Analyse des gegenwärtigen Kapitalismus: Die Rückkehr der Gabe
Neue Gemeinschaftlichkeit oder neue soziale Spaltung? Die Soziologinnen Silke van Dyk und Tine Haubner analysieren einen „Community-Kapitalismus“.
Die Community ist gut. Wo sonst Entfremdung, Bürokratie und Kälte herrschen, ist es in der Community wohlig warm. Das legt zumindest meist der Alltagsgebrauch des Begriffs nahe, sogar dann, wenn die Community nur digital auftritt. Doch Gemeinschaft ist nicht gleich Gemeinschaft. Es gibt antimoderne, nostalgische Bezüge von rechts, nichttraditionale Bezüge von links und immer öfter auch Anrufungen „sorgender Gemeinschaften“ seitens der offiziellen Politik.
Die Gemeinschaftsidee ist en vogue. Und lässt man die Perversion zur Volksgemeinschaft einmal kurz beiseite, gibt es an der Gemeinschaftsidee angeblich wenig zu kritisieren.
Silke van Dyk und Tine Haubner: „Community-Kapitalismus“. Hamburger Edition, Hamburg 2021, 176 S., 15 Euro
Doch, sagen die Soziologinnen Silke van Dyk und Tine Haubner in ihrem klugen Buch „Community-Kapitalismus“ und wollen zeigen, wie die Gemeinschaft(sidee) in der ökonomischen, sozialen und ökologischen Krise des neoliberalen Kapitalismus zur zentralen Ressource und Steuerungstechnologie wird.
Heißt: Der Kapitalismus stellt gerade wieder einmal seine Wandlungsfähigkeit unter Beweis, und damit geht es um die „Erschließung neuer, nicht kommodifizierter Räume und neuer Trägergruppen nicht regulär entlohnter Arbeit“.
Krise des neoliberalen Kapitalismus
Ging es in der Analyse des neoliberalen Kapitalismus nicht gerade noch um das unternehmerische Selbst, das selbstoptimiert und eigenverantwortlich in Konkurrenz zu anderen steht? Ja, im Übergang von der wohlfahrtsstaatlichen Disziplinargesellschaft zur neoliberalen Kontrollgesellschaft ist eine Ökonomisierung des Sozialen beobachtbar. Doch die Rede von der Ökonomisierung des Sozialen greift den Autorinnen zu kurz.
Vielmehr erlebten wir „eine Neuausrichtung der sozialen Reproduktion, in der die Grenzen von Markt, Staat, Familie und Zivilgesellschaft mit ihren jeweiligen Steuerungslogiken neu vermessen werden“. Grund dafür sei die Hegemoniekrise des Neoliberalismus (spätestens seit der Finanzkrise) sowie die Krise der sozialen Reproduktion (familialer und demografischer Wandel, Wohlfahrtsstaatsabbau) und die Digitalisierung (neue Vergemeinschaftungen).
Der kooperative Aspekt neuerer Arbeitsformen und die Ausbeutung des so genannten „Gemeinsamen“ ist von einigen (post-)operaistischen Theoretiker:innen bereits mit dem Begriff immaterielle Arbeit analysiert worden.
Van Dyk und Haubner schließen daran an (wie auch an die Forschung zur Care-Arbeit) und möchten nun eine weitere Verschiebung herausstellen, nämlich die Adressierung „gemeinschaftsförmiger (Selbst-)Hilfepotenziale der Zivilgesellschaft“ – weshalb sie von „Community-Kapitalismus“ sprechen.
Lösung der sozialen Frage
Ist es also kein Zufall, dass das Lob des Engagements, des Gemeinsinns und der gegenseitigen Hilfe uns überall entgegenschallt? Man denke nur an die Pandemie und die Flutkatastrophe, die gegenseitige Hilfe jenseits entlohnter Arbeit notwendig werden ließen.
Wo viel gelobt wird, wird auch viel verschleiert, denn wo „Arbeit in Hilfe, Freizeit, Freiwilligkeit, Gemeinsinn oder Liebe umdefiniert wird“, wo also Ressourcen der Zivilgesellschaft aktiviert werden, um Lücken der staatlichen Versorgung zu schließen, so die Autorinnen, wurde die Lösung der sozialen Frage in die Hände der Zivilgesellschaft gelegt.
Van Dyk und Haubner geht es nicht um eine pauschale Verurteilung von Freiwilligenhilfe oder von Alternativökonomien (trotz unzureichender Kapitalismusanalyse), wie sie immer wieder betonen. Aber sie wollen zeigen, wie sich entlang von Posterwerbsarbeit eine Neuausrichtung des gegenwärtigen Kapitalismus vollzieht. Dafür haben sie empirisch Formen von Freiwilligenarbeit, nicht entlohnte Mehrarbeit und vor allem nicht regulär entlohnte Arbeit in der Pflege oder auf digitalen Plattformen untersucht.
Sie können klar belegen, wie beispielsweise der Abbau sozialer Sicherungen und Kosteneinsparungen auf kommunaler Ebene oder im Gesundheits- und Pflegebereich mit der Aufwertung des Gemeinwohldienstes, also freiwilliger Arbeit, einhergehen. – Mit entsprechenden ideologischen Implikationen, wie der Überzeugung etwa, dass Engagement nichts mit Ökonomie zu tun habe, gar das Gegenteil einer zunehmenden Ökonomisierung sei. Die Thematisierung der Deprofessionalisierung von Arbeit, von neuen Abhängigkeitsverhältnissen und Interessensgegensätzen fallen da hinten runter.
Vergiftete Früchte
Was als soziale Frage adressiert wurde, werde in eine Frage fürsorglicher Gemeinschaften umgedeutet und soziale Rechte in soziale Gaben überführt. Die Autorinnen problematisieren diesen Aspekt sehr schön mit dem Philosophen Roberto Esposito, der mit der Gabe verbundene Abhängigkeitsverhältnisse herausstellte und im Vertrag (und Recht) die zentrale Institution des „immunitären Projekts der Moderne“ ausmachte, welches die „vergifteten Früchte“ der Gabe aufhebe.
Van Dyk und Haubner lesen die Verlegung der sozialen Frage in die Zivilgesellschaft als „unausgesprochene Wiederkehr der Gabe in den sozialpolitischen Diskurs“.
Wollen sie also zurück zum Wohlfahrtsstaat – zu Normalarbeitsverhältnissen, Normalbiografien und Kleinfamilie und den damit verbundenen Reproduktionsverhältnissen? Freilich wollen sie das nicht. Der normierende Wohlfahrtstaat ist nicht, wie sie betonen, die inkludierende, sicherheitsstiftende Antwort auf die soziale Frage.
Aber – und das unterscheidet ihren von vielen anderen linken Ansätzen, wie zum Beispiel, wer sich erinnert, dem konvivialistischen Manifest von Chantal Mouffe, Eva Illouz etc., auf das sie Bezug nehmen – sie halten es für einen groben Fehlschluss, „die freiheitsverbürgende und autonomiestiftende Funktion sozialer Institutionen und sozialer Rechte“ geringzuschätzen.
Emanzipation verorten sie nicht einfach in Gegenbewegungen von unten, sondern heben die autonomiegebende Funktion sozialer Rechte und ihrer Institutionalisierung hervor, eben weil diese von moralischen Beziehungen abstrahierten. Es gelte diese zu universalisieren, statt sie auszuhöhlen.
Ein starkes Plädoyer
Augenfällig wird diese Notwendigkeit auch – wenn man hier anschließen wollte – in den prekarisierten Arbeitsverhältnissen der Plattformökonomien. Erst kürzlich verkündete der Chef des Lieferdienstes Gorillas, Entlassungen wären „im Interesse der Community“.
Aber das ist nur ein Aspekt der von Haubner und van Dyk beschriebenen Konstellation, die aus der Verbindung von Posterwerbsarbeit und Gemeinschaftspolitik hervorgeht. Ihr Buch ist eine wichtige Ergänzung zur Analyse des gegenwärtigen Kapitalismus und ein starkes Plädoyer für eine staatlich garantierte, aber strikt vergesellschaftete Infrastruktur.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ungerechtigkeit in Deutschland
Her mit dem schönen Leben!
Verkauf von E-Autos
Die Antriebswende braucht mehr Schwung
Warnstreiks bei VW
Der Vorstand ist schuld
Zuschuss zum Führerschein?
Wenn Freiheit vier Räder braucht
Neuer Generalsekretär
Stures Weiter-so bei der FDP
Die HTS in Syrien
Vom Islamismus zur führenden Rebellengruppe