Aktivist zu Gemeinschaftsschulbeschluss: „Die Einigung ist historisch“
Sachsen erlaubt das längere gemeinsame Lernen. Leider sind die Hürden dafür hoch, sagt Burkard Naumann vom Bündnis „Gemeinschaftsschule in Sachsen“.
taz: Herr Naumann, vergangene Woche hat der Sächsische Landtag das Recht auf längeres gemeinsames Lernen beschlossen und damit die Forderungen Ihres Volksantrags aufgegriffen. Was überwiegt bei Ihnen: die Freude darüber, dass der Freistaat nach jahrelangem Hin und Her die Gemeinschaftsschulen erlaubt? Oder der Ärger, dass die CDU sie mit hohen Hürden erschwert?
Burkhard Naumann: Ich würde sagen, es herrscht verhaltende Freude. Natürlich ist der Landtagsbeschluss erst mal ein klarer Erfolg für uns. Ohne den Volksantrag wäre es nie so weit gekommen. Das liegt sicher auch an dem Zeitpunkt, an dem wir die mehr als 50.000 Unterschriften an den Landtagspräsidenten übergeben haben. Das war kurz vor den Landtagswahlen im vergangenen September. Dadurch, dass SPD und Grüne den Volksantrag unterstützten und das Thema längeres gemeinsames Lernen im Wahlkampf setzten, fanden sich Gemeinschaftsschulen dann auch im Koalitionsvertrag (von CDU, SPD und Grünen, Anm. d. Red.) wieder. Jetzt hat die Regierung Wort gehalten und sich mit dem Antrag befasst, leider nicht ganz in unserem Sinne. Mit der Auflage, dass Gemeinschaftsschulen in der Jahrgangsstufe 5 mindestens vier Parallelklassen vorweisen müssen, wird es in Sachsen nicht besonders viele davon geben.
Laut der SPD-Bildungspolitikerin Sabine Friedel erfüllen nur 30 der insgesamt 280 Oberschulen in Sachsen dieses Kriterium.
33 Jahre, ist einer der beiden Vertrauenspersonen des Volksantrags „Längeres gemeinsames Lernen in Sachsen“.
Das ist genau unsere Kritik. Wir hätten Gemeinschaftsschulen bereits ab zwei Parallelklassen zugelassen. Man muss aber auch sagen, dass der Landtag mit der neuen „Oberschule plus“ eine weitere Art Gemeinschaftsschule eingeführt hat, den wir auch im Volksantrag mit angeführt haben: nämlich eine Schule von der 1. bis zur 10. Klasse. Und die ist besonders für den ländlichen Raum eine Chance: Viele Oberschulen haben heute zu wenige Schüler, da die Gymnasiast:innen nach der Grundschule an eine andere Schule gehen. Mit der Umwandlung zur „Oberschule plus“ bleiben die Schüler:innen auch nach der 4. Klasse zusammen und kleine Schulen können so vor der Schließung bewahrt werden.
Allerdings führt die „Oberschule plus“ nicht zum Abitur. Ist diese Form der Gemeinschaftsschule nicht eine Mogelpackung?
Das sehe ich nicht so. Wenn, dann ist der Name die Mogelpackung. Denn die „Oberstufe plus“ ist nichts anderes als eine Gemeinschaftsschule, an der die Schüler:innen weiter zusammen lernen und nicht nach der 4. Klasse getrennt werden. Wer ein Abitur machen will, geht nach der 10. Klasse auf eine andere Schule.
Der Volksantrag Kurz vor den sächsischen Landtagswahlen am 1. September 2019 übergab das „Bündnis Gemeinschaftsschule in Sachsen“ dem damaligen CDU-Landtagspräsidenten 51.000 Unterschriften samt Gesetzentwurf zur Einführung der Gemeinschaftsschule. Damit hatte das Bündnis erreicht, dass sich der sächsische Landtag mit dem Volksantrag beschäftigen musste. SPD, Grüne, Linkspartei, Verdi und GEW unterstützten den Antrag.
Der Kompromiss Die Koalition aus CDU, SPD und Grüne hat am vergangenen Mittwoch eine modifizierte Fassung des Volksantrages beschlossen. Somit erlaubt Sachsen erstmals gemeinsames Lernen nach der Grundschule. Auf Wunsch der CDU müssen Gemeinschaftsschulen aber ab Klasse 5 mindestens vierzügig sein, das heißt vier Parallelklassen haben. Bisher gibt es in Sachsen nach der Grundschule nur die Wahl zwischen Oberschule und Gymnasium.
Der Trend Sachsen ist das achte Bundesland, das Gemeinschaftsschulen erlaubt. In manchen Bundesländern heißen sie auch Integrierte Gesamtschulen (IGS), in Hamburg Stadtteilschulen.
Stimmt, aber die wird – mit Ausnahmen der etwa 30 künftigen Gemeinschaftsschulen – weiterhin ein Gymnasium sein. Damit hat die CDU in Sachsen ja ihr erklärtes Ziel erreicht, das gegliederte Schulsystem beizubehalten. Böse formuliert: Die CDU hat nichts gegen Gemeinschaftsschulen, solange die Schüler:innen dort kein Abi machen können. Nirgends sieht man das besser als in Baden-Württemberg.
Ich weiß, dass die CDU in Baden-Württemberg diese Haltung hat. Tatsächlich hat die CDU in Sachsen eine andere. Sie argumentiert eigentlich sogar anders herum: Nur wenn man auf der Gemeinschaftsschule auch das Abitur machen darf, ist es auch eine Gemeinschaftsschule. Die anderen Modelle des längeren gemeinsamen Lernens, die wir im Volksantrag noch mit aufgeführt hatten, hat sie rausgeschmissen. Das Modell von Klasse 1 bis 10 – die neue „Oberschule plus“ – darf deshalb auch nicht Gemeinschaftsschule heißen, weil man dort kein Abitur machen kann. Das ist schon ein interessanter Sinneswandel.
Die SPD feiert den Kompromiss mit der CDU als „historischen Schulfrieden“, der das Kernanliegen des Volksantrags dennoch wahrt. Stimmen Sie zu?
Die Einigung ist historisch, das sehe ich absolut genauso. Allerdings widerspreche ich in dem zweiten Punkt. Die meisten Forderungen aus unserem Volksantrag hat die Koalition zwar unberührt gelassen – etwa, dass es keine Bildungsempfehlung geben soll, oder dass die Gemeinschaftsschulen weitgehende pädagogische Freiheiten beispielsweise für jahrgangsübergreifenden Unterricht haben –, ein anderer Kern des Volksantrags aber war, dass die Gemeinschaftsschule überall dort ermöglicht werden sollte, wo Schule, Schulträger, Eltern und Schüler das wollen. Und das ist jetzt definitiv nicht der Fall.
Wie viele Schulen in Sachsen wollen das denn überhaupt: auf ein längeres gemeinsames Lernen umsteigen?
Es sind auf jeden Fall mehr Schulen dazu bereit, als die Hürden nun zulassen. Einige Kommunen haben schon öffentlich gemacht, dass sie diesen Weg gehen möchten, und prüfen jetzt, ob und wie schnell das klappt. Und dann gibt es ja die Modellschulen für gemeinsames Lernen, die 2007 eingeführt wurden – und dann unter Schwarz-Gelb wieder eingestampft wurden – und schon lange drauf warten, wieder offiziell als Gemeinschaftsschule arbeiten zu dürfen. Doch selbst diese Schulen, die schon jahrelange Erfahrung mit gemeinsamen Lernen haben, fallen jetzt raus, weil sie nicht groß genug sind. Das ist absurd. Und so wie den Modellschulen geht es den meisten Oberschulen: Sie erfüllen die Auflagen nicht.
Der Sächsische Lehrerverband warnt davor, dass sich Oberschulen im ländlichen Raum deshalb gegenseitig die Schüler:innen streitig machen könnten.
Na ja, über die Fragen, welche Schulen eingerichtet werden, entscheidet der Schulträger, nicht die Schulleitung. Insofern sehe ich die Gefahr nicht. Und selbst wenn sich Schüler, Eltern, Schulleiter und Kommune zusammentun, um eine Gemeinschaftsschule zu gründen, dann heißt das doch nur, dass es offenbar die passendere Schulform ist.
Und eine zunehmend beliebte. Zwischen 2007 und 2017 hat sich die Zahl der Gemeinschaftsschulen bundesweit verdreifacht. Warum hat es in Sachsen so lange gedauert? Nachbar Thüringen hat schon vor zehn Jahren grünes Licht gegeben.
Thüringen war in dem ganzen Prozess eine gute Orientierung. Dort hat Professor Wolfgang Melzer von der TU Dresden den Aufbau der optionalen Gemeinschaftsschulen wissenschaftlich begleitet und so ihre Einführung auch schon vor der letzten Schulgesetznovelle hier in Sachsen vorgeschlagen. Die CDU hat das damals abgewunken – und hätte es auch vielleicht dieses Mal ohne den Volksantrag und die Koalitionsverhandlungen mit SPD und Grünen. Der Erfolg liegt aber sicher in dem Versprechen, dass keine Schulform „von oben“ diktiert wird, sondern die freie Wahl „von unten“ erlaubt wird. Das ist demokratische Mitbestimmung vor Ort.
Apropos Mitbestimmung. Formell gilt Ihr Volksantrag als abgelehnt. Theoretisch können Sie noch einen Volksentscheid starten, der bei Erfolg bindend wäre. Ist das eine Option?
Das ist noch eine Option, ja. Der nächste Schritt zum Volksentscheid wäre das Volksbegehren, für das wir 450.000 Unterschriften bräuchten. Das ist aber schon eine immense Hürde. Schon der Volksantrag, für den wir „nur“ 40.000 Unterschriften sammeln mussten, hätte an der Bürokratie scheitern können. Man muss die Unterschriften auf speziellen Formblättern, die den gesamten Gesetzentwurf enthalten müssen, sammeln und bestätigen lassen, fortlaufend nummerieren und die Unterstützer nach Gemeinden sortieren. Der ganze Antrag kann da bereits an kleinen Formalia scheitern. Ob wir nun den nächsten Schritt gehen und ein Volksbegehren starten, werden wir am Freitag bekannt geben.
Falls nein, was machen Sie dann mit Ihrer Zeit – jetzt, wo Sie Ihr Ziel erreicht haben?
Wir haben entschieden, auf jeden Fall weiter Initiativen zu unterstützen, die sich in eine Gemeinschaftsschule wandeln möchten. In Leipzig hat der Stadtrat schon angekündigt, Schulneugründungen immer auf die Option Gemeinschaftsschule zu prüfen. In anderen Städten gibt es ähnliche Überlegungen. Es gibt also genügenden Spielraum, um weiter in dem Feld aktiv zu bleiben. So oder so bin ich persönlich sehr glücklich, wie weit wir es bereits geschafft haben.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen