Alte TV-Serien: Meine vertraute Insel
Menschen gucken die Serie „Rote Rosen“, um an ihre eigene Oma erinnert zu werden. Das Phänomen wird „Comfort Watching“ genannt. Was ist das?
Ich tippe die Buchstaben R, O und T in die Suchleiste der ARD-Mediathek. Mehr braucht es nicht. Schon wird mir angezeigt, wonach ich suche. Drei Menschen grinsen mich an, im Hintergrund eine rote Rose. Nur noch auf Play drücken. Dann erscheint die Melodie, die mir vertrauter ist als jeder Song auf Spotify: der Titelsong der Nachmittagssoap Rote Rosen.
Ein vertrautes Gefühl der Sicherheit kommt auf. Wissenschaftler*innen sprechen hier von Comfort Watching. Eine Kombination aus den Worten „comfort“ – also Trost oder Komfort – und „watching“ – das Schauen von Serien oder Filmen.
Dieses Gefühl ist der Grund, warum ich die Serie seit Jahren gerne schaue. Nicht regelmäßig, aber immer dann, wenn es mir nicht gut geht oder ich einfach mal entspannen möchte. Sie ist vertraut für mich, weil ich sie mehrere Jahre lang zusammen mit meiner Oma geschaut habe. Jeden Dienstag – denn da war Omatag. Meine Oma war nicht nur mein Vorbild und meine engste Vertraute, sondern auch die Person, die jederzeit für mich da war. Wenn es da nicht diese zwei Stunden von vierzehn bis sechzehn Uhr gegeben hätte, die für jegliche Anliegen ihrer Enkeltochter nicht vorgesehen waren.
Serien funktionieren immer
Denn zwischen 14 und 16 Uhr wurde „Rote Rosen“ und „Sturm der Liebe“ geschaut. Zwei Serien, die jeden Montag bis Freitag liefen. Immer – außer wenn Wintersport war. Oma mochte Wintersport. Dass er aber übertragen werden musste, während ihre Serien liefen, mochte sie überhaupt nicht.
Durch die Mediatheken muss ich mich heute weder an eine feste Uhrzeit halten noch nach der Wintersportsaison richten. Ich schaue, wann immer ich möchte. Und wann immer ich mich danach fühle. Denn darum geht es vermutlich am meisten: ich möchte mich gut fühlen. In Erinnerungen schwelgen. Meiner Oma nahe sein. Abschalten.
Ein weit verbreitetes Phänomen
Das Gute dabei: die Serien funktionieren immer. Ganz egal, wie lange ich sie nicht mehr geschaut habe – ich kann jederzeit wieder einsteigen. Mal ändert sich ein Beziehungsstatus, mal verlässt eine Person die Stadt. Doch immer wird in den ersten Minuten das Wichtigste klar. Wer ist gut, wer ist böse, wer hat ein Problem?
Genau diese Serien sind es, die sich Menschen immer wieder aufs Neue anschauen, erklärt der zu populären Medien forschende Amerikanist Daniel Stein von der Universität Siegen. „Sie laufen nach einem klaren Schema ab. Meistens ist es so, dass sich etwa aufkommende Konflikte relativ schnell wieder lösen“, sagt er. Dieses klare Schema gibt auch mir Sicherheit. Denn es ist ein Schema, das ich seit langer Zeit kenne. „Man setzt sich auf die Couch und will etwas schauen, aber sich dabei nicht anstrengen“, beschreibt Stein das Phänomen des Comfort Watching.
Ein Phänomen, das weit verbreitet ist. Besonders bei leicht zugänglichen Serien. Besonders, wenn sie sich vertraut anfühlen und trotzdem ab und an etwas Neues passiert – oder einem etwas Neues auffällt, so Stein.
Neu heißt: Neue Dramen. Neue Konflikte. Neue Gefühle. Neu heißt aber auch, aktuelle Themen aufzugreifen – da geht es plötzlich um Klimaschutz und queere Liebe. Aber eben nur in einem Rahmen von Konflikten, die sich schnell wieder lösen lassen. „Für die Zuschauer*innen lohnen sich diese leichten Serien. Denn das Investment ist relativ klein, und der Ertrag relativ groß“, erklärt der Experte.
Weiß und bürgerlich
Keine unerwarteten Handlungen, keine existenziellen Entscheidungen, die getroffen werden müssen. Denn Serien, die sehr komplex erzählt sind, kosten viel Kraft, viel Aufmerksamkeit und intellektuelle Arbeit. Aber auch emotional kann es härter sein, erklärt Stein.
Serien, die Kraft kosten? Genau das möchte ich nicht. Nicht, wenn ich nach einem langen Tag abschalten möchte. Wie mir geht es vielen. Der Amerikanist Stein sieht den Trend des Comfort Watching auch kritisch. Denn unter den Serien, die immer wieder geschaut werden, seien vor allem sehr heteronormative Serien. „Weiß und bürgerlich“, fasst Stein zusammen. Und erinnert etwa an Klassiker wie „Friends“ oder „How I met your mother“.
Diese Serien werden geschaut, damit man sich keine Gedanken über die Welt da draußen machen muss. Man möchte sich berieseln lassen. Aufnehmen, statt etwas zu geben. „Das ist eine geschlossene Verweigerungshaltung. Sich eben nicht mit Diskursen auseinandersetzen zu wollen“, so Stein.
Dieses Verhalten habe etwas Konservatives und Reaktionäres, erklärt er. „Vielleicht ist es zu wertend, aber hier wird bewusst eine Tür zugemacht, um sich von der Welt nicht irritieren zu lassen“, sagt der Experte. Ich bin also mit meiner eigenen Bequemlichkeit konfrontiert. Mit meinem Bedürfnis, mich der Welt zu entziehen.
Soziale Bindung zu Charakteren
Dennoch ist meine Serienwahl am Abend nicht etwas, was ich gleich jedem erzähle. Oft höre ich auch, dass man eine Serie als „guilty pleasure“ bezeichnet. Also die Serienwahl mit dem Gefühl der Schuld verbindet. Meistens, wenn die Serie veraltet ist, keinen großen Input gibt oder einfach keine Serie ist, die man wie „Game of Thrones“ unbedingt gesehen haben muss. Ich mag den Begriff nicht. Denn das Schauen einer vertrauten Serie macht mich nicht schuldig. Mehr sogar: Ich brauche diese Insel, auf die ich ab und an fliehen kann. Wann immer ich mag. Egal ob nach Stars Hollow zu den „Gilmore Girls“ oder zu „Grace and Frankie“ an die kalifornische Küste. Das Reiseziel ist immer nur ein paar Klicks entfernt.
„Psychologisch gesehen sinnvoll“, beschreibt Medienpsychologe Leonard Reinecke von der Johannes Gutenberg-Universität Mainz den Wunsch, sich ab und an der Realität zu entziehen. Er beschreibt es als Realitätsflucht für den Augenblick. Gleichzeitig entsteht eine soziale Bindung zu Charakteren einer Serie, erklärt Reinecke. Diese Art der Beziehung wird in der Medienpsychologie parasoziale Interaktion genannt. „Natürlich sind es keine echten sozialen Beziehungen. Dennoch haben wir gerade bei Serien, die wir schon länger schauen, das Gefühl, vertraut mit den Charakteren zu sein. Man fühlt zum Beispiel bei Schicksalsschlägen mit“, so der Psychologe.
Beziehungen dieser Art können sich laut Reinecke sogar ähnlich wie die zu echten Menschen anfühlen. Denn auch wenn man weiß, dass diese Beziehungen nicht real sind, geben sie den Zuschauer*innen ein gutes Gefühl. Sie sind immer da, wenn man den Fernseher anmacht. Haben keine Erwartungen, können nicht enttäuscht werden.
Ob ich eine Beziehung zu den Protagonist*innen von „Rote Rosen“ aufgebaut habe? Ich glaube nicht. Vielmehr schlagen sie eine Brücke zu einer Person, die ich verloren habe. Sie helfen mir, meiner Oma nahe zu sein. Keine Folge vergeht, ohne dass ich sie im Ohr habe. Was sie über die Szenen sagen würde, welche Person ihr zutiefst widerstreben würde.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Eine ganz normale Woche in Deutschland
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin