75 Jahre Israel: Die zwei Stützen Israels
Israel feiert seinen 75. Geburtstag. Der Konflikt, der das Land heute spaltet, war schon bei seiner Gründung angelegt.
G retel Baum war 21 Jahre alt, als sie zum ersten Mal palästinensischen Boden betrat. Das war 1934, ein Jahr nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland. Aber die junge Frau aus Frankfurt am Main war nicht als Flüchtling vor den Nazis in das britische Mandatsgebiet gekommen, sondern aus tiefster Überzeugung: „Wir wollten ein sozialistisches Land in Palästina aufbauen.“
Ihre erste Station war selbstverständlich ein Kibbuz. Es gab dort kein persönliches Eigentum, selbst Unterwäsche wurde zur allgemeinen Nutzung ausgegeben, erinnerte sie sich. Sie erntete Orangen und wurde später Köchin. Mit den Arabern im Lande, so die damalige Vorstellung, werde es ein friedliches Zusammenleben geben.
Viele der jüdischen Neueinwanderer kamen so wie die vor vier Jahren im Alter von 106 verstorbene Gretel Baum mit der Überzeugung ins Land, dort eine bessere, egalitäre Gesellschaft aufzubauen, ohne Ausbeutung, Schikanen, Armut – und ohne Antisemitismus. Auch die Führung des Jischuw, der jüdisch-palästinensischen Gemeinschaft, strebte eine sozialistische Gesellschaft an.
David Ben-Gurion, der spätere erste Ministerpräsident Israels, hatte sich schon als Jugendlicher in Polen dem sozialistischen Zionismus zugewandt und emigrierte 1906 nach Palästina. Sozialistischer Zionismus, das bedeutete die gleichzeitige Überwindung von Kapitalismus und jüdischer Diskriminierung, das hieß, dass aus Händlern und Hausierern, Berufen, in die die Juden zwangsweise hineingedrängt worden waren, in Eretz Israel ein Volk von Arbeitern und Bauern werden sollte.
Schon damals kündigte sich Spaltung an
Die sozialistischen Parteien, allen voran Ben-Gurions Arbeiterpartei Mapai, genossen in Palästina wie in Israel nach seiner Gründung 1948 die Zustimmung einer deutlichen Mehrheit der jüdischen Bevölkerung. Aber schon damals kündigte sich die tiefe Spaltung der Gesellschaft an. Denn mit den oppositionellen revisionistischen Parteien, die ein größeres und stärkeres Israel anstrebten und gegenüber der arabischen Bevölkerung zu weniger Kompromissen neigten, bestand eine tiefe Gegnerschaft. Der Begriff Revisionisten entstand, weil diese bürgerlich-rechte Bewegung für eine Revision der Abtrennung Transjordaniens vom Mandatsgebiet Palästina eintrat – also das künftige zionistische Staatsgebiet ausdehnen wollte.
Heute spielen sozialistische Vorstellungen in Israel eine sehr randständige Rolle. Meretz, Nachfolgeorganisation der linken Mapam, scheiterte bei der letzten Wahl an der 3,25-Prozent-Hürde und ist nicht mehr im Parlament vertreten. Ben-Gurions Mapai, die schon lange als Arbeitspartei HaAvoda firmiert, hält gerade noch 4 von 120 Sitzen in der Knesset.
In Israels zersplittertem Parteiensystem besitzen die Nachfolger der Revisionisten eine relative Mehrheit und bilden zusammen mit religiösen und rechtsradikalen Gruppierungen die Regierung. Sie haben das Land mit ihrem Plan, die Gewaltenteilung auszuhebeln, in eine tiefe Krise gestürzt. Hunderttausende protestieren gegen die Absichten der Rechten.
Wie konnte es dazu kommen? Tatsächlich ist ein Teil dieses Konflikts schon in der Vorgeschichte Israels und in den Jahren unmittelbar nach seiner Gründung angelegt.
Oded Baumann kam 1935 nach Palästina. Er erinnerte sich im Jahr 2007 bei einem Gespräch in einem Tel Aviver Altersheim: „Es gab keine reichen Leute. Wir waren alle nicht arm. Das heißt, nach heutigem Standpunkt waren wir sehr arm, aber wir hatten genug, um zu existieren. Es war eine sehr egalitäre Gesellschaft. Die Organisation der jüdischen Bevölkerung war sozialistisch. Die Opposition war verschwindend klein, und sie spielte keine große Rolle.“
Auf Widerstand bei Sozialisten wie Revisionisten
Die zögerliche Haltung Großbritanniens bei der Zuteilung von Einwandererzertifikaten ab Ende der 1930er Jahre stieß bei Sozialisten wie Revisionisten auf Widerstand. Dennoch verkündete David Ben-Gurion im Zweiten Weltkrieg eine Art Burgfrieden mit der Mandatsmacht, ging es doch darum, den größeren Feind, Nazideutschland, niederzuringen. Nach dem Sieg 1945 galt diese Beschränkung nicht mehr.
Die revisionistischen Gruppen Lechi und Irgun verfolgten die Vorstellung, Großbritannien durch Attentate aus dem Land zu bomben. Auch die paramilitärische Truppe Haganah unter Führung Ben-Gurions war alles andere als pazifistisch orientiert, distanzierte sich aber von blutigen antibritischen Attentaten.
Zermürbt von diesem Kleinkrieg bereiteten die Briten schließlich ihren Abzug vor. Im November 1947 beschlossen die Vereinten Nationen, Palästina in zwei Hoheitsgebiete aufzuteilen – ein arabisches und ein jüdisches Land. Am 14. Mai 1948 verkündete David Ben-Gurion in Tel Aviv die Unabhängigkeit des Staates Israel. Am nächsten Tag begann der Krieg gegen die arabischen Nachbarstaaten, die das neue Land von der Landkarte zu tilgen gedachten.
Gretel Baum, die damals schon den Nachnamen Merom trug, erinnerte sich: „Damals sind wir auf die Straße gelaufen und haben die ganze Nacht getanzt und gefeiert. Dann kam der Krieg. Alle Männer und viele Frauen mussten zum Militär. Ich musste nicht, weil ich einen Sohn hatte. Wir hatten alle nichts zu essen. Aber irgendwie ging es schon.“
Nur gut einen Monat nach der Staatsgründung, am 22. Juni 1948, ging vor der Küste Tel Avivs ein Schiff in Flammen auf. Die „Altalena“ sollte dringend benötigte Kämpfer und Waffen in das junge Land bringen. Beschossen wurde der Dampfer nicht von arabischer Seite, sondern auf Befehl von David Ben-Gurion. Denn die Waffen sollten nicht in die Hände der Zahal – so der Name der gerade gegründeten israelischen Armee – gehen, sondern waren für die Irgun bestimmt. Die Gruppe unter Menachem Begin plante offenbar, als rechte Privatarmee ihren eigenen Kampf zu führen. Das wollte Ben-Gurion nicht zulassen. Die Spaltung zwischen Revisionisten und Linken vertiefte sich und wurde unüberbrückbar.
Es ist diese Spaltung, die Israel über Jahrzehnte geprägt hat und untergründig auch noch heute eine Rolle spielt. Ben-Gurion wie auch seine Nachfolger bildeten bald nach der Unabhängigkeit Koalitionsregierungen unter Führung ihrer Mapai, doch den Revisionisten blieben diese Bündnisse stets verschlossen. Stattdessen verließ sich die Arbeitspartei auf linke und liberale Partner – und auf die Religiösen.
Anfang der 1950er Jahre in Hadera am Mittelmeer: Der Bauarbeiter Walter Frankenstein macht einen Schabbatspaziergang in der Kleinstadt, als ihm ein an der Kleidung erkennbarer tief religiöser Jude begegnet. Frankenstein raucht eine Zigarette, der Religiöse schnippt sie ihm weg und besteht darauf, dass das Rauchen am Schabbat entsprechend der religiösen Gesetze nicht statthaft sei.
Siebzig Jahre später kann sich Frankenstein, inzwischen 98 Jahre alt und längst Nichtraucher, immer noch über diesen Vorfall aufregen. Es gehe überhaupt niemanden etwas an, wie er sich privat verhalte, sagt er. Es sei völlig unmöglich, dass ausgerechnet am Schabbat, dem einzigen freien Tag in der Woche, der Busverkehr eingestellt werde, empört er sich.
Die Integration lag der Arbeitspartei am Herzen
Beschränkungen wie der unterbrochene öffentliche Reiseverkehr sind eine Folge von Ben-Gurions Koalitionsregierungen mit den Religiösen, ebenso wie die faktische Befreiung der Haredim genannten Ultraorthodoxen vom Wehrdienst. Damals, in den 1950er Jahren, war die Zahl der Ultraorthodoxen in Israel sehr gering.
Ihre Integration im neuen Staat lag der Arbeitspartei deshalb besonders am Herzen, weil viele von ihnen dem zionistischen Projekt lange skeptisch gegenüberstanden, ja wenige Radikale die Staatsgründung gar ablehnten, weil dies einen Vorgriff auf die Wiederkehr des Messias darstelle. Die Beteiligung an der Macht sollte die Orthodoxen und Ultraorthodoxen zu loyalen Staatsbürgern machen. Gewisse Privilegien waren der Preis dafür.
Heute leben rund 700.000 Haredim in Israel – bei einer Gesamtbevölkerung von gut 9 Millionen. Sie sind zu einer mächtigen, wenn auch intern zersplitterten Gruppierung herangewachsen, deren politische Vertretungen bis auf wenige Ausnahmen fast jeder Regierung angehört haben. Auch das jetzige Bündnis unter Benjamin Netanjahu stützt sich auf religiöse Partner. Sie tragen die Vorstellung vom Ende der Gewaltenteilung mit.
Das Rauchen in der Öffentlichkeit am Schabbat mag nicht zu den dringlichsten Problemen Israels zählen. Eine andere Frage aber doch: Bis heute besitzt das Land keine geschriebene Verfassung, sondern lediglich einzelne Grundgesetze. Eine Ursache dafür liegt in den Koalitionen zwischen Linken und Religiösen in den 1950er Jahren. Denn für Letztere kam als angestrebte Verfassung nur das Religionsgesetz in Frage. Das konnte die säkular eingestellte Linke ihnen nicht zubilligen.
Also blieb Israel ohne Verfassung – bis heute. Und deshalb stellt die nun geplante drastische Einschränkung der Macht des Obersten Gerichtshofs einen weitaus schärferen Bruch der Demokratie dar, als wenn man in Deutschland das Bundesverfassungsgericht abschaffen würde. Schließlich verfügt die Bundesrepublik über eine Verfassung.
Der neue Staat Israel war geboren, er widerstand den Angriffen der Nachbarn. Aber er war arm und schwach. Jeder Jude und jede Jüdin hat ein verbrieftes Recht darauf, in Israel zu leben. Mit der Gründung des Staates strömten Überlebende des Holocausts ins Land. Doch schon bald kamen nicht mehr nur Europäer.
In den arabischen Ländern wuchsen antijüdische Ressentiments, oft als Antizionismus verbrämt. Plünderungen und Pogrome gegen die dort lebenden Jüdinnen und Juden waren die Folge. Seit Ende der 1940er Jahre flohen Hunderttausende von ihnen nach Israel. Es entstand – abgesehen von Kriegen – die wohl schwerste Krise in der Geschichte des Landes. Der Staat stand vor der Zahlungsunfähigkeit, es gab keinen Wohnraum, zu wenig Nahrungsmittel.
Beginn des ethnischen Konflikts
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
„Wir müssen entweder die Einwanderung oder die Lebensmittel und Kleider rationieren“, erklärte die spätere Ministerpräsidentin Golda Meir in der Knesset. Man entschied sich für Letzteres. Zu israelischen Grundnahrungsmitteln avancierten die immer gleichen Fischkonserven, der Verkauf von Wurst wurde verboten.
Es war auch der Beginn eines ethnischen Konflikts. Viele der Einwanderer aus den arabischen Staaten vergessen bis heute nicht, wie sehr die Aschkenasim – also die europäischen Juden – sie, die Misrachim, von oben herab behandelten. Selbstverständlich litten auch die europäischen Juden unter der Not. Aber wer den Berichten der Einwanderer aus Arabien von damals zuhört, spürt ihre Verbitterung.
Viele mussten jahrelang in Zeltstädten oder Baracken leben, die neu erbauten Wohnungen in der Peripherie der Entwicklungsstädte waren winzig klein. Sie fühlten sich zu Bürgern zweiter Klasse degradiert. Spitzenjobs gingen nicht an sie. Die Elite des Landes kam aus den linken, aschenasisch geprägten Kibbuzim. Kein Wunder, dass viele Misrachim sich angesichts dessen den rechten Parteien zuwandten – obwohl deren Führer ebenfalls mehrheitlich aus Europa stammten.
Knapp 30 Jahre später, im Jahr 1977, verlor die Arbeitspartei erstmals ihre Mehrheit in der Knesset. Zum neuen Regierungschef wurde Menachem Begin, der alte Führer der Irgun und starke Mann des Likud. Ab da kam es nur zu kurzzeitigen Regierungen unter Führung der Arbeitspartei oder von Liberalen. Likud hat seinen Aufstieg auch der Unterstützung der Misrachim zu verdanken.
Seitdem sind neue Einwanderer nach Israel gekommen, Jüdinnen und Juden aus Äthiopien, aus der Sowjetunion und ihren Nachfolgestaaten und aus den USA. Die Gesellschaft hat sich gewandelt – weg von egalitären Vorstellungen hin zum Turbokapitalismus mit großem Reichtum und bitterer Armut, einer erfolgreichen Start-up-Szene in Herzlyia und Obdachlosen am Busbahnhof von Tel Aviv. Das Land ist weltweit führend in Biochemie und künstlicher Intelligenz. Kibbuzim sind out, Religion ist in. Aber einiges ist auch geblieben.
Heute, weitere 45 Jahre später, zählen die Misrachim und ihre Nachkommen zu den Stützen der Regierung Netanjahu, auch wenn selbstverständlich nicht alle von ihnen der Regierung folgen. Bei den Aktionen und Großdemonstrationen der Zivilgesellschaft gegen das Ende der Gewaltenteilung sehen Beobachter eine Dominanz der Aschkenasim.
Mit ihrem Meer an israelischen Flaggen machen sie deutlich, dass auch sie Patrioten für ihr Land sind. Die religiösen Gruppierungen folgen traditionell der Partei, die ihnen ein Höchstmaß an der Durchsetzung ihrer Partikularinteressen verspricht. Da haben sie mit Benjamin Netanjahu einen verlässlichen Partner gefunden.
Die israelische Gesellschaft ist 75 Jahre nach Gründung des Staats tiefer gespalten, als sie es 1948 war. Es geht heute um die Zukunft des Rechtsstaats. Und damit um die Verteidigung des Landes.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Bundestag bewilligt Rüstungsprojekte
Fürs Militär ist Kohle da
Stockender Absatz von E-Autos
Woran liegt es?
Kürzungen im Berliner Haushalt
Kultur vor dem Aus
Grüne über das Gezerre um Paragraf 218
„Absolut unüblich und respektlos“
BSW-Chefin im ZDF
Wagenknecht räumt Irrtum vor russischem Angriff ein
Erfolg gegen Eigenbedarfskündigungen
Gericht ebnet neue Wege für Mieter, sich zu wehren