Ästhetisierung der Arbeiterklasse: Der Traum vom Armsein
Sich als arm auszugeben, ist angesagt. Ohne Scham inszenieren diese Klassentourist*innen ihre angebliche Armut und Klassenzugehörigkeit.
In Berlin ist es mir schon zwei-, dreimal passiert, dass ich einer Person Geld auslege, sie durchfüttere oder ihr Bier ausgebe, weil sie behauptet, pleite zu sein. In einem Nebensatz rutscht ihr irgendwann raus, dass die Eltern Anwälte, Unternehmerinnen oder Ärzte seien. „Ich hab' nie gesagt, dass ich arm bin. Nur pleite.“ Implizit gibt sie damit zu, dass das Erbe noch nicht auf dem Konto ist und deshalb das Leben in Armut abgefeiert werden kann. Immer wieder treffe ich Menschen, die bei jeder Gelegenheit erwähnen, dass sie kein Geld haben. Dass sie sich nichts leisten können. Dass die Mieten hier so hoch seien. Dass Mama und Papa diese bezahlen, behalten sie für sich.
In den Kommentarspalten von Berliner Meme-Seiten wie „berlinauslandermemes“ oder „berlinclubmemes“, die auf Instagram mittlerweile mehrere Hunderttausend Follower haben, berichten unzählige Leute von ähnlichen Erfahrungen mit Personen, die einen auf arm machen. „Wenn du jemandem das ganze Jahr seine Abendessen zahlst und dann erfährst, dass er jemandes Vermieter ist“, schreibt eine Nutzerin. „Wenn du so reich bist, dass Armut zu deiner Ästhetik wird“, schreibt ein anderer Nutzer. „Hoffentlich kommt der Dauerauftrag meiner Eltern bald an“, macht sich ein Meme lustig.
Auch Leute, die aus wohlhabendem Haus kommen, können pleite sein. Die Angst, die damit einhergeht, ist real, aber was sie von Menschen unterscheidet, die wirklich arm sind, ist, dass sie dieses Gefühl romantisieren können, während andere unter ihm leiden. Das Wissen, dass es sich um einen vorübergehenden Zustand handelt, erlaubt es ihnen, ihn zu genießen. Armut ist dann etwas Neues, Aufregendes, Unbekanntes. Scham, seine finanzielle Lage in die Welt zu tragen, gibt es in diesem Fall nicht.
„Seht her, ich bin einer von euch“, sagen sie. Ich kann mich nicht daran erinnern, jemals stolz darauf gewesen zu sein, dass mein Kontostand im zweistelligen Bereich lag. Denn die Zahl repräsentierte meine Lebensrealität und kein kathartisches Erlebnis.
Ausdrücklicher Wunsch, arm zu sein
Im Jahr 1965 thematisiert Bob Dylan in „Like a Rolling Stone“ den sozialen Abstieg einer Frau, die in Reichtum aufwächst und später auf der Straße lebt. Früher warf sie noch die Münzen in die Pappbecher, heute muss sie selbst betteln. „How does it feel?“ – „Wie fühlt es sich an?“, fragt Dylan immer wieder. Diese Frau entkommt der Armut nicht mehr.
Den ausdrücklichen Wunsch, arm zu sein, findet man 30 Jahre später bei Pulp in „Common People“. In dem Song geht es um eine Klassentouristin, deren reiche Eltern sie jederzeit aus dem Leben in Armut befreien könnten. Die Band postuliert aus der Perspektive des einfachen Volkes stolz: „You’ll never live like common people. / You’ll never do whatever common people do./ You’ll never fail like common people.“
Bei Kleidung lässt sich am deutlichsten beobachten, wie die Vermarktung Klassentourist*innen anziehen sollen: Lars Eidinger mit seinen 550-Euro-Plastiktüten in blau-weißer Aldi-Nord-Optik oder Balenciaga mit den neongelben Bauarbeiterjacken für 3.000 Euro. Außerdem verkaufte das Label Vetements Shirts mit dem DHL-Logo als High Fashion. Dass solche Klamotten nicht nur Mode geworden sind, sondern diese im Allerhöchstpreissektor von den Regalen geht, ist eine Perversion.
Auch in der Partywelt findet es sich wieder
Die Modeindustrie suggeriert den Käufer*innen, dass sie das Bild einer bodenständigen, schwer arbeitenden Person abgeben können. Und das, ohne je körperliche tätig gewesen oder den Problemen der Arbeitenden ausgesetzt zu sein. Dass die Ästhetik körperlicher, niedrigbezahlter Arbeit (Blue Collar Jobs) glorifiziert und verkauft wird, ist besonders dann schmerzhaft, wenn man sich vor Augen führt, wer davon profitiert. Die Labels stecken sich die Kohle in die Taschen und die Arbeiter*innen, die die Klamotten herstellen und ausliefern, gehen als Verlierer*innen aus.
Urban Outfitters zum Beispiel beschrieb in einem Treffen mit Investoren seine Hauptkundschaft als „gehobene Obdachlose“.
Doch solche Aneignungen finden sich nicht nur in der Mode, sondern auch in der Partywelt. Um 23.30 Uhr an einem Junitag ist das Bulbul in Kreuzberg noch recht leer. Ein Kollektiv namens Nachtboutique, das sich auf Telegram mit den Worten „raw working class energy“ (rohe Arbeiterklassenenergie) beschreibt, veranstaltet hier eine Party. Auf der kleinen Tanzfläche reden die meisten noch, statt zu tanzen. Die Musik wird von Platten gespielt. Dänische Touristinnen, die das Event auf der Ticketplattform Resident Advisor gefunden haben, nippen an 11-Euro-Cocktails, die sie billig finden.
Unpolitisch, aber sich auf Arbeiterhintergrund beziehen?
Bei der Namensgebung ließ sich das Kollektiv von einer Doku über die Clubs der DDR inspirieren, von denen manche Nachtboutiquen genannt wurden. Das sagt Mesud, einer der Organisatoren. In der Gruppenbeschreibung auf dem Telegram-Kanal steht, dass sie mit ihren Partys das Gefühl der Arbeiter*innen der DDR rüberbringen wollten. Dies schaffen sie durch die Off-Locations, faire Eintrittspreise, Inklusion und Schallplattenmusik, sagt Mesud. Außerdem kämen die Mitglieder des Kollektivs allesamt aus Arbeiter*innen-Familien und können somit die Authentizität der Erfahrung gewährleisten.
Ich habe eine ähnliche Herkunft, von der ich mich mit einem Studium entfernt habe. Auch die Veranstalter haben, sowie die Handvoll Gäste, mit denen ich im Bulbul spreche, studiert.
Auf die Frage, warum sie einen politisch aufgeladenen Namen mit einer politischen Beschreibung gewählt haben, antwortet Mesud, dass das Kollektiv eigentlich unpolitisch sei. „Das Politische ist invers geworden. Also, was früher politisch und Punk sein war, ist heute unpolitisch sein“, sagt er.
Ist es möglich, sich ausdrücklich auf den Arbeiterhintergrund zu beziehen und sich gleichzeitig als unpolitisch zu bezeichnen? Nachtboutique hat nicht beabsichtigt, in Balenciaga-Manier mit dem Vokabular Kohle abzugreifen. „Aber ich bin mir sicher, dass das eine Rolle spielt, dass sich Leute davon angesprochen fühlen, die dieses Arbeiterding auch cool finden“, sagt Mesud. Und weiter: „Das ist eine Sache, die stattfindet. Darüber sollten wir uns mehr Bewusstsein schaffen.“
Berlin als Ort, um sich in der Menge zu tarnen
Viele Clubs sagen in ihren Selbstbeschreibungen Ähnliches. So schreibt der Berliner Club Tresor auf seiner Seite, dass er lange „ein eher vorstädtisches Publikum aus der Arbeiterklasse“ anzogen habe. Wie diese Arbeiter*innen die Eintrittspreise von mittlerweile 22 Euro tragen sollen, wird nicht erwähnt. DJ Working Class legt dort auf.
Berlin ist das ideale Habitat für die, die sich in der Menge zu tarnen wissen. An jeder Ecke könnte der nächste Undercover-Reiche lauern. Alle drehen ihre Kippen selbst. Alle trinken Billigsekt. Alle sind Teilzeit-DJs, aber woher kommt eigentlich die Kohle für die Anlagen und Pulte, die sie in ihren vermeintlich schäbigen Altbauwohnungen stehen haben?
Das Leben in Berlin ist wie ein Auslandssemester, in dem der Traum in Erfüllung geht, sich auch mal als Opfer fühlen zu dürfen. Reich zu sein und seine Privilegien zuzugeben, ist uncool. Dennoch wäre es moralisch, offen darüber zu sprechen. Also, Rich Kids aller Länder, outet euch! Wir beißen nicht. Aber euer Bier könnt ihr selbst zahlen.
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