Afghanistan-Untersuchungsausschuss: Die deutsche Verantwortung
Mit dem Afghanistan-Rückzug befasst sich seit einem Jahr ein Untersuchungsausschuss im Bundestag. Im Umgang mit Ortskräften wird ein Schema deutlich.
Seit einem Jahr befasst sich der Bundestag in einem Untersuchungsausschuss mit dem Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan. Die damit verbundenen Bilder haben sich ins Gedächtnis gebrannt: Taliban-Konvois, die auf Kabul vorrücken, Checkpoints in den Straßen der Stadt, Menschen, die sich in ihrer Verzweiflung an die Tragflächen startender Flugzeuge hängen. Immense Fragen stehen mit dem Einsatz der Nato in Afghanistan in Verbindung, auch das Erbe der Bundeswehr dort ist längst noch nicht geklärt. Der Untersuchungsausschuss befasst sich dabei mit einem kleinen Teil der deutschen Verantwortung in dem Land: dem Verbleib der Menschen, die dort für Deutschland gearbeitet haben, den Ortskräften.
„Ich finde, das mit dem Schreiben war eine geniale Idee“, sagt Oberst Hans-Christoph G. Ende Juni beantwortet er als Zeuge in der 42. Sitzung des Untersuchtungsausschusses die Fragen der Abgeordneten. Als Einsatzgruppenleiter im Einsatzführungskommando hatte er den Abzug des deutschen Kontingents aus Afghanistan geplant und dabei nach eigenen Angaben auch auf die Berücksichtigung der Ortskräfte gedrängt. „Ich konnte jeden und jede verstehen, die Afghanistan verlassen wollten“, so der Oberst.
An einem Abend Mitte August 2021 musste es schnell gehen: Die Taliban hatten Kabul eingenommen, der afghanische Präsident Ashraf Ghani hatte sich ins Exil in die Vereinigten Arabischen Emirate abgesetzt. Die Deutschen erreicht die Nachricht, dass in einem Bus der Schweizer Botschaft zum Kabuler Flughafen noch Plätze frei seien, ob es nicht Menschen gebe, die darin mitfahren wollten. Die Bedingung sei: ein offizielles Dokument für die Checkpoints. „Es musste schnell gehen, einmalig sein und offiziellen Charakter haben“, sagt der Oberst im Ausschuss.
Die Ministerien machten einfach weiter wie bisher
So sei ein Schreiben mit einer falschen Kontaktadresse des Bundestags, wohl aber mit Bundesadler im Briefkopf, entstanden; ein Passierschein, der Wirkung gezeigt habe. „Es war eine Nacht-und-Nebel-Aktion, aber es hat bis auf in einem Fall funktioniert“, sagt der Oberst. Er habe mehrfach Vorschläge eingebracht, um ein Chaos bei den lokalen Mitarbeitenden nach dem Abzug zu verhindern: Das Auswärtige Amt solle eine temporäre Visa-Abteilung am Standort der Bundeswehr in Masar-i-Scharif in Afghanistan eröffnen, oder man solle für Ortskräfte ein sogenanntes Visa-bei-Ankunft-Verfahren ermöglichen, damit Betroffene nach ihrer Gefährdungsanzeige nach Deutschland fliegen können und ihr Visum hier erhalten.
Beide Ratschläge des Obersts seien von den zuständigen Behörden, dem Innenministerium und dem Auswärtigen Amt, lange nicht gehört worden: „Mit bürokratischen Kleinkram sind die Menschen hin und her geschickt worden. Alles Dinge, die nicht helfen, wenn man schnell sein will.“
Nach einem Jahr Arbeit im Untersuchungsausschuss wird immer deutlicher, wie die betroffenen Häuser, das Innenministerium, das Entwicklungsministerium, das Auswärtige Amt und das Verteidigungsministerium, in ihren eigenen Logiken verhaftet blieben und auch in der chaotischen Abzugsphase kaum davon abwichen.
Im September 2021 standen Bundestagswahlen an, und im Innenministerium von CSU-Mann Horst Seehofer war man darauf bedacht, die Zahl der Ortskräfte in Deutschland gering zu halten – Abschiebungen nach Afghanistan wurden erst am 11. August, vier Tage vor dem Fall Kabuls, ausgesetzt.
Angela Merkel wird im Winter 2024 erwartet
Auch im Ortskräfteverfahren stand Seehofers Innenministerium auf der Bremse, mehrfach betonten Mitarbeiter*innen im Untersuchungsausschuss, wie sie auch in den turbulentesten Wochen auf „ordentliche Verfahren“ bestanden hatten und dass eine Visavergabe bei Ankunft in Deutschland nicht vorgesehen gewesen sei.
Auch im Entwicklungsministerium, das beim Fall Kabuls etwa 1.000 Ortskräfte in der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) beschäftigte, deutet vieles darauf hin, dass man nicht an einer vereinfachten Ausreise von Ortskräften nach Deutschland interessiert war. Zu sehr war man (und ist man auch weiterhin) auf die lokalen Mitarbeiter*innen angewiesen. Eine Zeugin aus dem Ministerium sprach am Donnerstagabend im Ausschuss von einer politischen Entscheidung. „Wir haben gegenüber 40 Millionen Afghanen eine Verantwortung gespürt und haben dafür auch die Ortskräfte gebraucht.“
Bislang wurden im Ausschuss Mitarbeitende und Referatsleiter*innen gehört. Sie sind Entscheidungsträger*innen für die großen Fragen im Kleinen. Große Antworten erhofft sich der Untersuchungsausschuss ab kommendem Jahr: Dann werden die Staatssekretäre erwartet – und ab Winter 2024 auch etwa Seehofer und Angela Merkel.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rechtspopulistinnen in Europa
Rechts, weiblich, erfolgreich
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
#womeninmalefields Social-Media-Trend
„Ne sorry babe mit Pille spür ich nix“
Landesparteitag
Grünen-Spitze will „Vermieterführerschein“
Die Wahrheit
Herbst des Gerichtsvollziehers