Angehöriger der Hamas-Geiseln: „Uns läuft die Zeit davon“
Noch immer hat die Hamas rund 230 israelische Geiseln in der Gewalt. Die Angehörigen warten auf ein Lebenszeichen – wie der Historiker Yuval Dancyg.
Erst Stunden später wird klar: Zwölf Familienmitglieder haben wie durch ein Wunder überlebt, Alex Dancyg, Yuvals Vater, wurde von der Hamas nach Gaza verschleppt. Das letzte Lebenszeichen bekam die Familie vor mehr als drei Wochen. Seitdem wissen sie nicht, wo genau er sich befindet oder ob er überhaupt noch lebt. Der 75-Jährige ist herzkrank, braucht regelmäßig Medikamente.
Yuval Dancyg spricht an diesem Montag, rund vier Wochen nach der Terrorattacke, im Haus der Wannsee-Konferenz in Berlin. Er will auf das Schicksal seines Vaters und das der anderen rund 230 Geiseln aufmerksam machen. Alex Dancyg ist Historiker, arbeitete für die Gedenkstätte Yad Vashem, kümmerte sich um die polnischsprachige Bildungsarbeit. An diesem Abend sind viele gekommen, die Dancygs Arbeit gut kennen, seine Expertise schätzen, seine Publikationen mit in ihre Forschung einfließen lassen, mit ihm zusammenarbeiteten.
Yuval Dancyg ist nach Berlin gekommen, damit die Geschichte seines Vaters, das Schicksal der Geiseln nicht der Nachrichtenlage weicht und in Vergessenheit gerät. Er war bei Politiker:innen in Italien, in Polen, da sein Vater aus Polen stammt. Jetzt ist er in Deutschland. Er hofft auf ihre Unterstützung, dass sie zuhören. Und er fordert: „Verhandelt mit Katar. Verhandelt mit der arabischen Welt, damit die Geiseln freikommen.“ Er weiß, dass Diplomatie Zeit braucht, und wird nicht müde zu betonen, dass die Politik ihm die Türen öffnet und sich einsetzt. „Aber uns läuft die Zeit davon“, sagt er. Und Yuval Dancyg hat noch ein Anliegen an die deutsche Bevölkerung: „Die Menschen hier verstehen nicht, was uns widerfahren ist.“
Enttäuscht über das Schweigen der Zivilgesellschaft
Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau (Linke) versichert der Familie die Solidarität des Bundestags. Sie spricht von einem Pogrom, das Israel am 7. Oktober widerfahren ist, 85 Jahre nach der Reichspogromnacht. Die brandenburgische Wissenschaftsministerin Manja Schüle (SPD) beteuert, dass man keinerlei Antisemitismus, Terror und Gewalt in Deutschland toleriere – und spricht von einer „moralischen Verwirrung“, die derzeit offenbar in der Gesellschaft herrscht.
Und doch begleiten die Eindrücke des vergangenen Wochenendes an diesem Montag am Wannsee die Erzählung Dancygs vom Schicksal seines Vaters. Auf Demonstrationen bundesweit zeigten Anhänger:innen auf irritierende Weise, wie sehr sie Israel das Recht auf Selbstverteidigung absprechen und islamistische Strömungen befürworten. Die Enttäuschung über das Schweigen der Zivilgesellschaft ist bei allen Redner:innen zu spüren.
Yuval Dancyg zeigt ein Foto des Hauses, in dem seine Familie wohnte. Es ist ein Bild der Zerstörung, ein ausgebombtes und ausgebranntes Zimmer, die Terroristen haben den Kibbuz unbewohnbar hinterlassen. Nur durch einen Zufall schafften es seine Schwester und ihre Familie aus dem „safe room“ in ihrem Haus zu entkommen – und weder zu ersticken noch erschossen zu werden.
Wie bei vielen anderen Häusern, warfen die Terroristen Handgranaten in die Wohnungen, versuchten die Menschen auszuräuchern und dann zu töten, wenn sie fliehen wollten. Es geht nicht nur um die Verschleppung der Geiseln, um die Gewalt, es geht darum, dass ein Weiterleben im Zuhause seiner Familie und aller anderen Kibbuzbewohner:innen unmöglich gemacht wurde. „Das war nicht nur die Hamas. Es waren auch Zivilisten“, sagt Yuval Dancyg. Er spielt damit auf Berichte an, wonach Zivilisten die Terrorakte der Hamas untertützen, Häuser plünderten oder sich direkt beteiligten.
Seine Familie im Kibbuz hat überlebt. Sie ziehen nun von Hotel zu Hotel – und warten auf Unterstützung von der israelischen Regierung. Derzeit bleibt diese noch aus. Aber Yuval Dancyg setzt darauf, dass sie kommt. „Unsere Regierung ist jetzt im Krieg“, sagt er.
Ob überhaupt und wann seine Familie wieder zurück in den Kibbuz kann, ist ungewiss. Klar ist nur, es wird sehr lange dauern. Ein Jahr oder mehr, sagt Yuval Dancyg. Und wie sieht er die Zukunft Israels? Der 42-Jährige hat auf jede andere Frage aus dem Publikum zu seiner Familie eine irritierend gefasste, fast schon routinierte Antwort parat. So auch auf diese: „Israel wird bleiben.“
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