piwik no script img

Amnesty-Aktivist zu Venezuela„Tiefer Hass unter der Bevölkerung“

Die Konfliktparteien zeigen eine hohe Gewaltbereitschaft und begehen Menschenrechtsverletzungen, klagt der venezolanische Amnesty-Chef Marcos Gómez.

Studentenprotest in Venezuela: Vor drei Jahren wurde der Demonstrant Bassil da Costa von Sicherheitskräften getötet Foto: ap
Jürgen Vogt
Interview von Jürgen Vogt

taz: Herr Gómez, wie ist die Situation der Menschenrechte in Venezuela?

Marcos Gómez: 2016 war sie schlecht und 2017 wird sie sich voraussichtlich weiter verschlechtern. Wir machen uns gerade große Sorgen um die Verteidiger der Menschenrechte, sei es von NGOs, Gewerkschaften oder Stadtteilgruppen. Diese werden von den offiziellen Medien namentlich als Verräter beschimpft. Schon häufen sich die Gewaltandrohungen von den regierungsfreundlichen, bewaffneten, paramilitärischen Gruppen. Hinzu kommt die allgemeine Konfliktbereitschaft. 2016 gab es pro Monat durchschnittlich 500 Proteste. Die Mehrzahl richtete sich gegen fehlende Nahrungsmittel und Medikamente, Wassermangel oder Stromabschaltungen. Das alles ist der Nährboden für eine zunehmende Gewaltbereitschaft.

Venezuela belegt auf der Rangliste der gewalttätigsten Länder bereits jetzt den zweiten Platz. Im Juli 2016 reagierte die Regierung mit der Schaffung der sogenannten OLP, der „Operation Befreiung und Schutz des Volkes“, die sich vor allem gegen kriminelle Banden richtet. Was hat sie bewirkt?

Die OLP betrachtet die ärmeren Siedlungen und Stadtviertel als feindliches Terrain. Dabei kommt eine Kombination aus Militär- und Polizeikräften sowie Spezialeinheiten mit Freund-Feind-Logik zu Einsatz. Kaum sind sie abgezogen, beschweren sich die Anwohner über Misshandlungen, die Zerstörung von Häusern und Wohnungen sowie den Diebstahl von Essen, Haushaltsgeräten und anderen Dingen. Der schlimme Höhepunkt war die Operation im Bezirk Barlovento im Bundesstaat Miranda. Dabei verschwanden zwölf Jugendliche, die später tot aufgefunden wurden. Das Ministerium hat inzwischen 18 Militärs dafür angeklagt. Die OLP hat bereits einen tiefen Hass unter der betroffenen Bevölkerung gesät.

Wie äußert sich dieser Hass?

Als Zunahme der Morde an öffentlichen Funktionsträgern, die als mutmaßlich Verantwortliche für die OLP genannt werden. Angehörige krimineller Banden gehen zu deren Wohnorten und richten sie hin. Dabei geht es zwar auch um den Diebstahl von Waffen, aber die Mehrzahl der Tötungen sind Racheakte. In den letzten fünf Jahren wurden bereits 1.500 Militär- und Polizeiangehörige getötet.

Bild: Jürgen Vogt
Im Interview: Marco Gómez

Der 52-jährige gebürtige ­Venezolaner ist seit zehn Jahren Direktor der Sektion von Amnesty International in dem südamerikanischen Land.

Oppositionsführer Leopoldo López ist der bekannteste politische Gefangene Venezuelas. Wie viele sitzen noch hinter Gittern?

Zunächst, Leopoldo López muss sofort und bedingungslos freigelassen werden. Das Foro Penal Venezolano schätzt die Zahl der politischen Gefangenen auf 100. Darunter ist der Fall von Rechtsanwalt Marcelo Crovato, der bei einer Hausdurchsuchung bei Studenten in seiner Nachbarschaft von denen gebeten wurde, sie zu vertreten. Doch Crovato wurde festgenommen und ohne richterliche Anhörung in ein gefürchtetes Gefängnis gesteckt. 2015 versuchte er, sich das Leben zu nehmen, und wurde unter Hausarrest gestellt. Crovato ist ein Beispiel dafür, wie haltlos die Anschuldigungen gegen die Gefangenen sind. Zudem setzt die Regierung beim Dialog mit der Opposition die Gefangenen immer wieder als Faustpfand ein. Ein klarer Beweis dafür, dass ihre Freilassung nicht von der Justiz abhängt, sondern vom Willen der Regierung.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

9 Kommentare

 / 
  • Leopoldo Lopez ist rechtskräftig verurteilt. Diesen Putsch-Unterstützer von 2002 zu unterstützen, taucht Amnesty in ein bedenkliches Licht.

    Venezuela ist zudem ein wichtiger Baustein einer Anti-Trump-Allianz. Deren Aufweichung sollte man nicht zulassen. https://amerika21.de/geo/venezuela

    • @Linksman:

      Nur, wer sollte es nicht zulassen? Wenn die Armen, wegen fehlender Einkünfte und Konsummöglichkeiten, letztlich doch in ihrer Mehrzahl die reichen Konsumenten im Klassenkampf unterstützen. Wenn nur noch 1/3 der Bevölkerung die Regierung unterstützt.

       

      Es wurde versäumt, so auch unter Hugo Chávez, als es noch ausreichend staatliche Öl-Einkünfte gab, die (eigenen) Produktivkräfte zu entwickeln.

       

      Ohne eigenständiges ökonomisches Fundament, gerade auch in der qualitativen und weltmarkt-tauglichen Rohstoffverarbeitung, kann es keine sozioökonomische Zukunft geben! Soziale Wohltaten sind schnell verteilt. Soziale Stabilität braucht aber vor allem auch eine ökonomische Basis, insbesondere durch Bildung, Ausbildung und mehrwert-schöpfende Berufstätigkeit - auf hohen Niveau!

  • "Wir sind sicher, dass die Vereinte Sozialistische Partei Venezuelas (PSUV) und die Linke Venezuelas das Vermächtnis von Hugo Chávez in Ehren halten und fortführen wird. Sie können dabei auf unsere solidarische Unterstützung zählen." https://www.die-linke.de/nc/die-linke/nachrichten/detail/artikel/wir-trauern-um-hugo-chavez/

  • Auch ehemalige DDR-Bürger können sich noch an das tiefe, gegenseitige Misstrauen zwischen den DDR-Oberen und dem Volk erinnern. Grund war in der DDR und den anderen sozialistischen/kommunistischen Staaten, so wie jetzt auch in Venezuela, die Entfremdung zwischen dem Volk und den regierenden Sozialisten/Kommunisten. Die versprochene herrliche Zukunft kam nicht, im Gegenteil: Sie rückte, für jeden spürbar, in immer weitere Ferne. Sodass das Volk mit mehr oder weniger Gewalt bei der Stange gehalten werden musste. Zum Glück kam es, zumindest in der DDR, nicht zu den im Interview beschriebenen offenen Gewaltexzessen.

    Mir braucht niemand mehr mit „Sozialismus in den Farben der DDR“ oder einem „Sozialismus des 21. Jh.“ oder einem „Sozialismus 2.0“ kommen.

     

    Um Missverständnissen vorzubeugen: Damit meine ich NICHT den „Demokratischen Sozialismus“, wie ihn sich Alexander Dubček und Willy Brandt vorstellten. Allerdings weiß ich auch nicht, wo in der Welt gegenwärtig diese Spielart des Sozialismus erfolgreich praktiziert wird.

    • @Pfanni:

      Denken Sie dabei auch an den "Radikalenerlass", unter politischer Federführung von Willy Brandt 1972, und in Folge an die Berufsverbote? Da hätte 'Ihr' Willy Brandt und die Beamtenadministration der deutschen Bourgeoisie gewiß auch vor Ihnen keinen Halt gemacht, - oder: Sie hätten sich doch 'freiwillig' den politischen Vorgaben unterworfen?

       

      Auch Alexander Dubcek hätte mit seinen sozialen Ansichten, unter Willy Brandt, CDU-SPD-FDP, wohl ein lebenslanges Berufsverbot für den Staatsdienst erhalten. (!)

      • @Reinhold Schramm:

        Genau das ist Alexander Dubcek nach der Wiederherstellung des realem Sozialismus auch passiert.

    • @Pfanni:

      "den „Demokratischen Sozialismus“, wie ihn sich Alexander Dubček und Willy Brandt vorstellten. Allerdings weiß ich auch nicht, wo in der Welt gegenwärtig diese Spielart des Sozialismus erfolgreich praktiziert wird."

      Könnte daran liegen, daß es sich sowieso um ein Oxymoron handelt.

      • @Werner W.:

        Möglich!

        Wer heutzutage auf der Suche nach einer Alternative zum Kapitalismus sucht, sollte wegen der erwiesenen Risiken und Nebenwirkungen auf eine weitere Variation zum Thema Sozialismus/Kommunismus besser verzichten!

  • Sozialismus auf Sand gebaut

     

    Toilettenpapier gehört zu den preisregulierten Grundprodukten und ist nur schwer zu bekommen. Fand der Unternehmer ein paar Pakete, nahmen seine Arbeiter die Rollen umgehend nach Hause mit. Schließlich tat der Unternehmer auf dem Schwarzmarkt einen Großlieferanten mit guten Kontakten zu staatlichen Importeuren auf, der ihm eine Palette zu einem überteuerten Preis verkaufte. Kaum war sie angeliefert, schneite ihm der Geheimdienst ins Haus, beschlagnahmte die Pakete und zeigte ihn als „Spekulanten und Mitverschwörer des US-gesteuerten Wirtschaftskriegs“ an.

     

    Es ist eine dieser Geschichten, die schmunzeln lassen, aber eigentlich tragisch sind und ein Beispiel dafür, wie ein reicher Erdölstaat durch verfehlte Wirtschaftspolitik und eine korrupte Elite in den Ruin getrieben werden kann. „Hugo Chávez' Sozialismus konnte Reichtum zwar verteilen, ihn aber nicht produzieren“, sagt sein Biograph, Alberto Barrera.

     

    Vgl. Showdown in Venezuela. Szenen eines Machtpokers. Von Sandra Weiss http://www.ipg-journal.de/kolumne/artikel/showdown-in-venezuela-1459/