piwik no script img

Aktivismus, Kunst und SelbstinszenierungMilo-Rau-Dämmerung in Wien

Prominente Künstler und Intellektuelle wie Elfriede Jelinek widersprechen dem Leiter der Wiener Festwochen. Der rief dazu auf, für Gaza zu „brennen“.

Milo Rau, geb. 1977 in Bern, Chef der Wiener Festwochen, hier auf dem Schwarzenbergplatz in Wien Foto: Georg Hochmuth

Von

Uwe Mattheiß aus Wien

Milo Rau hat kurz vor dem Waffenstillstand im Gazastreifen einen offenen „Brief an meine Freund:innen“ nachgereicht. Darin ortet der Intendant der Wiener Festwochen ein „beredtes Schweigen“ der Kulturinstitutionen zum Gazakrieg und spricht über „linguistische Spielereien“ um den Genozidbegriff. Nun trifft sein Aufruf zum „Widerstand“ allerdings auf anhaltenden Widerspruch – nicht nur in Wien

„Wir müssen unsere Aufmerksamkeit auf das lenken, was draußen geschieht in der Welt. Und wir müssen aufhören, darüber zu schweigen,“ so formulierte Rau, als Waffenstillstand, Befreiung der Geiseln und ein Ende des Krieges bereits absehbar waren. Der Intendant der Wiener Festwochen veröffentlichte den „Brief an meine Freund:innen“ auf der Website des Festivals.

Ein „Genozid“ in Gaza ist dem Schweizer Theatermacher selbstverständliche Tatsache. Also kein Tatvorwurf, der von unabhängigen internationalen Gerichten erst noch zu prüfen wäre, sondern Fakt. Denen, die seinem Urteil widersprechen, wirft er vor, lediglich Zeit zu vergeuden – „linguistische Spielereien“.

Neu-Testamentarisch

In einer Sprache, deren Duktus bisweilen an christlich-pietistische Erweckungspredigten samt Zitaten aus dem Neuen Testament erinnert, appelliert Rau in apokalyptischer Dringlichkeit an die Ak­teu­r:in­nen im kulturellen Feld nicht zu „Mitschuldigen“ zu werden: „Seid ein Beispiel, seid frei. Zu reden und nicht zu schweigen bedeutet, keine Angst zu haben.“

Was vermittelt Rau die Wahrnehmung eines impliziten Schweigegebots? Zeigt sich doch mit Boykottaufrufen gegen israelische oder jüdische Künstler, Wissenschaftler oder auch nur Gastronomen, permanenten Demonstrationen, Ausladungen von Gastspielen, Angriffen auf jüdische oder israelische Menschen und Einrichtungen in Europa vielfach ein ganz anderes Bild.

Ich finde Milo Rau da einfach zu oberflächlich

Elfriede Jelinek, Schriftstellerin

Sein in vielen Sprachen publizierter Brief fand im deutschsprachigen Raum kein Medium, das bereit war, ihn zu veröffentlichen. Während sein Brief im Kontext seines internationalen Netzwerks als „zu wenig und zu spät“ wahrgenommen wurde, so Rau, stößt er im Deutschsprachigen auf scharfe Kritik.

Klassischer Faschismus?

„Wir sind die drei Nationen des klassischen Faschismus“, schreibt er. Wobei der Schweizer Rau sein „Wir“ hier auf Deutschland, Italien und Österreich bezieht und die Eidgenossenschaft darunter subsumiert. Und weiter: „Wir haben vor nicht langer Zeit einen Völkermord geplant und ausgeführt, den Genozid an den europäischen Juden*Jüdinnen, den schrecklichsten Völkermord aller Zeiten.“

Die Geschichte der Täternation erfordere nicht allein eine besondere Wachsamkeit gegenüber alten wie neuen Formen des Antisemitismus. Er überträgt sie in wenigen flinken Sätzen auch auf andere Konflikte. Vom Holocaust zum Gazakrieg, die klassische Täter-Opfer-Umkehrung.

Über die Erfahrung des historischen Versagens der Täternationen im Holocaust erhebt Rau so den Anspruch, auf eine Observanz gegenüber dem Judenstaat, um diesen seinerseits davor zu bewahren, genozidale Verbrechen zu begehen.

Raus Begründung

Dazu befragt, warum er das tut, sagt Rau, er habe „ganz bewusst auf die tiefenhistorische Ursache dieses Grauens hingewiesen, auf jenen Genozid nämlich, den Deutschland und Österreich mit all ihren Kollaborateuren an den europäischen Juden begangen haben.“ Denn dies habe „zu den andauernden Folgekonflikten in Israel und Palästina geführt.“

Auch wenn es nicht die Intention Raus sein mag, sind solche Äußerungen als Delegitimierung Israels im Nahen Osten zu verstehen, da sie die Angriffe auf Israel lediglich als „Folgekonflikt“ europäischer Verbrechen darstellen.

Rau kritisiert die Taten der Hamas zwar ebenso wie die Kriegsführung der israelischen Streitkräfte, sieht sich gar an der Seite der „liberalen israelischen Zivilgesellschaft“. Doch scheint dies eher das Resultat skrupulöser Abwägungsversuche, um beim antizionistischen juste millieu seiner internationalen Kontakte sowie dem lokalen Diskurs anschlussfähig zu bleiben. Er stößt damit jedoch auf massiven Widerspruch. Und der kommt diesmal nicht aus dem notorisch rechten Lager, sondern aus der kritischen Kunst- und Kulturszene.

Jelinek, Rabinovici, Gaus und Schindel

Eine „Absage“ an Raus Brief haben mittlerweile über 150 Persönlichkeiten aus dem kulturellen Feld unterschrieben, darunter so prominente Autoren wie Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek, Doron Rabinovici, Olga Flor, Karl Markus Gauß, Monika Helfer, Michael Köhlmeier, Martin Prinz, Robert Schindel und Vladimir Vertlib.

In ihrem Gegenbrief rufen sie dazu auf, sich den „antijüdischen Boykotten in der Kulturszene“, „Judenhass und Israelhetze“ entgegenzustellen. Rau störe „nicht das Schweigen über die antisemitischen Attacken und Attentate in vielen Ländern. Zu leise noch findet er jene, die gegen den Judenstaat hetzen.“

Denn von einem solchen Schweigen wüssten die jüdischen Menschen in Europa nichts. „Sie hören das Gebrüll jener hunderten Manifestationen in denen die Vernichtung Israels gefordert wird.“ Die Unterzeichnenden weisen einseitige Schuldzuweisungen im Nahen Osten zurück.

Und werfen Rau vor, er spekuliere lediglich mit dem Skandal. Es gehe ihm weniger um die Menschen in Gaza und Israel, sondern „er will Aufmerksamkeit und Quoten – und zwar auf Kosten des jüdischen Lebens in Österreich.“

Bedauern Jelineks

Besonders schmerzlich für Rau dürfte die Unterschrift von Elfriede Jelinek sein, die ihrerseits die Entwicklung bedauert. Jelinek verweist auf die Ambiguität in Raus Texten und sagt: „Man kann nur falsch liegen, weil jede Äußerung einen zwingt, totalitär zu argumentieren, und ich finde Milo Rau da einfach zu oberflächlich. Er schreibt von diesem Einerseits und Andrerseits, diese Begriffe werden geradezu formelhaft beschworen, ständig, aber was ich derzeit, gerade von Kulturschaffenden, aber auch von der Linken höre, ist nur dieses einzige Andrerseits.“

Wo man „derzeit eher von Frieden und Versöhnung sprechen müsste“, höre sie, so Jelinek, „von Seiten des Kulturbetriebs und der Linken dieses aggressiv aufgeladene ‚Völkermord‘-Geschrei“.

Alexander Karschnia, Mitbegründer der Gruppe andcompany&Co und gelegentlicher Autor der taz, kritisiert in einem gesonderten Schreiben an Rau eine „weaponization“ des Genozidbegriffs. „Wer von ‚Genozid‘ spricht, spricht nicht von einem Krieg, der beendet werden könnte, sondern gestoppt werden muss ‚by any means necessary‘. Mit den Folgen, dass „der Terror der Hamas nicht nur nicht länger erwähnt wird, sondern dass er dort, wo er erwähnt wird, oft relativiert und verharmlost bis begrüßt und gefeiert wird“.

In Raus Text bleibt zudem die Frage offen, wer sich hinter dem „Wir“ verbirgt, das darin genau 32 Mal vorkommt. Der Künstler? Das Festival? Die versammelte Szene?

Alle gleich bedroht?

Der in Berlin lebende Regisseur und Kostümbildner Amit Epstein bestreitet in einem weiteren offenen Brief an Rau, „dass wir alle auf dem gleichen Boden stehen, im gleichen Licht, in der gleichen moralischen Entfernung von der Gefahr.“

Rau behaupte, wir seien hier nicht bedroht. „Einige von uns sind es“, so Epstein. Jede Konversation am Theater beginne derzeit mit einem „loyality-check“. Er müsse dabei ständig beweisen, dass seine Trauer nicht „zionistisch“ sei, seine Furcht nicht „reaktionär“.

In seiner sechs Seiten langen Erwiderung „Komplexität aushalten“ versucht Rau nun seine Kritiker regelrecht zu umarmen: „Wenn Milo Rau das wirklich so geschrieben und gesagt hätte, wie hier unterstellt wird, dann würde ich diesen Brief sofort selbst unterschreiben.“

Doch sein Versuch, alle Menschen guten Willens wie üblich im abstrakten Kampf „gegen rechts“ zu einen, scheitert nun. Milo Rau führt die Kunst als moralische Instanz an ihre Grenzen.

Bei Emile Zolas „J’accuse“ in der Dreyfuss-Affäre oder Jean-Paul Sartres Anklage gegen die Gräuel der Kolonialmacht Frankreich in Algerien galt moralische Selbstermächtigung als letztes Mittel – und nicht als fortdauerndes Geschäftsprinzip.

Gemeinsam für freie Presse

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Alle Artikel stellen wir frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade in diesen Zeiten müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass kritischer, unabhängiger Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

12 Kommentare

 / 
  • Manche Aspekte des Begriffs "Erlösungsantizionismus" passen aufeinige den "Brief an meine Freund:innen". Der pathetische Gestus, die Vorstellung ganz alleine gegen das Unrecht der Welt zu stehen, die im Artikel erwähnte "apokalyptische Dringlichkeit".



    Die Palästinenser:innen als handelte Akteure, die trotz vermeintliche Assymetrie des Konflikts verschiedene Optionen haben werden nicht erwähnt.



    Natürlich muss man beim Bennenen von Unrecht an einem Ort nicht jedes Unrecht an einem anderen Ort mitbenennen. Bei Leuten, die "gegen die westliche Vorherrschaft" und "für den globalen Süden" sprechen wollen, fällt das dröhnende Schweigen auf: nichts zum Vorgehen der Hamas gegen ihre "eigenen" Landsleute, nichts zu den Kriegsverbrechen die im Sudan begannen werden.

  • Im Artikels stört mich der Wortlaut des Autors: "Vom Holocaust zum Gazakrieg die klassische Täter-Opfer-Umkehrung".

    Der schon lange bestehende der Konflikt ist historisch gesehen ist keine Täter-Opfer-Umkehrung sondern ein sich aufschaukelnder Konflikt mit SOWOHL als AUCH:

    "Es mag ein Klischee sein, aber die Menschlichkeit hat nur eine Seite. Über Gaza zu reden bedeutet, die Verbrechen des israelischen Militärs genauso zu verurteilen wie die Verbrechen der Hamas." (siehe im Artikel verlinkte Webseite zum Bericht von Milo Rau).

    Die Ursache-Wirkung geht viel weiter zurück als das Massaker von Hamas. Hierzu ein 13-Minuten Video 'How Israel and Palestine Became Enemies', das zwar den Zeitraum vom Mittelalter überspringt, aber aus distanzierter Warte eine Reihe von Fakten wiedergibt:



    youtu.be/GR-embMmM...i=5a0aoJOivzlfedBi

    Damit zur Beurteilung des Konflikts möglichst alle Fakten auf den Tisch kommen, hier der Link zu weiteren einleuchtenden Details der United Nation Webseite: www.un.org/unispal...uto-insert-193552/

    Anstelle Neutralität zu einem Thema braucht es die Verpflichtung zu einer vollkommenen Ehrlichkeit in der journalistischer Tätigkeit.

  • Erfreulich zu sehen, dass nicht die gesamte Kulturszene blind auf einen antiisraelischen Kurs eingeschwenkt ist.

  • Haben die Wiener Festwochen einen Aufsichtsrat oder so etwas in der Art?



    Möchte man sich von einem Intendanten, der so etwas in die Welt setzt, repräsentieren lassen?

  • Ich finde diesen Artikel mehr als befremdlich - nicht zuletzt wegen des diffamierenden Tonfalls (Kritikern vorzuwerfen, es ginge Ihnen nur um Aufmerksamkeit oder Geld ist ziemlich platt und ad hominem). Und die Art und Weise, wie der Genozid-Vorwurf vom Tisch gewischt wird (im Falle Jelineks mit einer unsäglichen Kaltschnäuzigkeit) ist angesichts der Tatsache, dass dieser Vorwurf von unzähligen Experten, Menschenrechtsorganisationen, einer UN-Kommission und inzwischen sogar manchen europäischen Regierungen erhoben (und auch in teils ausführlichen Berichten begründet wird) wenig überzeugend. Dass noch kein Gerichtsurteil vorliegt, ist eine Ausflucht: schließlich will mit bedrohte Menschen retten, nicht (nur) später über die Täter urteilen. Die Völkermord-Konvention verpflichtet daher auch explizit dazu, Völkermord zu verhindern. Frieden und Versöhnung sind erstrebenswertes Ziele - das heißt aber nicht, dass man ein Menschheitsverbrechen schulterzuckend ad acta legt. Der Artikel bestätigt leider, was er bestreitet: dass es gerade im "deutschsprachigen Raum" nicht ohne Risiko ist, Israels Verbrechen in den besetzten Gebieten auch zu benennen.

    • @O.F.:

      „ Dass noch kein Gerichtsurteil vorliegt, ist eine Ausflucht“

      Befremdliches Rechtsverständnis, aber wenig überraschend.

      • @Fran Zose:

        Befremdliches Rechtsverständnis ? Nein, das Verlangen nach einem Gerichtsurteil ist sooo deutsch. Amnesty International, B Tselem, Bartov, alles 'nen Dreck gegen eine amtliche Bestätigung.

      • @Fran Zose:

        Lesen Sie meinen Beitrag ganz, ich erkläre dort ja, warum das so ist (übrigens wüsste ich nicht, dass man bei anderen Kriegen und Krisen erst auf Gerichtsurteile wartet, bevor man Kritik übt). Befremdlich ist eher die Gleichgültig mit der auch manche Foristen auf dieses Menschheitsverbrechen reagieren.

        • @O.F.:

          Eben, ich habe Ihren Kommentar gelesen und bin deswegen, wie so oft, befremdet. Das der Krieg aufhören muss ist, ist gar nicht die Frage. Das es sich um einen Genozid und offensichtlich haben es jetzt ausgerechnet die bösen, bösen Amerikaner geschafft, dass es einen Waffenstillstand gibt. Das begrüße ich ebenso wie wahrscheinlich die meisten Menschen. Auch wird schon immer grade an Israel reichlich Kritik geübt, von Ihnen ganz vor mir dabei. Dürfen Sie ja auch, aber nur weil Sie in Ihrer Einseitig behaupten, es sei ein Genozid, ist das noch lange nicht wahr. Aber das ist ja nicht das erste Mal, dass Sie Unwahrheiten behaupten. Aber auch das ist Ihr Recht.

          • @Fran Zose:

            Das ist nicht "unwahr", sondern eine Einschätzung, die sich auf ernstzunehmende Autoritären berufen kann. Es ist Dem Intendanten, mir und jedem anderen frei, noch vor einer Gerichtsentscheidungen Ereignisse zu bewerten - und aus Gründen, die ich oben erwähnt habe, ist das oft genug sogar nötig.

      • @Fran Zose:

        Wer die Konvention zur VERHÜTUNG und Bestrafung des Völkermordes gelesen hat, und den Kontext kennt, in dem diese verfasst wurde, weiß, dass „‚Warten wir auf das Urteil‘ heißt: Wir schauen lieber zu, bis alles vorbei ist. Das ist keine juristische Position – das ist moralische Feigheit.

    • @O.F.:

      +1