Anerkennung für Haasenburg-Opfer: Das Leiden hat kein Ende

Die Skandalheime der Haasenburg GmbH sind seit 2013 geschlossen. Doch die ehemaligen Be­woh­ne­r:in­nen ringen immer noch um eine Entschädigung.

Das geschlossene Eingangstor des "Haus Babenberg" der Haasenburg GmbH im November 2013 in Jessern

Was hier passierte, lebt in den Köpfen der Betroffenen fort: Haasenburg-Heim in Jessen im Jahr 2013 Foto: dpa / Patrick Pleul

HAMBURG taz | „Jonas lebt nicht mehr“, schrieben wir in der taz am 23. März. Er war zwei Wochen zuvor in einem Ruhewald bei Pinneberg beerdigt worden. Sein Name steht auf einem Schild an einer Buche neben fünf anderen, die 2021 starben. Mit seinen 24 Jahren war er der Jüngste.

Der junge Mann hatte sich das Leben genommen. Er hatte in den Monaten vor seinem Tod viel Übles erlebt, wurde Opfer einer Gewalttat. Doch im Grunde, sagt eine Mutter Eva L., war ihr Sohn seit Jahren psychisch kaputt. 2009 war er auf Druck des Jugendamtes als Zwölfjähriger in eines der autoritären Brandenburger Haasenburg-Heime gekommen.

Die Mutter war damals erschrocken, als sie ihr Kind nach sechs Wochen besuchten durfte. Sie bekam mit, wie er bei jeder Zimmertür die Betreuer unterwürfig fragen musste, ob er durchgehen darf. „Ich dachte, was für Stasi-Methoden!“, erinnert sich Eva L. „Wenn ich mit ihm telefonierte, weinte er oft. Er hatte Angst, auf die Fixierliege zu kommen“.

Jonas selbst hatte der taz 2013 ein Interview gegeben, und von Misshandlungen durch die Betreuer berichtet. Der Satz „als sie ihn körperlich begrenzten, tat ihm das weh“, steht sogar in einem Hilfeplanprotokoll des Jugendamtes Hamburg-Eimsbüttel aus dem März 2009. Eva L. hat auch noch einen Brief, in dem der Junge mit kindlicher Schrift schrieb: „Ich habe an den Schultern Blaue Flecken.“

Eva L. schaffte es 2010, ihr Kind aus dem Heim wieder rauszuholen. Und sie gehörte drei Jahre später zu einem Kreis von Müttern, die sich nach Berichten in der taz für die Schließung der Heime engagierten. Dazu kam es drei Jahre später. Die damalige Brandenburgische Jugendministerin Martina Münch (SPD) entschuldigte sich bei den Jugendlichen dafür, dass man ihnen vorher nicht geglaubt und sie nicht vor Übergriffen geschützt hatte.

Christina Witt,Ehemalige Haasenburg-Bewohnerin

„Dass uns damals keiner geschützt hat, macht uns traurig“

Doch die Entscheidung, junge Menschen dorthin zu schicken, hatten die Jugendämter getroffen. 52 Kinder und Jugendliche aus Hamburg hatte dieses Schicksal ereilt. Und der Hamburger Senat hat sich dafür bis heute nicht entschuldigt. Der damalige Sozialsenator Detlef Scheele (SPD) hatte im Sommer 2013, wenige Monate vor der Schließung der Heime, erklärt, Hamburger seien von den Missständen nicht betroffen, und das auch später nicht revidiert.

Für Eva L. und Regina S., eine weitere betroffene Mutter, war das schwer zu verstehen. „Mit wem haben Sie darüber gesprochen?“, fragten sie im Januar 2015 in einem Offenen Brief, „Mit uns und unseren Kindern nicht!“ Doch als die taz beim Senator nachhakte, ob er zu einem Gespräch mit den Frauen bereit sei, lehnte sein Sprecher das ab. Als Grund nannte er die damals noch laufenden Ermittlungen der Staatsanwaltschaft aufgrund von Anzeigen gegen Betreuer.

Die sind inzwischen längst abgeschlossen. Doch als die taz anlässlich von Jonas’ Tod nun im Büro von Scheeles Nachfolgerin Melanie Leonhard (SPD) nachfragte, ob sie heute bereit wäre, mit den beiden Müttern zu sprechen, erklärte ihr Sprecher, solche Anfragen müssten schon die Betroffenen selbst stellen.

Eva L. ist der Ansicht, dass die Ex-Haasenburg-Bewohner entschädigt werden müssen. „Fast alle, die ich kenne, haben heute große Probleme, stehen ohne Schulabschluss da und haben das Vertrauen in das Hilfesystem verloren“, sagt sie.

Am 17. Juni schrieb sie direkt eine Mail an Senatorin Leonhard und bat darum, dass sie mit ihr spricht. „Ich weine, während ich diese Zeilen schreibe. Es tut so unfassbar weh“, schrieb die gebürtige Dänin. „Warum bekamen die Kinder damals keine Hilfe? Kein Respekt oder Anerkennung? Es ist nicht zu spät. Die Stadt Hamburg hat so viele Kinder in die Haasenburg-Heime geschickt. Keins davon hat es geschafft, ein normales Leben zu führen. Wie wäre es endlich mit einer ernstgemeinten Entschuldigung? Und einer Entschädigung?“

Immerhin bekam sie eine Antwort vom Leiter des Amtes für Familie, der sein Beileid ausdrückte. Doch er erwähnte weder die Haasenburg noch lud er die Mutter zum Gespräch ein.

Abseits der Stadt berührte Jonas’ Tod viele. Die Brandenburgische Abgeordnete Isabelle Vandre (Die Linke) stellte eine Anfrage, in der sie Jonas’ Mutter zitiert und fragt, ob es für die ehemaligen Bewohner Entschädigung gibt. In der Antwort der Landesregierung heißt es, für Entschädigungen wegen schlechter Pädagogik gebe es „keine Rechtsgrundlage“. Diese könne nur individuell auf Basis des Opferentschädigungsgesetzes (OEG) erfolgen.

Eva L., Mutter des ehemaligen Haasenburg-Bewohners Jonas

„Ich weine, während ich diese Zeilen schreibe. Es tut so unfassbar weh. Warum bekamen die Kinder damals keine Hilfe?“

Doch ob dieses Gesetz auch Heimbewohnern aus jüngerer Zeit hilft, die wie Jonas zum Beispiel Schmerzen bei im Haasenburg-Jargon „Begrenzungen“ genannten körperlichen Übergriffen erlitten, ist offen. Das Jugendministerium für Bildung, Jugend und Sport erklärt, dazu lägen „keine Informationen vor“.

Die ehemalige Bewohnerin Christina W. regte die Antwort der Landesregierung so sehr auf, dass sie eine Online-Petition für Entschädigung der ehemaligen Kinder der Haasenburg-Heime startete. Denn unbestreitbar sei ihnen das Recht auf gewaltfreie Erziehung genommen worden. In wenigen Tagen unterschrieben über 30.000 Menschen.

Die frühere Ministerin Münch hatte zwar im Sommer 2014 zu einem kurzen „Aufarbeitungs-Workshop“ eingeladen, zu dem neben Christina auch Ex-Bewohner Renzo Martinez und zwei weitere kamen. Davon gibt es ein Foto. „Aber passiert ist seither nichts“, sagt Christina.

Deshalb hat sie Ende September auch eine Mail an die heutige Jugendministerin Britta Ernst (SPD) geschrieben. „Dass uns damals keiner geschützt hat, macht uns traurig. Die Aussage, dass es für eine Entschädigung keine rechtliche Grundlage gibt, ist für uns unfassbar“, heißt es darin. Dies passe mit dem gesetzlichen Verbot von körperlichen Strafen nicht zusammen. „Also bitte tun Sie endlich etwas.“

Erst kurz vor Weihnachten erhielt Christina Post. „Ich bedaure zutiefst, welches Leid, das bis heute nachwirkt, Ihnen zugefügt wurde“, schrieb die Leiterin der dortigen Brandenburger Heimaufsicht im Auftrag von Ministerin Ernst. Dann erinnert sie an den Workshop, der bis heute „nachhaltig“ auf die Selbstbestimmung junger Menschen in ganz Deutschland wirke. Denn die ehemaligen Bewohner der Haasenburg könnten für sich in Anspruch nehmen, jene Änderungen in Gang gesetzt zu haben, die im Juni 2021 mit dem neuen „Kinder- und Jugendstärkungsgesetz“ in Kraft traten.

Also etwas Ehre für die Opfer. Jugendeinrichtungen, schreibt die Leiterin der Heimaufsicht weiter, müssten heute so gestaltet werden, dass Kinder sie „nicht als totale Institution erleben“.

So müsse es heute jedem Heimkind möglich sein, auch extern Beschwerden zu äußern, die „nicht von der Einrichtung gefiltert oder gesteuert“ werden. Dadurch werde gesichert, dass „Kinder und Jugendliche nicht dafür büßen müssen, wenn sie von ihrem Beschwerderecht Gebrauch machen“.

Ferner habe der Fall Haasenburg gezeigt, dass gewisse Heime „engmaschiger beaufsichtigt werden“ müssten, etwa durch „unangemeldete örtliche Prüfungen“. Eben dies sei nun „ausdrücklich gesetzlich verankert“.

Dysfunktionales Gesetz

Allerdings ist das neue Gesetz hier sehr widersprüchlich. Früher durfte die Heimaufsicht bei Besuchen mit Heimkindern sprechen. Fortan muss sie dafür das Einverständnis der Sorgeberechtigten einholen. Da sie deren Adressen erst bei den Heimen erfragen muss, ist also ein Überraschungsbesuch kaum möglich. „Das Gesetz wurde durch den Einbau dieser Hürde verschlechtert“, sagt der Hamburger Jugendhilfeexperte Wolfgang Hammer, und spricht von einer „Fake-Regelung“.

Das sieht auch Renzo Martinez so, der Sprecher der „Interessengemeinschaft der ehemaligen Haasenburg-Kinder“, die sich inzwischen als Reaktion auf Jonas’ Tod gegründet hat. „Wir wollen aus der Unsichtbarkeit herauskommen“, sagt Martinez.

Auch die jüngsten Ehemaligen sind heute Erwachsene, die sich artikulieren und zum Beispiel am 4. März an der Fachtagung „Konflikte um Heimerziehung und Einschluss heute“ des Aktionsbündnisses gegen geschlossene Unterbringung in Hamburg teilnehmen wollen. Neben einer Entschädigung und Anerkennung des Leids fordert Martinez auch, dass alles getan wird, um eine Wiederholung dieses Heim-Skandals zu verhindern. „Diese Gesetzesänderung scheint mir im Punkt Heimaufsicht das Gegenteil davon“, kritisiert er.

Antrag nach Opferentschädigungsgesetz

Die Leiterin der Brandenburger Heimaufsicht legt in ihrem Brief Christina und ihren Mitstreitern ans Herz, doch einen Antrag auf Entschädigung nach Opferentschädigungsgesetz zu stellen: „Für Sie, die Sie die Haasenburg-Einrichtungen in einer Form erlebt und durchlitten haben, die heute nicht mehr möglich wäre, gibt es die Möglichkeit, Ansprüche auf Entschädigung für individuell erlittenes Leid prüfen zu lassen.“ Bei den Anträgen berate das Landesamt für Soziales und Versorgung, dort wären „auch die Betroffenen der Haasenburg sehr gut aufgehoben“.

Christina und Renzo wollen das jetzt versuchen, sind allerdings skeptisch. Falls das scheitert, erwägen sie eine Petition für Entschädigung an den Bundestag.

Auch Eva L. hat Anfang des Monats den Leiter der Hamburger Heimaufsicht noch mal um ein Gespräch gebeten. Aussprache, Entschuldigung und Entschädigung seien wichtig, sagt sie. Erst wenn das passiert sei, könnten die Betroffenen „endlich abschließen“. Bis jetzt kam keine Resonanz.

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