Aktivistin über hyperandrogene Sportlerinnen: „Jeder Mensch hat Vorteile“
Die Aktivistin Payoshni Mitra setzt sich für Athletinnen mit höherem Testosteronspiegel ein. Sie fordert das Ende medizinischer Zwangseingriffe.
taz: Payoshni Mitra, Leichtathletinnen, die einen höheren Testosteronspiegel als der Durchschnitt der Frauen haben, dürfen auf Strecken von 400 bis 1500 Meter nur dann antreten, wenn sie ihren Testosteronwert medikamentös senken. Diese Regelung des Leichathletik-Weltverbandes „sind stigmatisierend, stereotypisierend und diskriminierend und haben keinen Platz im Sport oder in der Gesellschaft“, so der Menschenrechtsrat bei den Vereinten Nationen in einem aktuellen Bericht. Wie wichtig ist diese Botschaft für den Sport?
Payoshni Mitra: Äußerst wichtig! Wir kämpfen seit Jahren gegen diese diskriminierenden Regelungen im Sport, und endlich bringt der Menschenrechtsrat seine Unterstützung zum Ausdruck. Es ist eine Aufforderung an alle Staaten, Regelungen zu verbieten, die hyperandrogene Athletinnen unter Druck setzen, sich unnötigen medizinischen Eingriffen als Voraussetzung für die Teilnahme am Wettkampfsport zu unterziehen. Darüber hinaus rät der Bericht den Sportgremien, „ihre Zulassungsbestimmungen für die Einstufung/Beurteilung (female eligibility regulations) von Frauen zu überprüfen, zu revidieren und zu widerrufen“. Als Aktivistin auf diesem Gebiet bin ich optimistisch, dass diese Empfehlungen zu Veränderungen führen werden. Die französische Regierung hat bereits die Überprüfung medizinischer Untersuchungen in einem Krankenhaus in Nizza eingeleitet. Ich hoffe, dass auch andere Regierungen eine solche Verletzung der Rechte von Sportlerinnen aktiv untersuchen werden.
Glauben Sie, dass es ein Umdenken geben wird? Wird dieser Bericht vielleicht dazu beitragen, dass die südafrikanische Läuferin Caster Semenya demnächst doch wieder über 800 Meter antreten kann?
Caster Semenya trainiert zurzeit für die 200 Meter-Strecke. Wir warten jedoch auch auf eine Entscheidung des Schweizer Bundesgerichts, wo Semenya die Entscheidung des Sportgerichtshofs (CAS) angefochten hat, der diese diskriminierenden Bestimmungen von World Athletics aufrechterhält. Andererseits hoffe ich auch, dass das Internationale Olympische Komitee progressive Schritte in Richtung Inklusion und Nicht-Diskriminierung unternehmen wird. Letztendlich ist es nicht nur wichtig, diese Regelungen abzuschaffen, sondern auch die Denkweise der Menschen in Führungspositionen im Sport zu ändern. Der Sport muss integrativer werden und die Gesellschaften inspirieren. Was wir heute sehen, ist das Gegenteil. Solche Regelungen schaden und verstärken Stereotype über das Frausein.
Der ugandischen Mittelstreckenläuferin Annet Negesa wurde aufgrund dieser Regelungen sogar ein großer körperlicher Schaden zugefügt (siehe Kasten). Leugnen die Beteiligten des Leichtathletik-Weltverbands immer noch ihre Verantwortung?
Sie leugnen ihre Beteiligung nicht. Dr. Bermon (damals Mitglied der Medizinischen Kommission der IAAF, heute ihr Leiter, Anm. d. Red.) hat seine Beteiligung an keinem dieser Fälle geleugnet. Es gibt eine Studie, die von den Mitgliedern der medizinischen Kommission der IAAF ab 2013 verfasst wurde. Darin sprechen sie über vier hyperandrogene Athletinnen aus Entwicklungsländern, an denen sie Operationen einschließlich Gonadektomie und Hysterektomie (Entfernung der Hoden und der Gebärmutter Anm. d. Red.) durchgeführt haben. Es gibt also keine Möglichkeit, dass sie ihre Verantwortung leugnen können.
Annet Negesa sagte, sie wolle die verantwortlichen Personen vor Gericht bringen.
Das ist eine Option, aber ich bin jetzt nicht in der Lage, darüber zu sprechen. Wichtig ist, dass Annet sicher ist. Es war für sie gefährlich, in Uganda zu bleiben, da sie kurz vor den Olympischen Spielen als Intersex-Person identifiziert wurde. Die Menschen der LGBTIQ-Community in Uganda fühlen sich aufgrund extrem homophober politischer Entscheidungen zunehmend bedroht. Deshalb hat Annet in Deutschland Asyl erhalten, sie kann sich überlegen, was sie als nächstes tun möchte.
ist Soziologin und Aktivistin für AthletInnenrechte. Sie lebt in London.
Was erfahren wir über das Verhalten des Leichathletik-Weltverbandes im Fall von Annet Negesa?
Annets Fall zeigt, wie wenig sich der Weltverband um seine Athletinnen, ihr Wohlergehen und ihre Gesundheit kümmert, insbesondere, wenn sie aus dem globalen Süden kommen. Annet war sieben Jahre lang aus dem Wettkampfbetrieb verschwunden. Sie war sieben Jahre lang allein. Erst vor einigen Monaten konnte ich Kontakt zu ihr aufnehmen. Danach begann sie, über ihre Geschichte zu sprechen, und das konnte sie sieben Jahre lang nicht, weil sie nie wusste, dass es Menschen gibt, die zu ihr stehen und ihr zuhören würden.
Gibt es noch mehr Athletinnen, die verschwunden sind?
Es gibt weitere Athletinnen, die verschwunden sind, und wir wissen nicht, in welchem Zustand sie heute leben. Die Hyperandrogenismus-Regeln betreffen mehr Athletinnen aus dem globalen Süden, wo sie hilfloser sind, wo es ihnen an Unterstützung mangelt, wo sie sich ihrer Rechte weniger bewusst sind als die besserberechtigten (more entitled) Athlet*innen des Westens. Ich möchte auch deutlich machen, dass das nicht nur in der Leichtathletik ein Thema ist. Ich habe begonnen, mit einigen Fußballerinnen zu arbeiten. Auch die FIFA-Gender-Regeln sind diskriminierend und müssen ebenfalls aufgehoben werden.
Es ist nicht einmal sicher ist, ob Frauen mit hohen Testosteronwerten überhaupt körperliche Vorteile haben?
Das ist ein anderer Gesichtspunkt. Ich habe Wochen damit verbracht, darüber zu diskutieren und Experten aus der Medizin zuzuhören. Ich habe an zwei richtungsweisenden Fällen vor dem CAS teilgenommen. Ich glaube nicht, dass irgendjemand mit Sicherheit sagen kann, dass es einen Vorteil gibt. Es ist sehr schwierig, Vorteile zu messen. Jeder Mensch hat verschiedene Arten von Vorteilen. So haben Menschen im Westen, in wohlhabenden Ländern mit fortschrittlichen Sportanlagen, eine andere Art von Vorteilen als die Athletinnen, mit denen ich im globalen Süden gearbeitet habe. Warum sprechen wir nur über einige wenige Eigenschaften? Warum zielen wir auf hyperandrogene Athletinnen, warum grenzen wir eine bestimmte Gruppe von Frauen aus? Das sind die Fragen, die wir uns stellen müssen.
Wird es in Zukunft ein Umdenken geben – auch durch die Sichtbarkeit von Caster Semenya, Dutee Chand und Annet Negesa?
Ich stimme Ihnen zu, dass der Fall von Caster Semenya diesem Thema in den Medien beispiellose Aufmerksamkeit geschenkt hat. Wenn ich nicht optimistisch wäre, hätte ich diese Arbeit nicht ein Jahrzehnt lang machen können. Vor elf Jahren, als ich mit Santhi Soundarajan (eine indische hyperandrogene Sprinterin, Anm.d. Red.) zu arbeiten begann, gab es keine Hoffnung. Es hat kaum jemand darüber gesprochen. Selbst die Journalist*innen interessierten sich nicht für das, was wir sagten.
Zehn Jahre später hat fast jede bekannte Zeitung der Welt über diese Themen berichtet, mehrere Dokumentarfilme sind im Entstehen. Ich glaube, es gibt ein größeres Bewusstsein dank Caster Semenya und ihrer Widerstandsfähigkeit, dank der indischen Läuferin Dutee Chand, die als erste vor dem CAS gegen die Hyperandrogenismus-Regeln geklagt hat, und auch dank Annet Negesa. Dieses verstärkte Bewusstsein wird auch anderen jungen hyperandrogen Sportlerinnen helfen. Bis vor kurzem dachten sie, sie müssten entweder mit dem Sport aufhören oder medizinische Maßnahmen ergreifen. Heute wissen sie, dass es eine rechtliche Möglichkeit gibt. Dass sie „Nein“ zu einer medizinischen Intervention sagen können. Dass sie sich für ihren Körper nicht schämen müssen, weil sie so geboren werden, wie sie sind.
Sie sind sich ihrer Rechte bewusster, weil diese drei Sportlerinnen öffentlich über die Ungerechtigkeit gesprochen haben. Sie haben also jedes Recht, so anzutreten, wie sie sind. Diese Botschaft hat mehrere junge Athletinnen erreicht, die von den Vorschriften betroffen sind.
Was wünschen Sie sich für die Zukunft des Sportsystems?
Es ist der gleiche Wunsch, den ich für die Gesellschaft habe. Ich wünsche mir, dass der Sport in Zukunft geschlechtergerechter wird – dafür habe ich all die Jahre gekämpft und werde es auch weiterhin tun. Sportverbände haben eine Fürsorgepflicht, die sie erfüllen müssen. Diskriminierung aufgrund von Rasse und Geschlecht ist im heutigen Sport wie auch in der Gesellschaft inakzeptabel. Und sie muss aufhören. Sportfunktionäre sind zu sehr darauf bedacht, wer es auf das Podium schafft. Ich wünschte, sie würden sich mehr darauf konzentrieren, das Spielfeld sicherer und integrativer zu machen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Wahlprogramm von CDU und CSU
Der Zeitgeist als Wählerklient
Anschlag auf Magdeburger Weihnachtsmarkt
Vieles deutet auf radikal-islamfeindlichen Hintergrund hin
Anschlag in Magdeburg
Auto rast in eine Menschenmenge auf dem Weihnachtsmarkt
Keine Konsequenzen für Rechtsbruch
Vor dem Gesetz sind Vermieter gleicher
Russische Männer auf TikTok
Bloß nicht zum Vorbild nehmen