Annalena Baerbock im Porträt: Keine Angst vor Turbulenzen
Seit anderthalb Jahren ist Annalena Baerbock Außenministerin. Sie versucht, Prinzipien und Pragmatismus zu verbinden. Das gelingt nicht immer.
K urz vor der Datumsgrenze erwischen die Turbulenzen den Airbus. Die kleine Konferenzkabine im Regierungsflieger wird ordentlich durchgeschüttelt, die Anschnallzeichen leuchten auf, die Außenministerin hat weiterhin gute Laune.
Eine lange Reise liegt hinter ihr: Sechs Tage lang war sie in China, Südkorea und Japan. Drei Stunden sind jetzt geschafft seit dem Abflug aus Tokio, bis Berlin sind es noch mal elf. Der russische Luftraum ist tabu, der Umweg führt in dieser Nacht Mitte April über den Pazifik und den Nordpol.
Zeit genug also für eine Fragerunde mit den mitreisenden Journalist*innen, die jetzt vor ihr sitzen – und deren Gesichter von Minute zu Minute blasser werden: als erst das Auf und Ab der Maschine immer heftiger wird, als irgendwann noch ein penetrantes Piepen einsetzt, als dann eine Flugbegleiterin hereinplatzt und alle raus aus der Kabine und zurück auf die Sitzplätze bittet. „Dann sehen wir uns später wieder“, sagt Baerbock fröhlich zum Abschied. „Hoffentlich.“
Nervöses Lachen aus der Runde. Die Ministerin ist die Einzige, so scheint es, der die Turbulenzen nichts ausmachen.
Seit anderthalb Jahren führt Annalena Baerbock das Außenministerium. Gefühlt sind es der Umstände halber mindestens drei: Turbulent verläuft schließlich auch das Weltgeschehen, seit sie im Amt ist. Zeit zur Einarbeitung hatte sie nicht, Zeit zum Durchschnaufen auch nicht.
Doch so schwierig die Umstände sind, so nah ihr der Krieg in der Ukraine geht und so viel Wirbel es auch um sie selbst zuweilen gibt: Einen angeschlagenen Eindruck macht sie in diesen Tagen nicht. Im Gegenteil.
Persönlich könnte es ja auch schlechter laufen. Baerbock hat die 18 Monate im Amt genutzt, um sich neu zu profilieren. Fast vergessen ist der verkorkste Bundestagswahlkampf, zu dem sie als Spitzenkandidatin angetreten war. Weit weg sind auch die skeptischen Fragen zu Beginn ihrer Amtszeit: Kann sie es mit den Großen in der Welt aufnehmen? Sie, die zwar vier Jahre Chefin einer Oppositionspartei war, aber noch nie ein Regierungsamt innehatte? Und die als Frau – das schwang oft mit – von all den Männern auf der internationalen Bühne doch nicht ernst genommen würde?
Sie brauchte nicht lang für die erste Antwort. Januar 2022: Sieben Wochen nach ihrem Amtsantritt, kurz vor Beginn des Kriegs in der Ukraine, reist Baerbock nach Moskau. Sie trifft dort Sergei Lawrow, seit knapp zwei Jahrzehnten russischer Außenminister.
Während des Gesprächs hinter verschlossenen Türen, so erzählen es Baerbocks Leute, übergibt ihr der Russe eine mehrseitige diplomatische Note. Er wirft Deutschland darin einen Rechtsbruch beim Umgang mit der Pipeline Nord Stream 2 vor, die zu diesem Zeitpunkt zwar noch intakt ist, aber nicht in Betrieb gehen darf. Baerbock müsse sich das Dossier nicht sofort durchlesen, sagt er, das sollen ihre Experten in Ruhe zu Hause machen.
Eine bekannte Taktik: Die deutsche Delegation geht davon aus, dass Lawrow den Punkt schon ein paar Minuten später wieder ansprechen würde – dann vor laufenden Kameras, während der gemeinsamen Pressekonferenz. Baerbock, die in London ein Jahr lang Völkerrecht studiert hat, überfliegt das Papier direkt. Die Überprüfung müsse sie nicht abwarten, entgegnet sie dann, auf Seite 2 habe die Argumentation einen entscheidenden Fehler. Auf der Pressekonferenz belässt es Lawrow danach bei einem einzigen Satz zur Pipeline.
Baerbock hält vor den Kameras auch bestimmt dagegen, als es um den russischen Aufmarsch an der ukrainischen Grenze geht. Ähnlich deutliche Auftritte folgen ein halbes Jahr später bei ihrem Antrittsbesuch in Istanbul und schließlich in diesem Frühjahr bei ihrer ersten Reise nach Peking.
Sie bekommt Lob, aber auch maßlose Kritik
Bei vielen kommt sie damit gut an. „Sie macht ihren Job deutlich besser, als viele erwartet haben“, sagt der Grünen-Europapolitiker Anton Hofreiter, der eigentlich nicht mehr gut auf Baerbock zu sprechen war, nachdem sie ihn bei der Kabinettsbildung ausgebootet hatte. „In diesen Zeiten ist sie mit ihrer Klarheit gegenüber Russland und China die richtige Person.“
Dieser Meinung sind nicht nur Grünen-Mitglieder. Trotz der Umfragenkrise ihrer Partei steht die Außenministerin in allen Beliebtheitsrankings weit oben. Vor ihr lag zuletzt nur Verteidigungsminister Boris Pistorius, der noch nicht lange genug im Amt ist, um sich schon unbeliebt gemacht zu haben.
Gleichzeitig polarisiert Baerbock aber auch. Der Vorwurf ihrer Gegner, für die Weltbühne habe sie zu wenig Gewicht, ist nahtlos ins Gegenteil umgeschlagen. Er lautet nun: Überall zerschlage Baerbock Porzellan.
„Was für ein Unfall, dass diese Frau Außenministerin geworden ist“, sagte kürzlich der Fernseh-Philosoph Richard David Precht. Sie habe die „moralische Inbrunst einer Klassensprecherin“.
„Manchmal sieht es so aus, als reise sie zu dem einzigen Zweck um die Welt, den Anderen ihre Ansichten und Überzeugungen mitzuteilen“, hieß es vor zwei Wochen in der Welt.
Und international könne ja wohl nur Erfolg haben, „wer mit vielen Fragen in Gespräche hineingeht“ und „nicht predigend mit erhobenem Zeigefinger herumläuft“, sagte im letzten Spätsommer …
Nun ja, der letzte Satz stammt von Annalena Baerbock selbst. Er fiel im September, als die Außenministerin zum ersten Mal in ihrer Amtszeit die deutschen Botschafter*innen aus aller Welt zu einer Konferenz nach Berlin kommen ließ. Unter den Kronleuchtern im Weltsaal ihres Ministeriums erklärte sie dort, wie sie sich die Grundzüge ihrer Außenpolitik vorstellt.
Von den Schlagworten, die sonst gemeinhin mit ihrem Kurs verknüpft sind, war wenig zu hören. Von einer „wertegeleiteten Außenpolitik“, die sie vor ihrem Amtsantritt angekündigt hatte, sprach Baerbock nicht. Seit sie regiert, verwendet sie den Begriff ohnehin sparsam. Im Weltsaal beschreibt die Außenministerin ihren Kurs stattdessen mit einem Dreiklang, der Ausgewogenheit signalisieren soll: „Wertefest“, sagt sie zwar. Aber auch: „interessengeleitet und lösungsorientiert“.
Als Grünen-Chefin arbeitete Baerbock früher zusammen mit Robert Habeck daran, dass sich die Partei eine neue Haltung zulegt. Sie wollten wegkommen von der „moralischen Erziehung des Menschengeschlechts“, wie es Habeck vor zehn Jahren nach einer verlorenen Bundestagswahl ausdrückte. Nimmt man Baerbock beim Wort, hat sie diesen Vorsatz auch für ihre Außenpolitik gefasst.
Und das ist nicht ausschließlich Rhetorik. Thorsten Benner beschäftigt sich am Global Public Policy Institute in Berlin mit internationaler Politik. „Annalena Baerbock hat dem Begriff der ‚wertegeleiteten Außenpolitik‘ zwar nie explizit abgeschworen“, sagt er. „Ihre reale Außenpolitik lässt sich mit so einem Mantra aber überhaupt nicht beschreiben. Sie hat oft einen extrem pragmatischen Ansatz.“
Es gibt viele Gründe dafür, dass das öffentliche Bild der Außenministerin damit nicht immer übereinstimmt. Einer ist, dass sich ein Image nun mal nicht von einem Tag auf den nächsten ändert. Ein anderer, dass bei Baerbock in vielen Fällen nicht auf Anhieb erkennbar ist, ob sie eine Entscheidung aufgrund der Moral oder aufgrund der Nützlichkeit getroffen hat. Oft führen bei ihr beide Wege zum gleichen Ergebnis.
Ein Mittwochabend Anfang Mai: Im Lichthof, dem riesigen Foyer des Außenministeriums, spielt Baerbock Fußball. Im August findet die Weltmeisterschaft in Australien und Neuseeland statt, die Außenministerin wird vor Ort sein und jetzt hat sie schon mal zu einer Vorab-Veranstaltung eingeladen. Mit Nachwuchsspielerinnen des SV Siemensstadt schießt sie auf ein Mini-Tor. Ihre drei Versuche gehen zwar drüber, aber es entstehen mal wieder gute Fotos. „Gute Haltung“, heißt es später auf Twitter.
Vor den Schussübungen sitzt sie mit dem DFB-Präsidenten und der Nationaltrainerin auf dem Podium. Sie erzählt von ihrer Reise in den Nordirak, wo sie im März ebenfalls gekickt hat – mit Flüchtlingsmädchen auf einem Bolzplatz, der von Deutschland finanziert wurde. Das Projekt verkauft sie an diesem Abend als Standortmarketing für den deutschen Arbeitsmarkt: Wenn die irakischen Spielerinnen mal erwachsen seien und überlegten, als Fachkräfte in ein anderes Land zu gehen – dann dächten sie hoffentlich an Deutschland.
Ähnlich argumentiert Baerbock auch bei anderen Themen. Ob es um die Leitlinien zur feministischen Außenpolitik geht oder um Menschenrechte in China: Immer findet sie eine Begründung, warum ihre Forderungen gut für die deutsche Wirtschaft seien. „Sie bringt Prinzipien und Pragmatismus nahtlos zusammen“, schrieb US-Außenminister Antony Blinken im vergangenen Jahr im Time-Magazin über seine deutsche Kollegin.
Werte und Interessen passen nicht immer zusammen
Es gibt aber auch Fälle, in denen sich Werte und Interessen nicht so gut übereinanderlegen lassen. Da wird es mitunter auch für Baerbock schwierig.
Ein Samstag im Oktober 2022: Baerbock steht auf der Bühne des Konferenzzentrums im Bonner Bundesviertel, wo die Grünen zum Parteitag zusammengekommen sind. Wenige Tage zuvor ist bekannt geworden, dass die Bundesregierung der Lieferung von Kampfjet-Teilen für Saudi-Arabien zugestimmt hat – trotz saudischer Völkerrechtsbrüche im Jemen-Krieg. Wie erklärt man das jetzt den Delegierten?
Baerbocks Rechtfertigung: Eine Ablehnung hätte in Zukunft gemeinsame europäische Rüstungsprojekte erschwert. Die Bundeswehr müsste dann mehr Geld für ihre Waffen ausgeben und der Regierung blieben keine Mittel für die Kindergrundsicherung.
Es ist eine sehr spezielle Art, zu sagen, dass Geld und gute Beziehungen manchmal doch wichtiger sind als Menschenrechte. Kräftigen Applaus gibt es nach der Rede zwar. Die Partei mag ihre Außenministerin. Abseits der Bühne bekommt Baerbock später aber mehr als einmal die Rückmeldung: Das war nichts.
Zu der Zeit hat sie noch ein anderes Problem. In Iran sind kurz zuvor die Proteste gegen das dortige Regime angelaufen. Es dauert ein paar Tage, bis das Auswärtige Amt einen ersten Kommentar dazu absetzt. Zu spät und zu wenig, heißt es daraufhin von Aktivist*innen. Die feministische Außenministerin verschläft eine feministische Revolte: Man kann sich vorstellen, dass sie der Vorwurf getroffen hat.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Ihr Plan, um in die Offensive zu kommen, ist eine Sondersitzung des UN-Menschenrechtsrats. Das Gremium in Genf soll eine Kommission einsetzen, die die Repressionen gegen die Opposition untersucht. Baerbocks Berater*innen in Berlin raten ihr fast einstimmig davon ab, persönlich zu der Sitzung zu reisen. Der Apparat befürchtet, dass die Resolution die Mehrheit ohnehin verfehlt. Er will nicht, dass die Ministerin zu sehr damit verbunden wird. Sie zieht aber durch.
Ein Grüner, der früher mit der jungen Abgeordneten Baerbock im Wirtschaftsausschuss des Bundestags saß, erinnert sich an einen Charakterzug: „Wenn sie sich in einer Angelegenheit eine Meinung gebildet hat, dann war sie fundiert – und es brauchte schon sehr gute Argumente, um mit ihr darüber in die Diskussion gehen zu können.“
Wer weniger wohlwollend über Baerbock denkt, empfindet diese Eigenschaft vielleicht als selbstgerecht. Wer sie mag, als selbstbewusst. Ihre Kühnheit hat ihr in ihrer Karriere auf jeden Fall oft geholfen, hat ihr innerhalb weniger Jahre den Aufstieg zum Parteivorsitz, die Kanzlerkandidatur und das Amt der Außenministerin eingebracht. Und sie hilft auch jetzt wieder: Zusammen mit ihrer isländischen Amtskollegin kann sie 25 Staaten aus sechs Kontinenten von der Iran-Resolution überzeugen – eine Mehrheit im Menschenrechtsrat.
Kritik an Baerbocks Iran-Politik gibt es zwar immer noch. Der Vorwurf, sie mache zu wenig, hält sich. Seit der Abstimmung im November kann sie aber zumindest auf einen Erfolg verweisen.
Gleichzeitig wirkt das Zustandekommen der Resolution dem Eindruck entgegen, die Außenministerin kenne nur den Angriffsmodus und sei zur klassischen Diplomatie nicht in der Lage. In ihrem Umfeld im Auswärtigen Amt stellt man ohnehin infrage, dass Baerbock international außergewöhnlich krawallig auftritt. „Die letzten Pressekonferenzen von Heiko Maas mit Lawrow oder den Chinesen waren auch sehr konfrontativ. Damals wurde das aber als Ergebnis der gegensätzlichen Positionen gewertet, nicht als sein persönlicher Stil“, sagt einer ihrer Vertrauten.
Tatsächlich sind erstaunlicherweise noch nicht mal fundamentale Unterschiede zu erkennen, wenn man Baerbocks Antrittsbesuch in China mit dem des Bundeskanzlers vergleicht. Chinesische Markteingriffe, der Abbau wirtschaftlicher Abhängigkeiten, Pekings Einfluss auf Moskau, die Menschenrechtslage und der Streit um Taiwan: Beide sprechen all das an. Auch die Wortwahl unterscheidet sich nur graduell. Man kann ein schönes Quiz spielen, in dem man sich gegenseitig Sätze aus den jeweiligen Pressekonferenzen in Peking vorliest und dann raten lässt, wer was gesagt hat.
„Ich habe deutlich gemacht, dass eine Veränderung des Status quo von Taiwan nur friedlich und im gegenseitigen Einvernehmen erfolgen darf.“
„Eine einseitige und erst recht gewaltsame Änderung des Status quo wäre für uns als Europäer nicht akzeptabel.“
(Antwort: oben Scholz, unten Baerbock)
Überhaupt: Fundamental über Kreuz sind der Kanzler und die Außenministerin offenbar nicht mehr. Ihre Stile unterscheiden sich zwar voneinander, einige ihrer politischen Überzeugungen auch. Den Streit über das Tempo der Waffenhilfe für die Ukraine führten sie im letzten Jahr tatsächlich erbittert. Die Bundesregierung war außenpolitisch gespalten. Die Zeit schrieb, dass die beiden über Wochen nicht richtig miteinander gesprochen hätten.
Seit das Thema Waffen aber durch ist und Deutschland sogar Kampfpanzer liefert, hat sich das Verhältnis beruhigt. Erkennbar bemühen sie sich jetzt, Differenzen nicht öffentlich auszutragen.
„Unsere Rollen sind unterschiedlich und es ist ein Mehrwert, wenn man sich ergänzt. Im Zweifel kann man dadurch mehr erreichen“, sagt Baerbock dazu. Auf der Gegenseite muss man schon die Regierungsebene verlassen und sich durch die SPD-Bundestagsfraktion telefonieren, um Kritisches über die Außenministerin zu hören. Und selbst dort klingen die Vorhaltungen mittlerweile zahm.
„Ich finde, dass im Auswärtigen Amt neben der militärischen Unterstützung für die Ukraine auch diplomatische Bemühungen eine größere Rolle spielen sollten“, sagt der SPD-Außenpolitiker Michael Müller zwar immer noch. „Aber über die letzten Monate hat sich etwas verändert. Die Ministerin hat den erhobenen Zeigefinger nicht mehr ganz so schnell oben und agiert nicht in Konkurrenz zum Kanzleramt. Offensichtlich ist mittlerweile die Rollenverteilung in der Regierung akzeptiert.“
Image und Wirklichkeit
Ist am Image der Klartext-Ministerin denn gar nichts mehr dran? Handelt es sich nur um eine kollektiv verzerrte Wahrnehmung? Ganz so ist es auch wieder nicht.
Zurück in den Weltsaal des Außenministeriums, wo Baerbock ihren Botschafter*innen unter riesigen Kronleuchtern ihre Politik erklärt. Diplomatie im 21. Jahrhundert sei auch ein Kampf um Narrative, sagt sie. Und deswegen gehe es manchmal durchaus darum, hart dagegenzuhalten.
Als Beispiel nennt sie die Diskussion um Lebensmittel aus der Ukraine und Russland, die kurz nach Kriegsbeginn aufflammte. Dass die Nahrungsmittelpreise auf dem Weltmarkt stiegen, sei die Schuld des Westens, behauptete Moskau damals. Neue Sanktionen verhinderten den Export russischen Getreides. International breitete sich diese Erzählung rasch aus.
„Wenn wir das danach zurückholen wollen, dann braucht man im Zweifel auch eine harte Sprache“, sagt Baerbock in ihrer Rede. Je zugespitzter man formuliert, desto eher dringt man durch: Das russische Narrativ konterte sie, indem sie fortan von einem „Kornkrieg“ sprach, den Moskau durch die Blockade ukrainischer Häfen führe.
Und wenn die Gegenseite dann ihrerseits eine Schippe drauflegt? „Ein Shitstorm bedeutet nicht nur, dass manche es anders sehen“, sagt die Außenministerin vor ihren Botschafter*innen. „Sondern er bedeutet auch, dass man gehört worden ist. Darauf kommt es in diesen Tagen an.“
Es ist ein wenig wie im Flugzeug über dem Pazifik: Keine Angst vor Turbulenzen. Natürlich widerspricht das aber der klassischen Vorstellung von Diplomatie, die vorsichtig formuliert und die Form stets wahrt. Der Ansatz ist neu, und so ist es kein Wunder, dass er manche irritiert. Zumal wenn das Vertrauen fehlt, dass tatsächlich jede Zuspitzung wohlüberlegt ist.
Mitte Februar, 90 Meter unter der Erde: In Helsinki besichtigt die Außenministerin einen Zivilschutzbunker, in dem im Notfall 6.000 Menschen Platz finden würden – gut geschützt sogar vor einem Angriff mit Atomwaffen. Ehrenamtliche zeigen ihr, wie sie in dem Fall den Eingang luftdicht versiegeln würden.
Die Stimmung ist fröhlich. Baerbock ist gut darin, bei solchen Begegnungen eine angenehme Atmosphäre zu schaffen. Ihre Fragen wirken nicht bemüht, sondern zugewandt. Mit ihrer Art baut sie schnell eine Bindung: hier ein Scherz, da eine Anekdote, dort noch ein neuer Gedanke zum Thema – alles sehr schnell aufeinander. Manchmal aber auch zu schnell.
Nach einer halben Stunde, als der Termin vorbei ist, sollen die Helfer*innen die Bunkertür wieder öffnen. „Unfortunately there was no attack“, sagt Baerbock. Es gab ja leider keinen Angriff.
Zum Glück ist dieses Mal keine Kamera dabei. Anders als bei einigen anderen Anlässen, bei denen der Ministerin nicht nur ihr Hang zur Spontaneität in die Quere kam, sondern eben auch der zur Zuspitzung. Im Januar zum Beispiel, als sie in Straßburg im Europarat sagte: „We are fighting a war against Russia.“ Wir kämpfen einen Krieg gegen Russland.
Richtig einfangen konnte ihr Ministerium den Satz bis heute nicht. Erst Mitte Mai wurde Baerbock auf einer Pressekonferenz von einer chinesischen Journalistin schon wieder darauf angesprochen.
„Das ist eine ihrer Schwächen: Dinge zu überhöhen und zu übertreiben“, sagt ein Grüner. Schon zu ihren Zeiten als Parteichefin galten ihre zuweilen steilen Sprüche intern als Schwachstelle. Sie ärgere sich hinterher fürchterlich über ihre Fehler, hieß es damals stets aus ihrer Pressestelle. Aus ihrem neuen Umfeld im Ministerium klingt sie jetzt genauso: „Sie hat sich über solche Sätze sehr geärgert. Aber sie will sie auch nicht um den Preis vermeiden, dass sie nur noch Phrasen vom Sprechzettel liest.“
Vielleicht ist das auch ihr größtes Manko, falls sie noch mal nach der Kandidatur fürs Kanzleramt greift. Im Laufe des nächsten Jahres werden die Grünen voraussichtlich klären, wen sie 2025 ins Rennen schicken. Nach der verlorenen letzten Bundestagswahl schien klar, dass dann Robert Habeck an der Reihe ist. Baerbock hatte schließlich ihre Chance.
Das Argument zählt immer noch. Mittlerweile hat sie sich im Amt aber neu profiliert, während das Regieren den einstigen Medienstar Habeck entzaubert hat. Auch nach dem Rauswurf seines Staatssekretärs Patrick Graichen steht er im Gegenwind. Bis die Entscheidung über die Kandidatur nächstes Jahr ansteht, kann sich die Geschichte zwar noch mehrmals wenden, für eine Prognose ist es zu früh. Aber als chancenlos gilt Baerbock heute nicht mehr.
Zumal sie ihrem Konkurrenten eines noch immer voraus hat: Um die Partei bemüht sie sich stärker. Im vergangenen September, die mehrtägige Konferenz der Botschafter*innen im Ministerium läuft noch, klinkt sie sich für einen Abend aus. Die Bundestagsfraktion hat zu ihrem Jahresempfang geladen. Es ist ein lauer Spätsommerabend auf einem ehemaligen Bahnhofsgelände in Berlin-Pankow, hunderte Gäste sind da. Baerbock bleibt bis nach Mitternacht, nimmt sich Zeit für die eigenen Leute.
Robert Habeck sitzt an dem Abend in der Talkshow von Sandra Maischberger. Die Moderatorin fragt, ob wegen der hohen Energiepreise eine Pleitewelle drohe. Habeck spricht minutenlang über Bäckereien, die nicht in die Insolvenz gehen müssten, nur weil sie keine Brötchen mehr verkaufen. Beim Fernsehpublikum weckt das mehr Zweifel als Vertrauen.
Zumindest an diesem Abend hat nicht Baerbock das Porzellan zerschlagen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste