Aktuelle Lage in der Ukraine: Kampf ums Schwarze Meer
Die Ukraine greift immer mehr Ziele auf der Krim an. Experten spekulieren, ob sie eine Rückeroberung der von Russland annektierten Halbinsel plant.
taz | Es war ein ungewolltes Kompliment an die ukrainischen Streitkräfte: Die zivile Infrastruktur sei nicht beschädigt worden, behauptete der russische Gouverneur Michail Raswoschajew. Eine ukrainische Rakete hatte am Freitag das Hauptquartier der russischen Schwarzmeerflotte in Sewastopol auf der russisch besetzten Krim getroffen.
Nicht immer kommt eine Bestätigung aus Kyjiw, wenn auf der Krim russische Einrichtungen angegriffen werden. Doch dieses Mal bestätigte Kyjiw die Attacke sowie einen Cyberangriff, der am gleichen Tag die Krim lahmlegte. Seit Tagen spekulieren Experten, ob die jüngste Offensive der Ukraine auf die Krim die Vorbereitung für die Rückeroberung des seit 2014 von Russland annektierten Territoriums ist.
Inzwischen berichten die Krim-Behörden fast täglich über die „Zerstörung von (ukrainischen) Drohnen über der Halbinsel“. Erst am Donnerstag hatte die Ukraine einen Drohnen- und Raketenangriff auf einen Militärflugplatz in Saki durchgeführt. Dort hatte Russland Kampfflugzeuge und eine Ausbildungsbasis für iranische Mojaher-Drohnen stationiert. Die zivilen russischen Behörden schweigen zwar über die Schäden, doch sie gaben an, dass das Militär 19 ukrainische Drohnen abgeschossen habe.
Der Angriff vom Freitag war der bislang komplexeste, berichten ukrainische Medien. Demnach wurde am Mittwoch erst das Ausweichhauptquartier der Schwarzmeerflotte außerhalb von Sewastopol angegriffen und zerstört. Am Freitag wurden dann Drohnen und Neptun-Raketen in Richtung Krim losgeschickt. Das russische Militär konzentrierte sich auf die Raketen und schoss sie ab, ließ aber die Drohnen ihre Ziele erreichen. Dann erfolgte der zweite Raketenangriff, begleitet von weiteren Drohnen. Eine britische „Storm Shadow“-Rakete traf ihr Ziel direkt: das Hauptquartier der Flotte, in dem sich ranghohe Marineoffiziere aufhielten.
Aufnahmen vom Einschlag und von den Bränden wurden auf sozialen Netzwerken geteilt, die genaue Opferzahl ist unklar. Man habe das Hauptquartier während eines Treffens der russischen Marineführung getroffen, erklärten die ukrainischen Behörden. Der russische General Alexander Romantschuk befinde sich in einem „sehr ernsten Zustand“. In der Regel lassen sich die ukrainischen Angriffe auf militärische Einrichtungen auf der Krim in drei Kategorien aufteilen: Angriffe auf logistische Infrastruktur, Munitionsdepots und Luftabwehrsysteme, mit dem Ziel, die Kontrolle über das Schwarze Meer wiederzuerlangen.
Die Bewohner der Krim reagieren kaum noch auf Nachrichten über Drohnenangriffe. Konstantin ist vor einem Jahr aus der Krim geflohen. Seitdem telefoniert er regelmäßig mit seinem Vater, der sein Heimatdorf nicht verlassen will und weiterhin im Norden der Halbinsel lebt. „Mitte Juli, ein paar Tage nach der Explosion der Krim-Brücke, flog eine Drohne in ein Munitionslager im Krasnogvardeysky-Gebiet“, erinnert sich Konstantin. Er rief seinen Vater an. „Wie geht’s dir?“, fragte er. „Ja, das ist Unsinn“, antwortete der Rentner, und fügte hinzu: „Aber wir hören nichts.“ Ein paar Tage nach diesem Telefonat explodierte und brannte ein weiteres Lager – nur 20 Kilometer vom Elternhaus entfernt. Konstantin rief erneut seinen Vater an: „Wie geht’s dir?“ Er antwortete: „Jetzt hört man es krachen.“
Seit Sommeranfang versucht das ukrainische Militär, die Versorgung der russischen Besatzungstruppen mit Munition und Ausrüstung im Süden der Ukraine über die Krim zu unterbinden. Zu diesem Zweck wurde die Kertsch-Brücke, die die Krim mit Russland verbindet, angegriffen und beschädigt. Auch das große Landungsschiff „Olenegorski Gornjak“ im russischen Hafen Noworossijsk wurde angegriffen. Das Schiff „Minsk“ wurde direkt am Dock des Schiffsreparaturwerks in Sewastopol auf der Krim getroffen. Weitere Brücken wurden beschossen, die die Krim mit der südukrainischen Region Cherson verbinden. Den ganzen Sommer haben ukrainische Drohnen russische Militärdepots auf der Krim überflogen.
Angesichts der wachsenden Angriffe wünscht sich Konstantin, dass sein Vater zu ihm zieht. Dieser weigert sich aber, die Krim zu verlassen. „Ich denke, diejenigen, die jeden Tag Nachrichten über Drohnen hören, nehmen die Bedrohung nicht angemessen wahr und glauben nicht, dass ihr Leben in Gefahr ist“, sagt er. Inzwischen ist bekannt, dass vier Munitionslager der russischen Armee zwischen Juli und September gesprengt wurden. Damit fehlte Nachschub für die russischen Verteidigungsstellungen im Gebiet Saporischschja in der Südukraine. Dort führt die Ukraine seit Juni eine Gegenoffensive durch.
Um die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, dass Drohnen und Raketen ihre Ziele erreichen, erlangte die Ukraine Anfang September auch die Kontrolle über mehrere Gasförderplattformen im Schwarzen Meer südlich von Odessa zurück. Dort wurden russische Radarsysteme zerlegt. Ebenfalls Anfang September traf die Ukraine mehrere russische Luftabwehrstellungen im Nordwesten der Krim – auch eine des hochmodernen S-400-Systems. Dies ermöglichte die ukrainische Zerstörung des russischen U-Boots „Rostow am Don“ im Trockendock des Schiffsreparaturwerks in Sewastopol. Zuvor hatte dieses U-Boot Raketen auf ukrainisches Gebiet abgefeuert.
Parallel haben ukrainische Marinedrohnen Schiffe der Schwarzmeerflotte auf See angegriffen. Am 14. September wurde das russische Raketenschiff „Samum“ in der Nähe der Einfahrt zur Bucht von Sewastopol getroffen. All dies soll auch verhindern, dass Russland seine Drohung wahr macht, Frachtschiffe mit ukrainischen Getreideexporten im westlichen Schwarzen Meer anzugreifen.
Am Samstag wurden erneute ukrainische Angriffe in Sewastopol gemeldet. Die Bewohner kommentieren dies in den sozialen Medien meistens mit dem Satz: „Jetzt war es laut!“ Es ist eine Anspielung darauf, dass es wieder einen Angriff gab. Doch zwischen den Zeilen weiß jeder, was passiert ist und warum. Auf die Frage, wie die Lage in Sewastopol gerade ist, reagiert Anwohner Andrei gelassen: „Es geht uns gut, wir müssen uns keine Sorgen machen.“ Über die Anwohner der Krim müsse man nicht schreiben, sagt er. Dabei ist klar, dass sie von den russischen Behörden eingeschüchtert werden. Gleichzeitig schwebt über ihnen die Angst, dass, falls das ukrainische Militär die Halbinsel zurückerobert, sie als Kollaborateure gelten und bestraft werden könnten.
Am vergangenen Dienstag, wenige Tage vor dem ukrainischen Raketenangriff auf das Hauptquartier der Schwarzmeerflotte, meldete der britische Geheimdienst, dass Russland nicht mehr genug Männer habe, um die besetzten Gebiete in der Südukraine zu verteidigen und gleichzeitig Angriffe im Donbass voranzutreiben. Am gleichen Tag, als würde Moskau die britischen Angaben bestätigen, startete das russische Verteidigungsministerium eine Rekrutierungskampagne auf der Krim: In einer frischen Werbung sind zwei Soldaten im Schützengraben zu sehen. Sie reden weder von „Entmilitarisierung“ noch von „Entnazifizierung“. Der Slogan der Werbung lautet: „Wähle eine Traumstadt“. Die Streitkräfte sollen einfach Städte in der Ukraine erobern, die ihnen gefallen.
Der Autor stammt aus der Krim und schreibt unter Pseudonym. Er lebt im Exil.
Aus dem Russischen: Gemma Terés Arilla, Mitarbeit: Dominic Johnson
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Eine ganz normale Woche in Deutschland