Alltag in der Westukraine: Der stillere Krieg im Westen
Im ukrainischen Uschhorod wurden nach Kriegsbeginn Symbole russischer Kultur aus dem Stadtbild entfernt. Statt ihrer wird nun Gefallener gedacht.
Die Hauptstadt von Transkarpatien, Uschhorod, liegt unmittelbar an der slowakischen Grenze und nahe der ungarischen, nach Rumänien und Polen ist es ebenfalls nicht weit. Auf den Straßen hört man Gespräche auch auf Russisch, denn viele Binnengeflüchtete aus frontnahen Gebieten sind nach der russischen Großinvasion hierher gezogen. Früher lebten in Uschhorod 115.000 Menschen, jetzt sollen es wie in der gesamten Region etwa ein Drittel mehr sein.
Neben einer großen ungarischen Minderheit leben in Transkarpatien auch Russ*innen, Rumän*innen, Slowak*innen, Romn*ja und Rusin*innen – eine slawische Ethnie aus den Karpaten. Früher gehörte Transkarpatien zum Königreich Ungarn, in der Zeit zwischen dem Ersten und Zweiten Weltkrieg war es Teil der Tschechoslowakei, dann fiel es an Ungarn und nach 1945 schließlich an die Sowjetunion. Seit 1991 gehört die Region zur unabhängigen Ukraine, die Russland gerade zu vernichten gedenkt.
Einst stand im Zentrum von Uschhorod wie in vielen Orten der Sowjetunion eine Büste des russischen Nationaldichters Alexander Puschkin. Jetzt ist nur noch ein leerer Sockel mit seinem Namen geblieben, das Standbild wurde anderthalb Monate nach Beginn der russischen Großinvasion abgerissen. Es ist verständlich, dass die Menschen sich hier mitten im Krieg nicht mehr als Teil der russischen Welt verstehen und keine Symbole ihrer in Teilen imperialen Kultur dulden möchten.
Vom Sockel geholt
Kurz vor dem Abriss versuchten sie sich dieser Symbolik noch durch ironische Umwidmung zu entledigen: Die Puschkin-Statue wurde mit dem Namen des amerikanisch-französischen Musikers Joe Dassin versehen, dessen Familie aus Odessa stammt und der äußerlich eine erstaunlich große Ähnlichkeit mit dem Dichter aufweist.
Puschkins Landsmann Lenin wurde bereits im ersten Jahr der Unabhängigkeit der Ukraine von seinem Sockel geholt. Der Bronze-Lenin lagerte dann bis 2010 in einer schäbigen Garage, bis es hieß, er solle eingeschmolzen und als der griechisch-katholische Priester Andreas Bacsinsky wiederauferstehen. Dazu kam es aber bislang nicht.
Ungleich ernster wird es, wendet man sich der symbolischen Ebene ab und den Toten der Stadt zu. Im Zentrum von Uschhorod sind zahlreiche Metallkonstruktionen mit ukrainischen Flaggen aufgestellt, auf jeder der über den Metallstäben gespannten Planen wird der toten Soldaten aus Uschhorod gedacht, die fielen, als sie ihr Land verteidigten. Einer von ihnen ist der DJ und Musiker Maksym Naumenko, bekannt in der Uschhoroder Szene. Er kommt ursprünglich aus Donezk und flüchtete 2014 mit seiner Familie vor der russischen Aggression im Donbas hierher.
Angst vor der Einberufung
Zu Beginn der Großinvasion meldete er sich freiwillig zum Dienst an der Waffe und starb im Einsatz, ausgerechnet in seiner Heimatregion Donezk. Ein Rekrutierungszelt der Nationalgarde wirbt mit „Ehre, Tapferkeit, Gesetz“. Viele Männer sind schon bei der Armee. Die, die es noch nicht sind, überlegen sich, wie sie sich zum Militärdienst melden, ohne ihr Leben allzu sehr zu gefährden.
Die Angst vor dem Einberufungsamt, dem TZK, ist allgegenwärtig. In einer Bar werden junge Männer vom Personal gewarnt und gefragt, ob sie eine Bescheinigung bei sich tragen, die sie vom Dienst freistellt, denn das TZK komme öfter vorbei. Man hört, dass einige kaum ihre Wohnungen verlassen aus Angst, eingezogen zu werden.
Es herrscht Krieg in unterschwelliger Form. Er mag physisch und psychisch weniger belastend sein als in den anderen Regionen, aber er ist deutlich spürbar. Und es ist unsäglich, dass in Deutschland Politiker*innen nicht nur der extremen Rechten oder autoritären Linken, sondern auch aus der politischen Mitte regelmäßig mit populistischer Rhetorik gegen Kriegsopfer aus diesem Landesteil auf Stimmenfang gehen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Vorsicht mit psychopathologischen Deutungen
Polizeigewalt gegen Geflüchtete
An der Hamburger Hafenkante sitzt die Dienstwaffe locker
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Rekordhoch beim Kirchenasyl – ein FAQ
Der Staat, die Kirchen und das Asyl
Kochen für die Familie
Gegessen wird, was auf den Tisch kommt
Preise fürs Parken in der Schweiz
Fettes Auto, fette Gebühr