hatten Drohschreiben von Polizisten in die linke Szene oder zuletzt den Fall eines Polizisten, der mutmaßlich Informationen an eine Chatgruppe weitergab, in der auch einer der Hauptverdächtigen der rechten Anschlagsserie in Neukölln war. Wir müssen das Problem mal strukturiert anschauen und uns vorlegen lassen, wie bei der Polizeidatenbank Poliks überhaupt die Kontrollmechanismen sind und welche Möglichkeiten zum Missbrauch es dort gibt.
Sollte der Generalbundesanwalt zum Komplex NSU 2.0 ermitteln?
Laut hessischem LKA sind mehrere Bundesländer betroffen und es sollen mehrere Täter sein – wir haben es also mit einem Netzwerk zu tun. Die Staatsanwaltschaft in Hessen hat den Generalbundesanwalt dazu aufgefordert, den Fall zu übernehmen. Es ist nicht nachvollziehbar, warum der sich nicht zuständig fühlt.
Wurde Polizeiwissen auch benutzt, um Sie zu bedrohen?
Meine persönlichen Daten aus dem Drohschreiben kommen nicht von Polizeicomputern. Diese Art von Informationen sind nicht in solchen Systemen hinterlegt. Das haben sie wohl eher aus Observationen meines Wohnumfelds.
Inwiefern?
Es gab schon früher Situationen, wo sich morgens zwei mir bekannte Neonazis an der Bushaltestelle links und rechts neben mich gesetzt haben und mir ruhig gesagt haben, dass sie wissen, in welchen Bus ich einsteige und wohin ich zur Arbeit fahre. Sie haben mich wissen lassen, dass sie ein Bewegungsprofil von mir erstellen. Außerdem wurde mein Briefkasten mal aufgesprengt und Post geklaut. Das wurde von der Polizei aber nicht politisch bewertet, sondern nur als Sachbeschädigung und Diebstahl. Das gehört alles zu den Einschüchterungstaktiken, die ganz gezielt gegen politisch Aktive in Neukölln gerichtet sind.
Der Mensch Geboren 1986 in Rostock, ist Anne Helm die ersten Lebensjahre in Treptow und nach der Wende in Neukölln aufgewachsen. 2006 absolvierte sie das Abitur am Albert-Einstein-Gymnasium. Schon zu Kindeszeiten arbeitete die Tochter des Schauspielers und Synchronsprechers Gunnar Helm ebenfalls als Synchronsprecherin, später machte sie diese Leidenschaft zu ihrer Profession. In mehr als 300 Produktionen, Filmen, Serien, Hörbüchern und Computerspielen ist Helm zu hören. Verheiratet ist sie mit dem Linken-Politiker und Ex-Piraten Oliver Helm, geborener Höfinghoff.
Die Politik Lokalpolitisch engagierte sich Helm außerparlamentarisch in Neukölln, ehe sie 2009 in die damals im Aufwind befindliche Piratenpartei eintrat. Fünf Jahre lang war sie Neuköllner Bezirksverordnete. Wie viele andere Pirat*innen wechselte sie 2016 zur Linken und zog noch im selben Jahr ins Abgeordnetenhaus ein. Ihr Abgeordnetenbüro RigoRosa betreibt sie zusammen mit Niklas Schrader in Neukölln. Anne Helm war Sprecherin der Fraktion für Strategien gegen Rechts und Medien und wurde Anfang Juni zusammen mit Carsten Schatz zur Fraktionschefin gewählt. (epe)
Fühlen Sie sich von der Polizei ausreichend informiert und beschützt?
Mir geht es sicherlich besser als Betroffenen in Hessen, bei denen es überhaupt kein Sicherheitsgefühl mehr gegenüber der Polizei gibt. Ich bin auch in einer anderen Situation als Menschen, die Morddrohungen an ihre Familienmitglieder erhalten. Aber klar ist da ein Misstrauen. Erst recht, wenn sich das Gefühl aufdrängt, dass das Vertrauen der Polizisten in die hessischen Kollegen teilweise selbst gering ist. Deswegen wurde mir empfohlen, meine Telefonnummer nicht in der Anzeige wegen des Drohschreibens anzugeben.
Wie bewerten Sie die Ermittlungen der Polizei zum Neukölln-Komplex?
Mindestens sind sehr viele Ermittlungsansätze verpasst worden. Es gibt aber auch Polizeibeamte, die das frustrierend finden. Der Zwischenbericht der Ermittlungsgruppe Fokus, die eingesetzt worden ist, um alles noch mal aufzurollen, war hauptsächlich ein Tätigkeitsnachweis. Das ärgert mich sehr. Es sind dann etwa Verbindungen zum Terroristen von Halle oder zum Mörder von Lübcke überprüft worden, um aufzuschreiben, dass man keine Verbindungen gefunden hat. Danach hat aber auch niemand gefragt.
Wonach denn?
Nach Verbindungen zu anderen Neonazi-Strukturen, die für Betroffene und Beobachterinnen auf der Hand liegen, aber nicht überprüft wurden. Es gab etwa keine Untersuchungen von Verbindungen zu Anschlägen auf Asylunterkünfte oder andere Taten, die wir dem Komplex zuordnen. Zudem muss mindestens die auch öffentlich debattierte Situation aufgearbeitet werden, in der man hätte zugreifen können und es dann doch nicht getan hat. Der nicht verhinderte Anschlag auf Ferat Kocak war Versagen auf ganzer Linie.
Braucht es zur Aufklärung einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss?
Ich glaube, es braucht so oder so externe Revision der Polizei. Aber man sollte hier vorsichtig sein mit den Erwartungen: Ein Untersuchungsausschuss kann keine polizeilichen Ermittlungen übernehmen. Aber er kann beleuchten, ob es ein strukturelles Problem bei der Polizei gibt und warum Ermittlungsansätze verpasst worden sind. Das kann man der Polizei nicht selbst überlassen. Und dafür fordern wir einen Untersuchungsausschuss oder als ersten Schritt zumindest einen Sonderermittler.
Wieso ist es so schwierig, in Deutschland eine ehrliche Debatte über Probleme bei der Polizei zu führen?
Legitime Kritik wird immer als Angriff auf die Institution gewertet. Das halte ich für einen Fehler. Gerade zur Rechtfertigung der Institution und um das Vertrauen wiederherzustellen, wäre es notwendig, solche strukturellen Probleme aufzuarbeiten. Immerhin gibt es ja mittlerweile auch aus der sogenannten Polizeifamilie Stimmen, die strukturelle Diskussionen einfordern – vom Bund deutscher Kriminalbeamter zum Beispiel.
Gibt es ein strukturelles Rassismusproblem in der Polizei?
Ja, selbstverständlich gibt es ein strukturelles Rassismusproblem in der Polizei. Und das ist nicht die einzige Institution, in der das so ist. Und da war nach der Selbstenttarnung des NSU der Stand der gesellschaftlichen Debatte schon mal sehr viel weiter. Aber damals wurden daraus die falschen Schlüsse gezogen – etwa indem die Ermittlungsbehörden noch mehr Kompetenzen erhalten haben.
Hat die Bedrohungslage für Sie mit der Bomber-Harris-Protestaktion 2014 begonnen, bei der sie dem britischen Luftwaffengeneral für die Bombardierung Dresdens mit einem Schriftzug auf ihrem nackten Oberkörper dankten?
Nein, das gab es schon vorher. Aber es hat stark zugenommen. Seitdem bin ich im deutschsprachigen Raum eine Reizfigur in rechten Netzwerken. Aber für die Neuköllner Nazi-Clique hat es auch davor schon gereicht, dass ich mich vor Ort engagiert habe. Die haben mich seit 2011 auf dem Schirm, wie Feindeslisten zeigen. Auch vor der Aktion in Dresden kannte ich rechtsmotivierte antifeministische Angriffe, Veröffentlichungen von privaten Informationen sowie koordinierte rechte Shitstorms.
Wie gehen Sie damit um, dass diese Aktion immer wieder von Rechten für koordinierte Shitstorms hervorgekramt wird – wie zum Beispiel zuletzt vom AfD-Fraktionschef Georg Pazderski?
Es gehört eben zu meiner Biografie. Im Umgang damit habe ich viel über politische Kommunikation gelernt. Die Aktion sollte provozieren und wahrgenommen werden. Wir wollten dem Geschichtsrevisionismus der damaligen Nazi-Demo in Dresden ein deutliches Zeichen entgegensetzen und klarmachen, wer die Opfer dieses Krieges und wer die Täter waren. Aber ich habe gelernt, dass man nicht kontrollieren kann, in welchem Kontext etwas gelesen wird – und dass antifaschistische Gedenkpolitik nicht zynisch sein sollte.
Sie sind in Südneukölln, in Britz zur Schule gegangen. Nazis sind dort seit Jahren präsent. War das damals auch schon so?
Ja. Die Nazi-Clique in Britz und Rudow kenne ich schon lange. Einer der Hauptverdächtigen der rechten Anschlagsserie kenne ich noch von damals: Wir haben uns als Schülerinnen die Gesichter von denen eingeprägt, um uns selbst zu schützen. Das ist wie auf dem Dorf: Man muss die örtlichen Nazi-Strukturen kennen, um sich zu schützen und im Zweifelsfall erkennen zu können, wer gefährlich ist.
Hat Antifaschismus Sie politisiert?
Ja, aber meine Perspektive darauf war eher Ungleichheit: Ich habe erlebt, wie von Rassismus betroffene Klassenkameradinnen schlechtere Chancen hatten als ich, obwohl sie bessere Noten hatten. Vielen Mädchen, mit denen ich befreundet war, wurde zu Hause eingebläut, nicht wütend sein zu dürfen und nie zu fordernd zu sein. Sie sollten sich zurückhalten, auch wenn sie Rassismus erfahren. Das hat mich extrem geprägt.
Nun aber mal genug von Rassismus und Nazis: Was sind die zentralen Dinge, die die Linke noch in dieser Legislatur erreichen will?
Uns geht es primär darum, Investitionen zu sichern. Man darf der Krise nicht hinterhersparen. Das ist die Lehre, die wir als Partei aus den letzten Krisen gezogen haben. Gerade jetzt müssen wir investieren, allein um den Arbeitsmarkt und die öffentliche Infrastruktur zu sichern und um sie für die Zukunft krisensicher zu machen.
Das alles klingt ja jetzt nicht nach großen Visionen oder Leuchtturmprojekten.
Ja, das klingt vielleicht ein bisschen dröge. Und das sind vielleicht nicht die Lieblingsprojekte, mit denen wir gerne werben würden. Aber es ist entscheidend. Jetzt darf auf keinen Fall zulasten der sozialen Sicherungssysteme gespart werden, damit nicht die Menschen, die am ärgsten von der Krise betroffen sind, diejenigen sind, die am Ende die Zeche zahlen.
Ziehen SPD und Grüne da mit?
Ich glaube, wir werden diesen Kampf gemeinsam führen. Hier sind die Konfrontationslinien anders gelagert: Als Parlamentarier und Haushaltsgesetzgeber müssen wir uns mit der Senatsverwaltung für Finanzen auseinandersetzen. Aber das werden wir. Wir haben als Parlament die Hoheit über den Haushalt. Ohne die Linke wäre dieser Kampf wahrscheinlich unter ganz anderen Voraussetzungen zu führen. Das ist die höchste Priorität für uns im Moment und auch die grundsätzliche Debatte in dieser Stadt.
In was für einer Gesellschaft möchten Sie leben, was ist Ihre politische Utopie?
In einer Gesellschaft, in der Menschen emanzipiert von sozialen und ökonomischen Zwängen leben können. Wo sie eine tatsächliche Entscheidungsfreiheit haben, was ihre Lebensentwürfe sind. Zum Beispiel, wie und wo sie arbeiten, ob sie Familien gründen wollen. Das ist in der Realität gerade nicht der Fall.
Verbessert Rot-Rot-Grün etwas daran?
Wir müssen Voraussetzungen schaffen, unter denen das möglich ist. Ich habe dann meinen Job gemacht, wenn es den Menschen besser geht und sie mehr Handlungsspielräume haben. Ganz konkret: Wenn Menschen aus einer beengenden Lebenssituation oder einer gewalttätigen Partnerschaft nicht rauskommen, weil sie es sich nicht leisten können, auszuziehen und versuchen müssen, den zehn Jahre alten Mietvertrag zu halten, ist das ein unerträglicher Zustand. Wenn wir die Voraussetzungen dafür schaffen, dass Menschen sich freier entscheiden können, unter welchen Umständen sie leben wollen, dann haben wir was richtig gemacht.
Kommt Ihre Utopie ohne Schlagwörter wie etwa Sozialismus aus?
Das habe ich ja gerade versucht. Aber es gibt Vordenker und Ideen, auf die wir uns beziehen, und dazu gehören selbstverständlich auch Sozialistinnen und Sozialisten, auf deren Schultern wir stehen.
Wollten Sie eigentlich schon immer Politikerin werden?
Nein. Nein!
Wie kam es dann dazu?
Das kam erst beim Machen. Politisch war ich schon sehr früh. Aber ohne die Piratenpartei, bei der ich das Gefühl hatte, Teil einer Bewegung zu sein, mit der man tatsächlich etwas erreichen kann, wäre ich nicht in die Parteipolitik gegangen. Als ich dann aber in der Kommunalpolitik in Neukölln war, habe ich gemerkt, dass mich der parlamentarische Rahmen mehr interessiert hat, als ich dachte. Der erste Aha-Moment war, als wir auf Bezirksebene Milieuschutzgebiete eingeführt haben. Das war ein langer, zäher Kampf, den ich damals schon gemeinsam mit der Linken im Bezirk geführt habe, aber als es geschafft war, haben wir eine reale Verbesserung für die Nachbarschaft erreicht. Das war einfach ein gutes Gefühl.
Als Synchronsprecherin waren Sie gut im Geschäft, nun sind sie Fraktionsvorsitzende. Fällt es Ihnen schwer, ihre Arbeit aufzugeben?
Über den Sommer muss ich noch ein paar Serien vernünftig zum Abschluss bringen. Ich liebe diesen Job und werde ihn vermissen, weil er abwechslungsreich ist und Spaß macht. Man kann als Synchronsprecherin sehr emotional sein, was man in der Politik lieber nicht sein sollte. Deswegen war das immer ein guter Ausgleich.
Wie gut hat Sie das Synchronsprechen darauf vorbereitet, als Politikerin Reden zu halten?
Leute sagen mir, dass ich eine schöne Stimme habe, aber ansonsten erstaunlich wenig. Es ist etwas ganz anderes, eigene Überzeugungen auf einer Demo oder im Parlament zu artikulieren. Was ich aber gelernt habe, ist zuhören und verstehen, wie Menschen Bedürfnisse artikulieren. Diese Nuancen wahrzunehmen ist ein großer Teil der Arbeit als Synchronsprecherin.
Wie war es, im Alter von neun Jahren ein „Schweinchen namens Babe“ zu sprechen?
Das war natürlich geil. Das war ein sehr süßer Film. Da hatte ich auch, anders als sonst, wo ich versuche, der Originalschauspielerin möglichst nahe zu kommen, sehr viel kreative Freiheit. Im australischen Original wird Babe von einer erwachsenen Frau und nicht von einem Kind gesprochen. Die Mimik des Schweins war auch nicht übermäßig computeranimiert, es war größtenteils einfach nur ein Schwein. Insofern hat die Stimme eine ganze Menge vom Charakter dieser Figur ausgemacht.
Sie sind die ersten Jahre in Treptow aufgewachsen, nach der Wende dann in Neukölln. Ist diese Ost-West-Vergangenheit irgendwie wichtig für Sie?
Das ist biografisch prägend. Meine Mutter war Buchhändlerin und erlebte in ihrem Freundeskreis zahlreiche staatliche Repressionen. Insofern gab es eine große Skepsis, Vorbehalte und Verletzungen gegenüber der Partei – auch wenn wir ein linker Haushalt waren. Entsprechend war es für mich zunächst nicht naheliegend, zur Linken zu gehen, obwohl ich linke Ideen und Ziele hatte. Ebenso sind mir Erfahrungen von Menschen bewusst, die nach der Wende das Gefühl hatten, dass ihre Lebensleistung nicht anerkannt wird. Sie mussten erleben, dass das, was gestern richtig war, auf einmal falsch ist, und hatten keine Zukunftsperspektiven mehr. Auch kenne ich etwa das Konzept Hausfrau überhaupt nicht – mit dieser Option bin ich einfach nicht aufgewachsen.
Die Piraten hatten ein besonderes Demokratieverständnis. Sie und Carsten Schatz sind von der bisherigen Fraktionsführung als Nachfolger auserkoren worden. Können Sie die Kritik daran nachvollziehen?
Kann ich, aber ich glaube das Gegenteil wäre ihnen auch zum Vorwurf gemacht worden. Gerade in dieser schwierigen Lage, mitten in der Pandemie, war es verantwortungsvoll, Vorschläge zu machen, wie es weitergeht. In der Kommunikation ist da ein bisschen was schiefgegangen, was sich im Nachhinein schwierig heilen lässt. Aber die Fraktion zeichnet offenen Austausch und Miteinander aus, das werden wir fortsetzen.
Haben Sie beide sich selber beworben?
Wir sind angesprochen worden und auch ziemlich kurzfristig.
Sie sind am Ende mit 16:9 Stimmen gewählt worden. War das eine Enttäuschung?
Nein, das interpretiere ich nicht so. Ich hatte eine Gegenkandidatin, und das Ergebnis ist klar genug, dass ich eine Unterstützung habe. Ich verstehe auch, dass ich nicht von allen Vorschussvertrauen bekomme, schließlich war es auch nicht die naheliegendste Option, dass ich in meiner ersten Legislaturperiode so einen Job übernehme. Damit kann ich umgehen.
Bislang waren Sie Sprecherin für Strategien gegen Rechts und Medien. Müssen Sie als Fraktionsvorsitzende jetzt Generalistin sein?
Ja. Ich versuche mir gerade in allen Bereichen einen Überblick zu verschaffen. Wir treffen gerade möglichst viele relevante Akteure in der Stadt, ich lasse mich aus den Fachbereichen beraten und schaue, welche Entscheidungen anstehen. Niemand erwartet von mir, dass ich eine Spezialistin in jedem Gebiet werde, aber die großen Linien müssen stimmen.
Gelingt es Ihnen als junge Fraktionsvorsitzende, sich gegen die Schwergewichte aus der Regierung oder den erfahrenden anderen Fraktionschefs durchzusetzen?
Es erwartet niemand, dass Carsten Schatz und ich Udo Wolf und Carola Bluhm ersetzen oder im gleichen Stil weitermachen. Wir sind andere Personen. Ich wundere mich aber über die Frage, ob ich mich durchsetzungsfähig in der Koalition fühle, weil ich das gar nicht als Problem sehe. Ich fühle mich durchaus gewappnet, auf Augenhöhe mitzureden.
Wie ist das Verhältnis zu den Fraktionsvorsitzenden der SPD und Grünen?
Ganz gut. Das ist eine vernünftige Arbeitsatmosphäre. Wir haben uns auch erst mal Zeit für eine Kurzklausur genommen. Uns ist auch bewusst, dass es bald in den Vorwahlkampf geht und das Bedürfnis, sich abzugrenzen, steigen wird. Aber es ist auch klar, dass wir ein gemeinsames Zeugnis ausgestellt bekommen. Deswegen kann sich niemand freuen, wenn eine Senatorin oder ein Senator mit einem Projekt scheitert.
Und nach der Wahl soll es mit R2G weitergehen?
Ich glaube, dass wir unsere Arbeit fortsetzen müssen. Interessant wird, wie sich die Koalition verändern wird. Selbstverständlich haben wir den Anspruch, den Regierenden Bürgermeister zu stellen. Das ist das, wofür wir kämpfen werden.
Wird es zum Knackpunkt bei der Wahl, ob der Mietendeckel bis dahin noch besteht?
Das ist ein relevanter Punkt. Der Mietendeckel ist ein Stimmungsbarometer für linke Mehrheiten in dieser Stadt, gesellschaftlich und parlamentarisch. Aber man darf nicht alles nur auf diese eine Karte setzen. Der Deckel ist erst mal eine Verschnaufpause, um Handlungsspielräume zu gewinnen. Wir ruhen uns auf dem Mietendeckel nicht aus: Andere Instrumente zur Regulierung des Mietmarktes, auch bei Gewerbemieten, müssen wir trotzdem vorantreiben. Eines davon kann auch die Vergesellschaftung großer Wohnungskonzerne sein. Sollte der Mietendeckel nur in Teilen halten, wird sich die Debatte ohnehin stärker darauf fokussieren, und das auch zu Recht. Damit ist man auf einer ganz anderen Gesprächsebene über die Frage, wie ein fairer Mietmarkt aussieht.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Hype um Boris Pistorius
Fragwürdige Beliebtheit
Russischer Angriff auf die Ukraine
Tausend Tage Krieg
BSW stimmt in Sachsen für AfD-Antrag
Es wächst zusammen, was zusammengehört
Aktienpaket-Vorschlag
Die CDU möchte allen Kindern ETFs zum Geburtstag schenken
Innereuropäische Datenverbindung
Sabotageverdacht bei Kabelbruch in der Ostsee