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Urteil gegen KZ-Wachmann in SachsenhausenFünf Jahre Haft

Der 101-jährige Angeklagte ist wegen Beihilfe zum Mord im KZ Sachsenhausen zu fünf Jahren Haft verurteilt worden. Er bleibt zunächst auf freiem Fuß.

Der Angeklagte wird zur Urteilsverkündung ins Landgericht Neuruppin gebracht Foto: Fabian Sommer/dpa

Brandenburg an der Havel taz | Fünf Jahre Haft wegen Beihilfe zum Mord: So lautet das Urteil gegen Josef Schütz. Das in Brandenburg an der Havel tagende Landgericht Neuruppin sieht es als erwiesen an, dass er als SS-Wachmann im KZ Sachsenhausen zwischen 1942 und 1945 wissentlich dazu beigetragen hat, dass mindestens 3.500 Menschen ermordet wurden. Das Urteil entspricht dem Strafantrag der Staatsanwaltschaft. Schütz' Verteidiger hatte dagegen auf Freispruch oder eine Bewährungsstrafe plädiert.

Der 101 Jahre alte Angeklagte nahm das Urteil scheinbar unbewegt zur Kenntnis. Er hatte seine Tätigkeit im KZ bis zuletzt geleugnet.

Doch die Indizienlage gegen Schütz, so führte Richter Udo Lechtermann in seiner Urteilsbegründung aus, sei erdrückend. Sein Einsatz sei in den Personalunterlagen der SS lückenlos dokumentiert, zudem existierten Briefe der Eltern, aus denen hervorging, dass der Sohn „bei der SS in Oranienburg“ beschäftigt gewesen sei. Und schließlich habe eine Gutachterin festgestellt, dass die Merkmale eines alten Fotos mit denen des Angeklagten mit hoher Sicherheit übereinstimmten.

„Sie, Herr Schütz, haben drei Jahre lang Terror und Massenmord gefördert“, sagte der Richter dem Angeklagten zugewandt. Jeder Wachmann habe den reibungslosen Ablauf der Tötungsmaschine gewährleistet. Als „zuverlässiger und gehorsamer Wachmann“ habe Schütz die Morde gefördert und dabei noch eine „bescheidene Karriere“ machen können – bis zum Rottenführer, dem höchsten Mannschaftsgrad in der SS.

Die Zahl von 3.500 Opfern zum in der Anklage beschriebenen Tatzeitraum nannte der Richter eine „vorsichtigste Mindestschätzung“. Und dann ging Lechtermann auf die mannigfaltigen und täglichen Möglichkeiten ein, in dem KZ zu Tode zu kommen: Tod durch Hunger, weil viel zu wenig Nahrung ausgegeben wurde, Phenol-Injektionen an Kranken durch SS-Ärzte, aber auch „Erhängen, Erschießen, Vergasen, Totprügeln. Immer standen die Menschen an der Schwelle zum Tod.“

Eine direkte Beteiligung an Morden habe man Schütz in dem Verfahren nicht nachweisen können, auch weil der Angeklagte geschwiegen habe. „Die Wahrheit, Herr Schütz, kennen Sie allein“, sagte Lechtermann.

Zu späte und zu wenige Verfahren

Schütz' „gebetsmühlenartige“ Behauptungen, als Landarbeiter tätig gewesen zu sein, verwarf Lechtermann: „Das hat Ihnen keiner abgenommen“, sagte der Richter. Es gebe auch keinerlei Indizien dafür, dass die SS-Unterlagen gefälscht worden seien. Diese seien vielmehr „akribisch geführt“.

In seiner bemerkenswerten Urteilsbegründung beließ es der Richter nicht bei einer Bewertung der Schuld des Angeklagten und einer Darstellung der grausamen Verhältnisse im KZ Sachsenhausen. Lechtermann tat zugleich Abbitte für das Versagen der deutschen Justiz in den Nachkriegsjahrzehnten. Den Beginn der Vorermittlungen der Zentralen Stelle zur Aufklärung von NS-Verbrechen, als der Angeklagte schon über 90 Jahre alt war, nannte er „allzu spät.“ Viele andere NS-Täter seien gar nicht oder nur mit lächerlichen Strafen belegt worden.

Die Verhandlung habe „eine Zeitreise in das wohl dunkelste Kapitel unserer Vergangenheit“ mit „noch nicht da gewesenen Einblicken in das Terror- und Vernichtungssystem der SS“ erbracht, sagte der Richter. Diese sei keineswegs „Teil einer abgeschlossenen Vergangenheit“, wie der Auftritt überlebender KZ-Opfer deutlich gemacht habe. „Die Frage nach der Notwendigkeit des Verfahrens erübrigt sich“, sagte Lechtermann.

Thomas Walther, der schon bei vielen NS-Strafprozessen als Nebenkläger aufgetreten ist, nannte die Urteilsbegründung einen „rechtspolitischen Mutmacher“. Er hofft, dass es bald zu einem weiteren ähnlichen Verfahren kommt, mochte aber keine Details nennen.

Das Urteil ist nicht rechtskräftig, der Verurteilte will nach Aussage seines Anwalts in Revision gehen. Weil bei dem 101-Jährigen keine Fluchtgefahr besteht, bleibt er einstweilen auf freiem Fuß. Dabei könnte es auch bleiben: Von den drei seit 2011 zu Haftstrafen ohne Bewährung verurteilten NS-Straftätern hat keiner seine Haft antreten müssen. Sie alle sind inzwischen verstorben.

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3 Kommentare

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  • Ob der angeklagte Wachmann tatsächlich ins Gefängnis muss, ist in diesem Fall möglicherweise zweitrangig. Viel wichtiger ist das Signal an die gegenwärtig aktiven Verbrecher weltweit (z. B. im Ukraine-Krieg), sie sollten sich nicht zu sicher sein. Es kann zwar im Einzelfall längere Zeit dauern, bis ihre Verbrechen sie wieder einholen. Aber sie werden sich dann nicht auf ihre Ideologie und ihre Befehlsgeber, die ihnen das „Recht“ gaben, herausreden können!



    Betreffs: „ . . . Abbitte für das Versagen der deutschen Justiz in den Nachkriegsjahrzehnten“



    Für gewöhnlich ist damit die westdeutsche Justiz gemeint. Die DDR-Führung dagegen lobte ihren Staat stets als „Hort des gelebten Antifaschismus“, in dem Nazis und deren Helfershelfer ihrer gerechten Strafe zugeführt worden seien. Der Fall des verurteilten Wachmannes (und sicher auch anderer Täter) weckt Zweifel.



    Aus der Tatsache, dass er in Neuruppin vor Gericht stand, entnehme ich, dass er dort oder in der Umgebung seinen Wohnsitz hat und wohl auch hatte, als Neuruppin noch eine Stadt in der DDR war. Es ist wohl auszuschließen, dass die DDR-Behörden nicht Bescheid wussten. Denn auch in der DDR musste vor Aufnahme einer beruflichen Tätigkeit ein lückenloser Lebenslauf vorgelegt werden, der mit Sicherheit auch von der StaSi überprüft wurde.



    Also schaffte es die DDR in den 40 Jahren ihres Bestehens nicht, ihn vor Gericht zu stellen. Oder war er der DDR auf andere Weise von Nutzen?!

  • Jetzt hat man den Bauernjungen Josef Schütz verurteilt. "Viele andere NS-Täter seien gar nicht oder nur mit lächerlichen Strafen belegt worden." Vor allen Dingen Richter und Staatsanwälte die unter NS Zeit dienten und Unrecht zu Recht mit ihrer juristischen Kunst zurecht bogen. Die erst das Eigentum der jüdischen Bevölkerung nahmen und später auch deren Leben -sehr oft mit wortreichen Urteilen. Ihre Nachkommen sind heute noch im Justizdienst tätig. Die Privilegierten hat es wieder einmal weniger erwischt.

  • Am Hunderteinjährigen ist also nun ein Rechtsstaatsexampel statuiert worden. Wenn ich mich so in dieser Politwelt umsehe, dann frage ich mich immer, wer die vielen, aktuellen und noch nicht lange vergessenen Menschheitsverbrecher verurteilt. Darf ich anfangen? Aber wo aufhören? Ach so...wir haben keine Möglichkeit des Zugriffs, aber stehen in permanentem Kontakt und Austausch mit diesen Verbrechern...sorry gewählten Verbrechern. Unser marodes, korruptes neoliberales, oligaristisches, finanzdominiertes, wirtschaftspolitisch, scheindemokratisch strukturiertes Brechreizsystem hat alles im Griff.



    "Demokratien brauchen nicht nur ein Bewußtsein der Freiheit, sondern ein Bewußtsein dessen, was sie nicht sind: ein Bewußtsein der Vorgeschichte und ihrer sinnlosen Opfer. Diese Vergeßlichkeit der Freiheit ist das heimliche Thema der "Dialektik der Aufklärung". ( Thomas Assheuer 6. Juni 1997 Quelle: DIE ZEIT, 24/1997



    Aus der ZEIT Nr.24/1997 )