AfD-Politiker Hans-Olaf Henkel: Seine Mutter nannte ihn „Schniedel“
Um AfDler Hans-Olaf Henkel zu verstehen, muss man seine Lebensgeschichte kennen. Sie ist geprägt von der Suche nach Freiheit.
Dies sei nun seine fünfte oder sechste Karriere, sagt Hans-Olaf Henkel, als wir nach dem Fotoshooting am Tisch seines lichtdurchfluteten Luxusappartments in Berlin-Mitte Platz nehmen. Draußen, im üppig bepflanzten Dachgarten, prunkt die gigantische Steinskulptur einer Mao-Uniform, an der Wand des Nebenraums steht eine alte Jukebox mit Schlagern der 50er Jahre und Jazzklassikern, und auf halber Treppe zum oberen Stockwerk lächelt ein monumentaler Fidel Castro von der Leinwand. Mit dem korrespondierte mein Gastgeber. Auch habe er ihn regelmäßig getroffen, bis Castro 2003 doch das vorher gegebene Versprechen, die Todesstrafe auszusetzen, brach.
Vielfalt ist also gegeben, nicht nur bei den Berufskarrieren. Henkel zählt sie auf: Die erste war sein Erfolg bei IBM, wo er zuletzt als Chef für Europa, den Mittleren Osten und Afrika verantwortlich für 90.000 Mitarbeiter war. Danach, ehrenamtlich, sechs entscheidende Jahre lang, Chef des BDI. Zum Dritten: für mehr als ein Jahrzehnt Honorarprofessor in Mannheim und dann, wiederum im Ehrenamt, Präsident der Leibniz-Gemeinschaft, eines Zusammenschlusses deutscher Forschungsinstitute. Schließlich, sagt er nicht ohne Stolz, könne er auch noch einen gewissen Erfolg als Autor vorweisen: Acht Bücher habe er herausgebracht, die meisten davon schafften es auf die Spiegel-Bestsellerliste.
Nun also zieht er nach dem Erfolg der Alternative für Deutschland (AfD) bei der Europawahl mit 74 Jahren als Nachwuchspolitiker ins Straßburger Parlament ein.
Henkel hat – jedenfalls in seinen privaten vier Wänden – nicht nur einen erstaunlich jungenhaften Auftritt, sondern lebenslängliche Erfahrung darin, der Jüngste, der Überraschungsmann, der Außenseiter zu sein. Er ist einer, der immer wieder in Turbulenzen gekommen ist, weil er gegen den Strom schwimmt. Aber auf seinem neuen Kurs fühlt er sich erstmals wie „ein richtiger Geisterfahrer. Mir kommen die Politiker entgegen, seit Jahren, die in die Industrie streben, also die Geld verdienen wollen: Pofalla und wie sie alle heißen.“
Die Serie: Sie haben wichtige Ämter, sind präsent in den Medien und repräsentieren ihre Parteien. Aber wie ticken sie? Christian Schneider porträtiert deutsche Spitzenpolitiker für die sonntaz. Die ersten Folgen sind nachzulesen unter taz.de/check1 (bis 4).
Der Autor: Christian Schneider ist Sozialpsychologe und Führungskräftecoach in Frankfurt am Main. Er promovierte bei dem Sozialphilosophen Oskar Negt und lehrte an den Universitäten Hannover und Kassel. Ein Schwerpunkt seiner Forschungen ist die Generationengeschichte des Nationalsozialismus. Für die sonntaz hat er bereits Nachwuchspolitiker porträtiert – nachzulesen unter taz.de/diagnose1 (bis 6).
Henkels Antwort auf die Frage, warum er sein so vielgestaltiges und erfolgreiches Leben noch einmal neu ausrichte, ist hanseatisch schlicht: „Es muss sein.“ Um, wie er meint, Europa vor dem großen Euro-Crash zu retten. Und um die AfD vor dem Abdriften in Richtung rechts zu bewahren. Ein Verantwortungsethiker?
Nicht wenige würden sich schütteln bei dieser Bezeichnung. Henkel ist für viele, nicht nur Linke, ein rotes Tuch. „Das kalte Gesicht des Kapitalismus“ pflegt mein 68er-Freund Joe ihn zu nennen. Gewiss, man kann es so sehen. In einschlägigen Talkshows etwa kommt Henkel oft nicht nur kühl, sondern als der arrogante schwarze Abt der kapitalistischen Observanz rüber. Einer, der neben seiner Weltsicht keine andere gelten zu lassen scheint. Ein Zyniker?
Widersprüche im eigenen Leben
Keine Frage: Der Mann provoziert. An ihm scheiden sich die Geister, er hat etwas Herausforderndes in seiner manchmal herablassenden Direktheit. Und stets scheidet sich, widerspricht sich, so scheint es, auch in ihm selbst etwas. Widersprüche im eigenen Leben scheut er so wenig wie das Eingestehen von Fehlern. Die Sache mit dem Euro sei einer davon. Lange habe er für ihn geworben, erst spät sei ihm aufgegangen, welcher Sprengstoff in der von keiner ökonomischen Vernunft gedeckten Ausweitung des Euro-Raums steckt.
Ende der 60er warb er begeistert für anderes und andere: Willy Brandt, dessen sozialistische Perspektive hinter der faszinierenden Aura von Freiheit verschwand, die Henkel beim „deutschen Kennedy“ spürte.
Freiheit ist das Stichwort. Kein Wunder, bei Henkels Lebensgeschichte. Als in den letzten Kriegstagen sein Vater fiel, Hans-Olaf war knapp fünf Jahre alt, stand die Mutter, so sagt er, vor der Alternative, sich entweder um die Hamburger Firma oder um die drei Kinder zu kümmern. Die Entscheidung fiel gegen sie: Alle drei wurden auf Kinderheime und Internate verteilt.
Nie war die Gesellschaft freier, die Möglichkeit zur Selbstverwirklichung größer. Doch viele macht das nicht glücklich, sondern panisch. Im Job und in der Liebe. Der Soziologe Heinz Bude in der taz.am wochenende vom 20./21. September 2014. Außerdem: Eine Reportage über verschleppte Kinder im Bürgerkrieg in El Salvador, die als Erwachsene ihre Eltern wiederfinden. Und: Wie eine Initiative in Peru Elektroschrott umweltverträglich entsorgt. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.
Es braucht nicht viel Fantasie, sich den Schock vorzustellen. Die Mutter habe „kein warmes Verhältnis zu den Kindern“ gehabt, sagt Henkel. Umgekehrt habe er, obwohl ihr Liebling – „Schniedel“ war sein Kosename – immer mit ihr gestritten, sie hart kritisiert.
Zwischenzeitlich auch mal bei den Großeltern untergebracht, quälte er sich durch sieben oder acht Schulen und Heime, um am Ende, nach einem mütterlichen Wutanfall ob seiner ewigen Widerworte, ins berühmt-berüchtigte „Rauhe Haus“ abgeschoben zu werden. Dort landeten die harten Jungs, mit denen woanders niemand zurechtkam.
„Heimweh“ mit doppelter Bedeutung
Vorher, mit zwölf Jahren, hatte der Ungetaufte beschlossen, Katholik zu werden, um nicht mehr „der Heide“ im katholischen Heim zu sein, das er damals durchlitt. Das Wort „Heimweh“, sagt er, habe für ihn doppelte Bedeutung: die Sehnsucht nach Zuhause und das Weh im Heim, sprich: die körperlichen Züchtigungen. „Das ist Unfreiheit“, fasst er seine Heimkarriere zusammen. Er klingt cool, wenn er es sagt, aber man spürt die innere Bewegung. Ein Traumatisierter?
Henkel ist jedenfalls nicht ohne diese Geschichte zu verstehen. Er hat früh lernen müssen, Nischen und Lücken für sich zu schaffen, Auswege und Schlupflöcher, um der Unfreiheit zu entkommen. Seine Strategie war eine Mischung aus Anpassung und Aufbegehren. Vieles in seiner Lebensgeschichte erinnert an die Biografien von 68ern, die als Kriegskinder oft vaterlos und mit einem mächtigen Freiheitsstreben aufwuchsen, auch wenn er sie als „Selbstdarsteller“ und „verklemmte Wichtigtuer“ ablehnt. Manchmal ist die Generationszugehörigkeit – Henkel ist, wie Dutschke, Jahrgang 1940 – prägender als die persönliche Überzeugung.
Mit 16 hatte er es geschafft. Er verließ die Schule mit mittlerer Reife – und hatte die Wohnung der Mutter fortan für sich allein, weil diese bei ihrem neuen Partner lebte: Unabhängigkeit, endlich. Auch finanziell, weil er Zimmer untervermietete. Er genoss die Freiheit mit Partys, Mädchen, Rock und Jazz, neuen Freunden, darunter die damals in Hamburg gastierenden Beatles. Dazu Lehre bei einer Spedition, dann ein Ökonomiestudium an der gewerkschaftsnahen Hamburger Akademie für Gemeinwesen – der junge Ralf Dahrendorf war sein Soziologiedozent.
Mit 21 konnte er mit praktischer Berufserfahrung und einem Examen aufwarten, seine steile Karriere in den Boomjahren der deutschen Wirtschaft begann – nicht zuletzt, weil er es verstand, seine Ansprechpartner durch geschicktes Verhalten zu beeindrucken. Er habe halt „eine gewisse Fähigkeit, sich in das Gegenüber hineinzuversetzen“, sagt er. „Das hab ich wohl von meiner Mutter gelernt, das war eine Superdiplomatin. Die konnte im Umgang mit anderen sehr freundlich sein, und wenn die dann aber aus dem Haus waren: 'Oh, wie schrecklich! Den sind wir jetzt los.'“
Also war es doch sie, der alles zu verdanken ist? Henkel setzt der Ambivalenzbeziehung zur Mutter ein Denkmal in einer bemerkenswerten Freud’schen Fehlleistung. Mitten im Reden über ihre Härte und Kälte wirft er das Ruder herum und interpretiert ihren Entschluss, ihn ins „Rauhe Haus“ zu schicken, als Grundstock seines Erfolgs: Hier lernte er Disziplin und wurde ein guter Schüler. Anderen sei das versagt geblieben, „aber ich hatte das Glück, eine ehrgeizige, fordernde Mutter zu sein“.
Innerlich Kind geblieben
Sein statt Haben: sein, was man nicht hat? Eine Identifikation mit dem Aggressor, der verlassenden Mutter? Selbst die mangelnde Elternrolle für sich zu übernehmen ist bei vielen Erfolgreichen zu beobachten. Es ist sowohl eine Usurpation, eine Selbstüberhebung als auch die Möglichkeit, innerlich Kind zu bleiben: so etwas wie eine wissende Naivität. Henkel besitzt sie. Es hat ihm ein Leben lang ermöglicht, sich für scheinbar kontradiktorische Dinge zu engagieren und immer wieder Neuanfänge zu finden.
Die Ablehnung linker Positionen hielt ihn beispielsweise nicht ab, die taz zu unterstützen, als sie in Geldnot war. Typisch, dass er sich im Europaparlament in den Ausschüssen für Wirtschaft und Menschenrechte engagieren will. Sein Einsatz für Menschenrechte ist so genuin wie sein Marktradikalismus, die von ihm mitinitiierte Kampagne für Ai Weiwei eine Herzensangelegenheit.
Jetzt hat er sich die Freiheit genommen, der AfD zu dienen: Nein, eine rechte Partei, wie das überall kolportiert werde, sei das nicht. Die Medien überböten sich in gezielten Negativkampagnen und falschen Informationen.
Henkel erzählt von seinen Wahlkampfveranstaltungen, dem Hass, mit dem er sich dabei oft konfrontiert sieht, und den außergewöhnlichen Kandidaten seiner Partei: Menschen, die „alle mal was Vernünftiges gemacht haben“, bevor sie Politiker wurden. Er ist erkennbar mit Begeisterung dabei. Was ihn antreibt, ist einmal mehr seine beinahe kindliche Weltneugier: die Mischung aus Leistungsdenken, Überzeugung, Gestaltungswillen und dem Wunsch nach Zugehörigkeit.
Keine Frage, das Engagement für die AfD entspringt seinem Verständnis von Verantwortung. Überzeugungen haben bei ihm indes – siehe Euro – mitunter Zeitwert. Alles kann sich ändern, wenn die Perspektive wechselt. Womöglich gilt das auch für die Seiten seiner Partei, die er bislang offensichtlich verleugnet. Bei einem, der seine Jugend noch nicht ausgesessen hat, bleibt die Frage nach der Zukunft schließlich auch im Alter von 74 Jahren offen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Pistorius lässt Scholz den Vortritt
Der beschädigte Kandidat
Böllerverbot für Mensch und Tier
Verbände gegen KrachZischBumm
Haftbefehl gegen Netanjahu
Begründeter Verdacht für Kriegsverbrechen
Social-Media-Verbot für Jugendliche
Generation Gammelhirn
Krieg in der Ukraine
USA will Ukraine Anti-Personen-Minen liefern