8./ 9. Mai 1945: Pervertiertes Gedenken
Über den Tag der Befreiung herrschte lange Konsens. Jetzt wird der Zweite Weltkrieg zur Begründung für eine neue Menschenschlächterei herangezogen.
D er 8. oder 9. Mai war nie ein einfacher Gedenktag. Für die Hinterbliebenen in den Siegerstaaten blieb es lange ein Datum der Trauer. Erst Jahrzehnte später konnten sich die Menschen auch darüber freuen, dass das Massenschlachten in Europa an diesem Tag ein Ende fand. Die Deutschen, denen dieses Datum lange als eines der Niederlage galt, erhielten erst in jüngster Zeit die Gelegenheit zur Teilnahme. Die damaligen Alliierten öffneten sich für ihre Feinde von einst, nachdem diese zu begreifen begannen, dass auch sie befreit worden sind.
Es hat in all diesen Jahrzehnten nach dem 8. Mai 1945 nicht an Versuchen gefehlt, dieses Datum für die jeweils eigene aktuelle Politik zu instrumentalisieren. Aber immer blieb es bei der Übereinstimmung, dass es sich um einen historischen Tag handelt; immer war damit der Konsens des „Nie wieder!“ verbunden.
Dieses Miteinander ist zerstört, niedergewalzt durch den Krieg Russlands in der Ukraine. Das Ende des Zweiten Weltkriegs ist in Moskau zur bloßen Folie verkommen, mit der die Machthaber ihre expansiven Gelüste ummanteln und Tausende Tote mit dem Kampf gegen einen angeblichen Faschismus begründen. Es ist eine Pervertierung: Der übelste Massenmord der Menschheitsgeschichte wird zur Begründung für eine neue Menschenschlächterei herangezogen.
So werden zivilisatorische Grenzen verwischt. Verwischt wird damit aber auch, dass der deutsche Krieg und der Holocaust singuläre Ereignisse bleiben, nicht vergleichbar mit dem Krieg in der Ukraine, auch wenn da durchaus Parallelen der Brutalität und der imperialistischen Bestrebungen gezogen werden können. Aber selbst ein Wladimir Putin will nicht alle Ukrainer versklaven und umbringen. Diese Art des eliminatorischen Rassismus bleibt den Deutschen exklusiv.
Wenn nicht nur die Ukrainer diese Unterscheidung in diesen Tagen vergessen, dann trägt dafür Russland die Verantwortung. Es hat aus der Geschichte perverse Propaganda gemacht.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Elon Musk greift Wikipedia an
Zu viel der Fakten
Grünen-Abgeordneter über seinen Rückzug
„Jede Lockerheit ist verloren, und das ist ein Problem“
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Das Weihnachten danach
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Scholz fordert mehr Kompetenzen für Behörden
Krieg in der Ukraine
„Weihnachtsgrüße“ aus Moskau