piwik no script img

Anhörung in München„Entrechtung und Gewalt“

Im bayerischen Landtag streiten Experten über die sogenannten Ankerzentren. Flüchtlingsunterstützer protestieren.

Im Ankerzentrum Bamberg Foto: dpa

MÜNCHEN taz | Der Streit um die bayerischen Ankerzentren, in denen alle neu ankommenden Flüchtlinge bis zum Entscheid über ihren Asylantrag ausharren müssen, hat auch die Landespolitik erreicht. Der größte Sitzungssaal im bayerischen Landtag ist am Mittwoch mit 150 Besuchern überfüllt, als Experten vor dem Verfassungsausschuss ihre Sicht darlegen – Flüchtlings-Unterstützer haben erfolgreich mobilisiert. Erstmals wird nun im Parlament nicht nur kontrovers, sondern auch tiefergehend über diese Aufnahmestellen geredet, die Gegner als „Lager“ bezeichnen.

Der Psychiater Daniel Drexler aus Rosenheim, der im Ankerzentrum Manching/Ingolstadt kostenlos behandelt, berichtet auf erschütternde Weise über den seelischen Zustand vieler der Kinder und Jugendlichen, die oftmals schon traumatisiert angekommen sind. Er erzählt von einem Geschwisterpaar, das sich um die Mutter kümmern muss, weil diese schon drei Suizidversuche verübt habe. Ein zehnjähriges Kind nässe stressbedingt und bei Polizeieinsätzen wieder ein. Eine 16-jährige Krebskranke erleide häufig Krampfanfälle, die beiden Geschwister müssten das mit ansehen. Die Verlegung in eine Klinik werde abgelehnt. Nicht einmal die Türen in den Ankerzentren können verschlossen werden.

Drexler: „Die Lebensbedingungen machen Kinder und Jugendliche krank.“ Passend dazu: Am Morgen hat die Organisation „Ärzte der Welt“ mitgeteilt, dass sie ihre Hilfe in den Zentren einstellt: „Die krankmachenden Bedingungen verhindern eine erfolgreiche Behandlung.“

Von „Entrechtung, Gewalt und Kasernierung“ spricht Katharina Grote vom Bayerischen Flüchtlingsrat. Die Entscheidungen des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (Bamf) seien häufig fehlerhaft, weshalb es zu Klagen komme. Die Kosten für die Anker-Zentren hingegen lägen um 23 Prozent höher als bei dezentraler Flüchtlingsunterkunft.

Zwei Welten

Bei den Experten hat man den Eindruck, als werde von zwei verschiedenen Welten berichtet. Der Konstanzer Jura-Professor Kay Hailbronner etwa sagt: „Die Verfahrenskonzentration nutzt den Interessen der Gesellschaft und der Flüchtlinge selbst.“ Vorschriften würden nicht verletzt. Ziel der Anker-Zentren ist die schnellere Abwicklung von Asylverfahren, indem die Flüchtlinge selbst sowie die relevanten Institutionen an einem Ort beisammen sind. Wie emotional die Stimmung ist, zeigt der große Beifall für flüchtlingsfreundliche Positionen, während Hailbronner ausgelacht wird. Die Ausschussvorsitzende Petra Guttenberger (CSU) geht dazwischen und droht dem Publikum mit Konsequenzen.

Ein großer Streitpunkt ist die gesetzlich festgelegte und die tatsächliche Verweildauer von Flüchtlingen in den Anlagen. Sechs Monate sollten nicht überschritten werden, vor allem nicht bei Kindern, doch Ausnahmefälle sind bis 24 Monate möglich. Tatsächlich sind auch Kinder offenbar häufig weit länger als ein halbes Jahr in den Zentren, Schulbesuch außerhalb gibt es nicht.

Bamf-Präsident Hans-Eckard Sommer lobt die Zentren, in denen viele Orientierungskurse für Flüchtlinge stattfänden. Dadurch würden Konflikte entschärft, die Mitarbeiter erhielten „sehr positive Rückmeldungen“ von den Flüchtlingen. Sommer spricht vom „bayerischen Vorbild“.

Links lesen, Rechts bekämpfen

Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

4 Kommentare

 / 
  • Das sind für mich Internierungslager, typisch deutsch eben.



    Unmenschlich, würdelos. Auch typisch deutsch m. E..



    Aus der Vergangenheit gelernt? Aber nicht doch. Wozu?



    Erschütternd m. E..

  • Die CSU folgt eben Straußens ekelhaftem Credo: "Es darf keine Partei weiter rechts, als die CSU geben."



    Man sollte sich auch vorsehen, dem Geschwafel eines Söders aufzuliegen. Er lügt und fischt gleichzeitig weiter bei den Rassisten und Faschisten im Land.

  • "Die Kosten für die Anker-Zentren hingegen lägen um 23 Prozent höher als bei dezentraler Flüchtlingsunterkunft." Seehofers Lieblingsprojekt "Ankerzentren" das er gern bundesweit eingeführt hätte aber glücklicherweise etliche Länderkollegen die absichtlich unmenschliche Behandlung von Geflüchteten die auch noch teurer als die dezentrale Unterbringung ist eine Absage erhalten. Unfassbar auch die Tatsache dass hier offenbar auch diagnostiziert psychisch oder physisch schwer Erkrankte entgegen der EU Richtlinie die im Umgang mit besonders Schutzbedürftigen vorschreibt diese von Anfang an in angemessenen Unterkünften unterzubringen und nicht in Massenunterkünften ohne Privatsphäre (die bereits Kerngesunde Menschen krank macht). Die Weigerung eine Krebspatientin in ein Krankenhaus zu verlegen ist hingegen Folter (Verweigerung medizinisch notwendiger Behandlung) das Folterverbot gilt immer und überall auch für Seehofer und bayrische Abschreckungsspezialisten. Da baut man wohl darauf dass Traumatisierte, psychisch oder Krebserkrankte zu schwach sind um dagegen zu klagen.

    • @Nina Janovich:

      " Da baut man wohl darauf dass Traumatisierte, psychisch oder Krebserkrankte zu schwach sind um dagegen zu klagen."



      Schlimmer noch: sie bauen auf Angst. Nachdem sie schon so viel willkürlicher Gewalt ausgesetzt waren, trauen sich die meisten Menschen nicht mehr etwas Anderes zu erhoffen - und schon gar nicht zu erstreiten, denn sie wollen ja alle anerkannt werden. Wie sollte man eine sachlich fachlich korrekt Beurteilung des Flüchtlingsstatus erwarten wenn man sich gegen Behörden Willkür zur Wehr setzt?