Angriffskrieg der Hamas gegen Israel: Sieg des Terrors, vorerst
Der brutale Angriff der Hamas ist eine Zäsur. Doch er wird Israel trotz der bitteren Verluste weder lähmen noch nachhaltig schwächen.
E s war ein Desaster für den Geheimdienst, die Politik, das Militär, die Gesellschaft, den Staat. An einem Samstag gegen 14 Uhr griffen ohne jede Vorwarnung mehr als 200 ägyptische Flugzeuge im Süden israelische Stellungen an, dazu feuerten 2.000 Geschütze. Im Norden drangen 700 syrische Panzer vor.
Vor exakt 50 Jahren, am 6. Oktober 1973, am höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur, nahmen Ägypten und Syrien Israel so in die Zange. Im Jom-Kippur-Krieg schien es zeitweise so, als könnte Israel von der Landkarte verschwinden. Auch wenn Israel am Ende wieder die Oberhand gewann: Der Krieg zerstörte den Nimbus von der Unbesiegbarkeit des jüdischen Staats und forderte Tausende Menschenleben. Was folgte, war ein nationales Trauma – wie hatte das nur passieren können? Israel knabbert bis heute an dieser Frage.
Genau 50 Jahre später greift die islamistische Hamas aus dem Gazastreifen im Morgengrauen des Schabbats am Ende des Laubhüttenfests an. Sie setzt sich in Städten, Dörfern und Kibbuzim fest, tötet Hunderte Zivilisten, nimmt andere als Geiseln und verschleppt sie in den Gazastreifen. Etwa 3.000 Raketen werden wahllos auf israelisches Territorium abgefeuert und treffen Autos, Wohngebäude, Straßen und ein Krankenhaus.
Das hat eine andere Qualität als die Scharmützel, an die sich die Welt gewöhnt hat. Der Angriffskrieg der Hamas gegen Israel ist eine Zäsur. Wie schon vor 50 Jahren wird Israel von diesem Krieg vollkommen überrascht. Die Geheimdienste haben offensichtlich komplett versagt – oder die Politik hat ihre Warnungen überhört.
Unterschiede zum Jom-Kippur-Krieg
Die Analogien zwischen Jom Kippur 1973 und Simchat Tora 2023 haben freilich Grenzen. Damals griffen reguläre Armeen benachbarter Staaten Israel an. Die Attacken begannen in Gebieten, die nicht zum israelischen Kernland zählten, sondern besetzte Gebiete waren. Heute ist es eine Terrortruppe, die Israel direkt angreift. Damals war es ein Krieg zwischen Soldaten. Heute sind der Hamas Zivilisten ein ebenso lohnendes Ziel ihres Terrors. Damals handelte es sich auch um einen Stellvertreterkrieg zwischen den USA und der Sowjetunion. Und damals ging es um die Zukunft des Landes Israel. So brutal die Hamas auch heute gegen israelische Bürger vorgeht – die Existenz des Staates wird sie nicht infrage stellen können.
Für eine Bewertung des Kriegs ist es noch zu früh. Aber egal, wie die israelische Reaktion ausfällt (und sie wird furchtbar ausfallen): Die Hamas hat einen glänzenden Sieg eingefahren. Sie hat gezeigt, dass sie den scheinbar übermächtigen Gegner für 24 Stunden in die Knie zwingen kann. In einer Weltregion, in der die Propaganda von Ehre, Religion und Nation eine der wichtigsten Währungen ist, ist so etwas Gold wert. Viele radikale Muslime werden sich im Kampf gegen Israel ermutigt sehen.
Mit der Hamas hat auch ihre Schutzmacht Iran gewonnen, deren Ziel es ist, eine Kooperation zwischen den arabischen Staaten und Israel zunichtezumachen. Insofern ist dieser Konflikt wieder ein Stellvertreterkrieg, diesmal ist Iran die im Hintergrund agierende Macht. Es ist offen, ob die vorsichtige Annäherung zwischen arabischen Staaten und Israel nun eine Fortsetzung finden wird. Das hängt auch davon ab, wie die militärische Reaktion Israels im Gazastreifen ausfällt. Wird sie in der arabischen Welt als zu brutal empfunden, käme jede mit Israel kooperierende Regierung in arge Legitimationsschwierigkeiten gegenüber der eigenen Bevölkerung. Dabei hat Israel zweifellos jedes Recht zur Selbstverteidigung.
Für islamistische Propaganda der Hamas ein Erfolg
In Israel wird der Überfall eine Debatte darüber auslösen, wie dies unbemerkt vorbereitet werden konnte und wie es den Terroristen gelingen konnte, die Hightech-Sperranlagen rund um den Gazastreifen zu überwinden. Dass dies unter der rechten Regierung von Benjamin Netanjahu geschehen konnte, wirft kein gutes Licht auf sie.
Vor 50 Jahren war das Versagen der Verantwortlichen vor Beginn des Jom-Kippur-Kriegs Auslöser für das Zerbröckeln der Macht. Damals galt Ministerpräsidentin Golda Meir von der Arbeitspartei als eine der Schuldigen an dem Desaster. Vier Jahre später verlor die Linke in Israel zum ersten Mal überhaupt die Parlamentswahlen. Der rechte Likud kam erstmals an die Regierung.
Im Jahr 2023 muss es nicht zum Machtwechsel kommen. Aber es ist möglich. Zunächst aber werden die Israelis durch den Krieg geeint werden, möglicherweise mit einer nationalen Einheitsregierung aus liberalen und rechtskonservativen Kräften an der Spitze. Wenn die Hamas geglaubt haben sollte, der Streit um die Justizreform könnte Israel lähmen, dann zumindest hat sie sich getäuscht.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Gewalt an Frauen
Ein Femizid ist ein Femizid und bleibt ein Femizid
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Twitter-Ersatz Bluesky
Toxic Positivity