Abtreibungen in Norwegen: Staatsfeminismus als Lösung
Seit 40 Jahren gibt es in Norwegen das Recht auf einen selbstbestimmten Schwangerschaftsabbruch. Selbst Konservative verteidigen das Gesetz.
Der Himmel über Oslo war so wie immer Anfang März, grau und langweilig. Dennoch war am 8. März 2014 etwas anders als sonst: Normalerweise sind es um die 2.000 Menschen, die sich ins Stadtzentrum aufmachen, um den internationalen Frauentag zu begehen. An diesem Samstag jedoch drängten sich die Menschen auf den Straßen der Osloer Innenstadt. Der historische Youngstorget-Platz war vollgepackt, viele Demonstrant*innen mussten in die Nebenstraßen ausweichen. Von „Zuständen wie in den 1970er Jahren“ war in den Zeitungen danach die Rede. Schätzungen der Osloer Polizei zufolge kamen 10.000 bis 15.000 Menschen auf den Youngstorget-Platz, in vielen anderen norwegischen Städten wurden ebenfalls Rekorde gebrochen.
Die Auslöserin für die Aufregung, die damals so viele Menschen mobilisierte, war an diesem Tag nicht in Oslo: Erna Solberg, auch heute noch Ministerpräsidentin von Norwegen und damals gerade in ihrer ersten Legislaturperiode, zog ein Treffen mit ihrer konservativen Partei Høyre vor. Es war ihre Regierung, die im Herbst zuvor einen umstrittenen Gesetzesentwurf verfasst hatte: Dieser hätte es Hausärzt*innen erlaubt, ihre Unterschrift auf der Überweisung ans Krankenhaus für ungewollt Schwangere zu verweigern, wenn diese einen Schwangerschaftsabbruch wollen.
Dieser Gesetzesentwurf also trieb die Menschen wütend auf die Straße. Eine Überweisung ist für eine Abtreibung zwar nicht zwingend nötig, doch vielen Menschen war das damals nicht bewusst – Kritiker*innen fürchteten, dass ungewollt Schwangere dann weite Wege zu mehreren Ärzt*innen auf sich nehmen würden. Zudem legen viele Patientinnen Wert darauf, vor einer Abtreibung mit dem Arzt ihres Vertrauens zu sprechen. Sollte dieser ihnen die Überweisung verweigern, hätte dies auch eine moralische und stigmatisierende Botschaft: Was du tust, ist falsch.
Norwegen hat seit dem 30. Mai 1978 ein äußerst liberales Recht zum Schwangerschaftsabbruch. Bis zur zwölften Woche ist es allein Entscheidung der Frau, ob sie einen Abbruch vornehmen lassen will. Der Eingriff ist kostenlos. Eine Beratungspflicht oder eine gesetzlich vorgeschriebene Bedenkzeit gibt es nicht. Das Recht auf Selbstbestimmung geht sogar so weit, dass eine Frau bei einer Zwillingsschwangerschaft bloß einen Fötus entfernen lassen kann.
Geschlossen gegen Einschränkungen
Um das Recht Selbstbestimmung zu verteidigen, protestierten an jenem Frauentag vor vier Jahren so viele Menschen wie seit den 70er Jahren nicht mehr. Ihr Motto: „Schützt das Gesetz zum Schwangerschaftsabbruch. Nein zum Recht auf Vorbehalt“. Zwei Monate später ließ die Regierung Solberg den Vorschlag fallen.
In der Rückschau erscheint der 8. März 2014 wie eine Machtdemonstration der Straße. Wie schon in den 1970er Jahren bastelten die Menschen Transparente und reimten Slogans, um für das Recht auf Abtreibung zu kämpfen. Und doch gab es Unterschiede: Es waren nicht mehr nur die „üblichen Verdächtigen“, also linke Frauenaktivist*innen, die ihre Stimmen erhoben.
Die Autorin arbeitet für die norwegische Zeitung Klassekampen und ist derzeit mit einem IJP-Stipendium bei der taz.
Auch der Ärzt*innenverband protestierte. Konservative Wähler*innen schrieben Briefe an die Ministerpräsidentin, um sie umzustimmen. In einer Umfrage vom Februar 2014 sprachen sich zwei von drei Norweger*innen gegen die Gesetzesänderung aus. Und auch 165 der insgesamt 187 Bürgermeister*innen des Landes lehnten den Entwurf ab. Eine prominente Bürgermeisterin, Mitglied in Solbergs konservativer Høyre-Partei, gab bekannt, sollte das Gesetz in Kraft treten, werde sie es auf kommunaler Ebene blockieren.
Dass es zu einem so geballten Aufstand überhaupt kam, ist nicht nur Resultat einer außerparlamentarischen Bewegung – sondern liegt auch im norwegischen Staatsapparat begründet. Um den zu verstehen, bedarf es einer oft unterschätzten norwegischen Sozialwissenschaftlerin sowie ein wenig norwegischer Geschichte.
Schrittweise Liberalisierung
Erstmals diskutierten die Menschen dort im Jahr 1913 über Schwangerschaftsabbruch, nachdem eine junge Frau an den Folgen einer illegalen Abtreibung gestorben war. Denn Abreibung war damals mit nur wenigen Ausnahmen streng verboten. Die Frauenrechtlerin Katti Anker Møller schrieb wütend in der Zeitung Socialdemokraten: „Sie hätte gerettet werden können, wenn sie in die Hände eines Arztes gekommen wäre.“
Religiöse und konservative Stimmen protestierten damals gegen diesen Satz. Aber die Arbeiter*innenbewegung unterstützte Møllers Vorstoß, die in der Selbstbestimmung über den eigenen Körper die Grundlage jeder Freiheit sah. Frauenaktivist*innen bauten Beratungs- und Präventionsangebote aus und kämpften für die Entkriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen.
Die Serie. Am Freitag stimmen die Menschen in Irland darüber ab, ob Schwangerschaftsabbrüche künftig möglich sein sollen. Bis dahin beschäftigen wir uns an dieser Stelle jeden Tag mit der Situation von ungewollt Schwangeren in einem anderen europäischen Land.
Der nächste Teil: Umfragen zufolge ist der Ausgang des irischen Referendums ungewiss. Dem Lager, das für Selbstbestimmung kämpft, stehen Abtreibungsgegner*innen aus Irland und den USA entgegen.
Alle Texte der Serie unter taz.de/AbtreibungEuropa
Im Jahr 1960 wurde der Eingriff in besonderen Fällen erlaubt. Jedoch mussten sich Schwangere, die abtreiben wollten, vor einem Komitee aus zwei Ärzt*innen erklären. Kritiker*innen dieser Regelung bemängelten die Unwägbarkeit dieses Verfahrens und die Erniedrigung, die damit einherging.
Die Wende kam 1969. Nach heftiger Debatte nahm die norwegische Arbeiterpartei das Recht auf einen selbstbestimmten Schwangerschaftsabbruch in ihr Parteiprogramm auf. Der Einfluss dieser sozialdemokratischen Partei war groß; sie hatte in Norwegen von 1935 bis 1965 durchgängig die Regierung gestellt, während der Zeit des Zweiten Weltkriegs aus dem Exil heraus.
„Wir lernten, wie man Politik macht“
In den folgenden neun Jahren kämpften norwegische Feminist*innen für ein entsprechendes Gesetz – und zwar mithilfe einer Doppelstrategie: Zum einen versuchten sie, ihr Ziel durch klassischen Aktionismus zu erreichen; sie veranstalteten Sit-ins im Parlament, demonstrierten vor restriktiv geführten Krankenhäusern und bauten Fraueninitiativen auf, die persönlichen Schicksalen und Erlebnissen öffentlich Gehör verschafften.
Gleichzeitig setzten die Aktivist*innen auf einen Marsch durch die Institutionen innerhalb des politischen Systems. „Die Frauenbewegung war in den 1970er Jahren größtenteils außerparlamentarisch“, erinnerte sich Birgit Bjerck, Aktivistin der 70er Jahre, in einem Seminarbeitrag 2006. Aber beim Thema Schwangerschaftsabbruch sei viel innerhalb der Parteien gearbeitet worden: „Wir lernten, wie man Politik macht“, schreibt Bjerck. Das Resultat dieser zweispurigen Bemühungen zeigte sich Ende Mai 1978: Das Gesetz für das Recht auf einen selbstbestimmten Schwangerschaftsabbruch wurde mit knapper Mehrheit im Parlament verabschiedet.
Das Gesetz ist ein gutes Beispiel für das, was die Sozialwissenschaftlerin und ehemalige Diplomatin und Politikerin Helga Hernes in den 1980er Jahren als „Staatsfeminismus“ bezeichnet hat. Hernes, die gerade 80 Jahre alt geworden ist, ist auch für ihre Perlenkette bekannt: Diese trug sie, um ihre männlichen Forscherkollegen nicht zu verschrecken. Die Pionierin der Gleichstellungsforschung stellte fest, dass Frauen drei potenzielle Verbündete haben: sich selbst, Männer – und den Staat.
Das stellte die traditionelle Sichtweise auf staatliche Institutionen als männlich geprägte und paternalistische Arena infrage. Hernes zeigte, dass es möglich ist, einen frauenfreundlichen Wohlfahrtsstaat aufzubauen. Erreicht wurde dieser durch eine gleichzeitige Mobilisierung „von unten“ durch Frauenrechtsaktivist*innen, und „von oben“ mithilfe der Parteien – auch derer in Regierungsverantwortung. Der frauenfreundliche Staat wurde also geboren aus Straßenkämpfen gepaart mit dem Wunsch nach Macht.
Die Frauenregierung
Wie dieser Staatsfeminismus aussieht, verdeutlicht etwa ein Foto des norwegischen Schlosses in Oslo an einem Maitag im Jahr 1986: Vor dem Gebäude posiert die damalige Premierministerin Gro Harlem Brundtland mit ihrem 18-köpfigen Kabinett. Acht der Minister*innen waren Frauen, das Kabinett wurde als sogenannte Frauenregierung international bekannt.
Dabei ging es nicht nur um den hohen Frauenanteil: Seit den 1970er Jahren engagierte sich Brundtland, die selbst Ärztin war, für das Recht auf den selbstbestimmten Schwangerschaftsabbruch. Im Jahr 1986 dann war sie in einer Machtposition angelangt, in der sie rechtlich verankern konnte, wofür sie zuvor gekämpft hatte.
Dass Norwegen bis heute ein frauenfreundlicher Staat ist, sieht man unter anderem an Geschlechterquoten in Vorständen, am flächendeckenden Ausbau von Kindergärten und an einer Elternzeit von bis zu 59 Wochen.
Der Siegeszug des Staatsfeminismus zeigt sich aber auch daran, dass er im Volk beliebt ist; auch Menschen, die sich nicht als Feminist*innen bezeichnen, unterstützen die frauenfreundliche Politik. Jeder Versuch, die Väterquoten bei der Elternzeit zu kürzen, stieß bislang auf Widerstand. Und wenn eine Regierung ein Gesetz beschließen will, das den Zugang zu einem Schwangerschaftsabbruch erschwert – dann ist der Protest groß und laut.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste