Absturz in Schleswig-Holstein: SPD weggepustet
Die SPD erlebt eine herbe Niederlage in Schleswig-Holstein. Ihr Kandidat Losse-Müller verwechselte Regierungserfahrung mit Verankerung im Land.
Dass der SPD für weitere fünf Jahre nur die Oppositionsbank bleibt, hat auch mit dem Mann zu tun, der angetreten war, um CDU-Mann Daniel Günther als Ministerpräsident abzulösen: Thomas Losse-Müller, langjähriger Grüner und erst vor anderthalb Jahren zur SPD übergelaufen. Dabei schien alles auf eine andere Kandidatin zuzulaufen: Serpil Midyatlı hatte sich über Jahre zur Spitzengenossin aufgebaut.
Die Unternehmerin hatte ein sozialdemokratisches Aufstiegsmärchen geschrieben. 2019 wurde sie Landeschefin, vor einem Jahr beerbte sie ihren Mentor Stegner als Fraktionsvorsitzende. Doch dann verzichtete sie überraschend auf die Spitzenkandidatur und hob stattdessen Losse-Müller auf den Schild.
Losse-Müller: mit Themen nicht durchgedrungen
Der gibt sich am Abend zerknirscht, räumt ein, dass die SPD mit ihren Themen nicht durchdrang und Ministerpräsident Günther seine öffentliche Sympathie voll ausgespielt habe. Dies sei von Anfang an eine „große Herausforderung“ gewesen, so Losse-Müller.
In Berlin räumt auch SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert im halbleeren Willy-Brandt-Haus ein, dass seine Partei „unter die Räder geraten sei“. Eilig schob er dies aber auf eine „strategische Sackgasse“ auf Landesebene, bei der Wahl in Nordrhein-Westfalen kommende sehe die Sache weitaus besser aus.
Auch SPD-Chefin Saskia Esken versucht, Zuversicht zu verbreiten. Ja, das Ergebnis sei bitter und eine herbe Enttäuschung. Aber die SPD ließe sich 2022 durch solche Rückschläge nicht mehr verunsichern. „Deshalb ist die Botschaft: Mund abputzen, weitermachen.“ Bei der Wahl in NRW sehe es anders aus: Sie sei sicher, dass dort SPD-Kandidat Thomas Kutschaty der nächste Ministerpräsident werde. Die Chancen stehen tatsächlich nicht so schlecht.
Eine erklärungsbedürftige Nominierung
Auch in Schleswig-Holstein sollte anfangs ein Coup gelingen, der allerdings bei näherem Hinsehen erklärungsbedürftig war: Ohne Amt und Mandat sollte der 1973 geborene Losse-Müller, weißer Akademiker aus Eckernförde mit wohltemperiertem Auftreten, den extrem beliebten Ministerpräsidenten mit exakt denselben Attributen herausfordern, mit dessen Amtsführung sogar 70 Prozent der SPD-Wähler:innen zufrieden waren? Statt der quirligen Kieler Arbeitertochter mit türkischen Wurzeln, die sich Tag für Tag im Landeshaus in der Abteilung Attacke profilieren konnte?
Es sei die „Kombination aus Inhalt und Person“, die Losse-Müller zum idealen Kandidaten gemacht habe, behauptete Midyatlı im taz Salon. Der Kandidat selbst tönte im taz-Interview: „Klimawandel, Demografie, Digitalisierung – das sind Themen, für die ich im Land bekannt bin.“ In Bezug auf den Politikbetrieb mag der frühere Staatskanzleichef damit richtig liegen. Doch im Land hat sich das nicht herumgesprochen. Auch kurz vor der Wahl rang er noch darum, auf der Straße erkannt zu werden. Zuletzt wünschten ihn sich gerade mal elf Prozent der Befragten als Ministerpräsident.
Der Klimawandel ist zwar auch nach Umfragen das Topthema im Land – aber vor Ort wird der Ausbau von Windkraft- und Solaranlagen häufig abgelehnt. Und das von Losse-Müller ebenfalls ausgerufene Großthema „sozialer Zusammenhalt“ mit dem SPD-Wahlkampfschlager kostenfreie Kita hätte die langjährige Sozialpolitikerin Midyatlı glaubwürdiger ausbuchstabieren können.
SPD verteidigt ihren Spitzenkandidaten
Fast trotzig bekräftigte Midyatlı am Sonntag dennoch, Losse-Müller sei „der absolut richtige Kandidat“ gewesen. „Es ist schwierig, mit landespolitischen Themen einen Wandel anzustoßen, wenn Corona und Krieg alles überlagern“, glaubt auch Stegner. Dass die Nord-SPD hinterm Bundestrend zurückblieb, habe nicht an Losse-Müller gelegen: „Wir hatten bestimmt nicht den falschen Kandidaten. Er hatte zu wenig Zeit, sich bekannt zu machen.“ Losse-Müller solle nun die Gelegenheit erhalten, dem Ministerpräsidenten im Landtag Paroli zu bieten. „Er kann das.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Müntefering und die K-Frage bei der SPD
Pistorius statt Scholz!
Krieg in der Ukraine
Russland droht mit „schärfsten Reaktionen“
Israel demoliert beduinisches Dorf
Das Ende von Umm al-Hiran
Angeblich zu „woke“ Videospiele
Gamer:innen gegen Gendergaga
Haldenwang über Wechsel in die Politik
„Ich habe mir nichts vorzuwerfen“
Israelis wandern nach Italien aus
Das Tal, wo Frieden wohnt