Alte und neue Antisemiten: Vom Gestern nichts gelernt
Wie wichtig heute noch Prozesse gegen NS-Verbrecher sind, zeigt eine aktuelle Recherche. Die Zahl judenfeindlicher Übergriffe nimmt stetig massiv zu.
Z wei Nachrichten an einem Tag: In Brandenburg an der Havel wird ein ehemaliger KZ-Wachmann zu fünf Jahren Haft verurteilt. Der Mann ist inzwischen 101 Jahre alt, das Urteil ereilt ihn mit 77 Jahren Verspätung und wird wegen der Beihilfe zum Mord in mehr als 3.500 Fällen verhängt. Der Täter leugnet bis heute jede Schuld.
Am selben Tag meldet die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (Rias) 2.738 antisemitische Vorfälle in Deutschland. Die judenfeindlichen Beleidigungen, die Bedrohungen und Angriffe beziehen sich nicht auf das Jahr 1932, sondern auf 2021. Es sind fast 800 mehr als im Jahr davor – und, so viel ist sicher, es sind längst nicht alle.
Die Täter von heute haben aus der Geschichte nichts gelernt. Die Verbrechen des SS-Mannes mögen vor vielen Jahrzehnten begangen worden sein, doch die dahinter stehende mörderische Ideologie lebt in den Köpfen der Nachgeborenen fort.
Selbstverständlich wäre es zu einfach, ein NS-Konzentrationslager in direkte Beziehung zu den heutigen judenfeindlichen Schmähungen, Beleidigungen und Angriffen zu setzen. Der NS-Massenmord bleibt ein singuläres Verbrechen. Aber eines eint beide Tatkomplexe: die Vorstellung, Juden seien keine Menschen wie andere, sondern ganz besonders verabscheuungswürdige Gestalten, denen alles erdenklich Schlechte geschehen sollte. Dieser ungeheure Hass.
Die Antisemiten von heute nehmen sich nicht unbedingt Männer wie den frisch verurteilten KZ-Wachmann zum Vorbild. Aber sie teilen seine damaligen Vorstellungen und halten sie bis heute lebendig. Allein deshalb sind die letzten Verfahren, die fast 80 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs noch gegen mutmaßliche Nazi-Straftäter laufen, bitter nötig.
Auch wenn der Tatkomplex abgeschlossen erscheint, wenn von einem 101-Jährigen keine Wiederholungsgefahr mehr ausgeht und wenn die letzten Zeitzeugen, die letzten Überlebenden sterben, so macht es doch Sinn, die Verbrecher vor Gericht zu zitieren. Der Staat in Form seiner Justizorgane muss dafür sorgen, dass die willigen Helfer der Massenmorde nicht verschont bleiben. Er muss dafür sorgen, dieses Kapitel der deutschen Geschichte nicht in Vergessenheit geraten zu lassen.
Ob der KZ-Wachmann nun tatsächlich ins Gefängnis kommt oder nicht, ist letztendlich nebensächlich. Es geht hier nicht um Rache oder gar Wiedergutmachung. Es ist die Pflicht einer Auseinandersetzung. Wie wichtig sie ist, zeigen gerade die Antisemiten von heute. Das Verdikt gilt nicht nur dem Täter, sondern es ist ein Signal an seine Sinnesgenossen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
BSW in Koalitionen
Bald an der Macht – aber mit Risiko
Dieter Bohlen als CDU-Berater
Cheri, Cheri Friedrich
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
Selbstzerstörung der FDP
Die Luft wird jetzt auch für Lindner dünn