Betroffener über Gewalt im Jugendheim: „Man schuldet uns etwas“
Psychische Gewalt und Fixierungen: Ehemalige Haasenburg-Insassen erzählen in Hamburg ihre Geschichte und stellen Forderungen.
taz: Herr Martinez, die Interessengemeinschaft ehemaliger Haasenburgkinder ist Gast bei einer Tagung in Hamburg? Was ist Ihr Anliegen?
Renzo Martinez: Wir sind ein Zusammenschluss aus Kindern, die die Haasenburg überlebt haben. Wir sind erwachsen und stellen politische Forderungen. Denn es gibt bis heute keine Entschädigung für das Leiden, das wir erfuhren.
Was haben Sie erlebt?
Wir waren in diesen Heimen systematischem Reizentzug ausgesetzt. Dass hieß lange Isolierung in unseren Zimmern, ohne Kontakt zu anderen Jugendlichen oder zu unseren Eltern. Es gab dort massive Übergriffe durch Betreuer, teils tagelange Fixierungen. Und es gab extreme psychische Gewalt. Etwa, dass Widerspruch nicht erlaubt war.
Sie meinen Willenbrechen?
Genau. Da wurde der Akt des Widerspruchs schon zur Aggression erklärt, die es niederzuringen galt.
Wie viele sind Sie und was wissen Sie voneinander?
Wir haben uns im Oktober gegründet als Reaktion auf den Suizid von Jonas, der auch in der Haasenburg war. Ich habe seither mit etwa 70 Ehemaligen gesprochen. Viele berichten von Symptomen, die auf eine posttraumatische Belastungsstörung schließen lassen. Sie wachen morgens auf, schweißgebadet, und denken immer noch, sie wären in der Haasenburg. Obwohl sie zehn Jahre nicht mehr drin sind. So eine Störung lässt sich behandeln. Aber leider ist es vielen von uns unmöglich, eine Therapie wahrzunehmen. Denn die Haasenburg hat perfiderweise das Vertrauen in Therapeuten zerstört. Viele sind zudem arbeitsunfähig und verarmt.
33 Jahre alt, war von 2003 bis 2006 in der Haasenburg untergebracht. Er ist Gründer der Betroffenengemeinschaft der ehemaligen Haasenburg-Kinder.
Gibt es auch welche, die die Haasenburg gut fanden?
Ich habe mir eine Liste gemacht. Nur einer, den ich sprach, fand die Haasenburg für sich okay. Die große Mehrheit fand die Zustände dort untragbar. In der Haasenburg müssen mehrere Hundert gewesen sein. Es gibt auch Betroffene, die nicht reden, weil sie heute selber Eltern sind und Angst haben, dass ihnen das Jugendamt das Kind wegnimmt als Repressalie. Generell haben viele Angst vor Behörden.
Was passiert auf der Tagung?
Wir werden als Interessengemeinschaft unsere Geschichte erzählen, dann werden wir eine Deklaration abgeben, und zwar gemeinsam mit der Linkspartei. Wir stehen ja als Extrembeispiel für die geschlossenen Heime, die es immer noch gibt. Die lehnen wir insgesamt ab. Denn geschlossene Systeme sind immer anfällig für Machtmissbrauch.
Fachtagung „Wenn du nicht brav bist, kommst du ins Heim“: 4. März, 9–19 Uhr, Anna-Siemsen-Hörsaal, Uni Hamburg, Von-Melle-Park 8
Was fordern Sie für sich?
Entschädigung. Denn die Haasenburg wurde 2013 geschlossen, nachdem eine Kommission Missstände bestätigte. Mal ehrlich: Das, was wir in der Haasenburg erlebten, hat der Staat finanziert. Er steckt mehrere Hundert Kinder in ein Heim. Das wird geschlossen aufgrund gravierender Mängel. Die zuständige Ministerin entschuldigt sich bei den Betroffenen. Aber die versprochene Aufarbeitung und Hilfe bleibt aus. Diese Kinder sind heute Erwachsene, die nicht arbeitsfähig sind. Sie haben also kein Einkommen. Der Rechtsstaat muss einen Weg finden, mit uns Opfern umzugehen. Das ist er uns schuldig.
Was schlagen Sie vor?
Es ist schwierig für uns als ehemalige Heimkinder, jeweils einzeln Ansprüche nach dem Opferentschädigungsgesetz durchzusetzen. Deshalb fordern wir, das Gesetz zu ändern. Es muss Menschen helfen, die Opfer eines Heimsystems wurden. Derzeit kennt das Gesetz uns als Opfertypus nicht.
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