Äußerung in Interview: Sind die Belarussen Selenski egal?

Der ukrainische Präsident hat russischen Medienvertretern ein Interview gegeben. Wie kommt das, was er sagt, bei den Menschen in Belarus an?

Ein Mann in olivfarbenem T-Shirt und mit Bart gestikuliert: Wolodimir Selenski

Als säße man beim Bier zusammen: Selenski im Videointerview mit unabhängigen russischen Medien Foto: Ukrainian Presidential Press Office/ap/dpa

Vor wenigen Tagen hat Wolodimir Selenski den unabhängigen russischen Medien ein Interview gegeben. Die russische Medienaufsicht „Roskomnadsor“, die im Internet jetzt gerne „Roskomposor“ genannt wird (unübersetzbares Wortspiel: nadsor ist die Aufsicht, posor die Schande; Anm. d. Übersetzerin) hat von den Medien in Russland verlangt, dieses Interview nicht zu veröffentlichen. Die zuständige Abteilung teilte mit, dass bei den Medien, die dieses Interview geführt haben, eine „Prüfung zur Feststellung der Verantwortlichkeit“ durchgeführt werde.

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Dieses Verbot war eine super PR-Aktion, witzeln die Leute, weil sie die Aufzeichnung des Interviews sonst vielleicht bei Youtube verpasst hätten. Einigen Belarussen ist das Selenski-Interview dennoch übel aufgestoßen – und zwar wegen folgender Äußerung Selenskis: „Wenn wir den Krieg beenden können und Lukaschenko sich dann wieder fühlt wie der Herr im Haus – dann soll er halt. Mir ist das, ehrlich gesagt, völlig egal. Das ist generell die Entscheidung der Belarussen, aber ganz sicher nicht unsere.“

Hierzulande kam das zum Teil nicht gut an. Schließlich sind viele Belarussen auf der Seite der Ukraine, manche haben sogar aktiv den Kriegseinsatz von Belarus aus sabotiert, etwa indem sie Bahnstrecken beschädigten. Jetzt fühlen sie sich von Selenski im Stich gelassen – und das nicht das erste Mal: Der Einmarsch der russischen Armee von belarussischem Gebiet aus hätte vermieden werden können, wenn die Ukraine im Jahr 2020 die demokratischen Kräfte in Belarus unterstützt hätte. Doch Selenski habe offenbar mehr daran gelegen, die Wirtschaftsbeziehungen mit Lukaschenko aufrechtzuerhalten.

Andere können diese Anschuldigungen jedoch nicht nachvollziehen. Sie meinen, es wäre so oder so zum Krieg gekommen – den habe Russland ja lange genug vorbereitet. Und hätte es sich für Selenski 2020 gelohnt, seine Armee in ein anderes Land einmarschieren zu lassen? Dann hätte es in Belarus Krieg gegeben. Und es gäbe die Stadt Gomel nicht mehr, so wie es jetzt kein Mariupol mehr gibt.

Wir müssen so viel wie möglich darüber erzählen, wie die Belarussen der Ukraine helfen, welche Risiken unsere Freiwilligen eingehen. Und wir müssen das in der Ukraine und in der ganzen Welt verkünden, damit auch wir die Unterstützung der Welt und der Ukraine bekommen.

Eines muss man Wolodimir Selenski aber zugute halten: wie nahbar und menschlich der ukrainische Präsident ist. Nicht in Anzug und Krawatte, sondern in einem zerknitterten T-Shirt war er im Interview zu sehen, und er hat mit allen so gesprochen, als säße er mit ihnen in der Küche bei einem Bier. Mit einfachen Worten hat Selenski seine Position erklärt.

Ein lebendiger, aufrichtiger, erschöpfter Mensch, der seit einem Monat nicht mehr genug geschlafen hat, der seine Heimat verteidigt und versucht, neue Opfer zu vermeiden.

Aus dem Russischen Gaby Coldewey

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