70 Jahre „Spiegel“: Sturmgeschütz der Demokratie?
Der „Spiegel“ schwächelt – vor allem bei der investigativen Recherche. Um zu alter Stärke zurückzufinden, baut das Magazin um.
Eigentlich beginnt die Geschichte des Spiegels erst am 26. Oktober 1962. An jenem Freitagabend beschlagnahmten staatliche Ermittler 5,5 Millionen Blatt Papier und nahmen Redakteure fest. Der Vorwurf: Landesverrat. Unter der Schlagzeile „Bedingt abwehrbereit“ hatte das Magazin davor gewarnt, die Bundeswehr sei nicht ausreichend für einen atomaren Erstschlag der Sowjets gerüstet – Kritik an der Rüstungspolitik von Verteidigungsminister Franz Josef Strauß. Diese Spiegel-Affäre machte das Magazin über Nacht international bekannt, als „Sturmgeschütz der Demokratie“.
Heute, knapp 55 Jahre nach dieser Affäre und 70 Jahre nach dem Erscheinen der ersten Ausgabe des Spiegels, scheint der Begriff alles andere als opportun. Der Verlag hat zuletzt noch 790.000 Exemplare verkauft – ein Viertel weniger als noch vor knapp zwanzig Jahren. Der Spiegel darbt, mindestens finanziell. Als Antwort haben sich Verlags- und Redaktionsleitung eine „Agenda 2018“ verpasst. Neben dringend nötigen Experimenten verbergen sich dahinter vor allem massive Stellen- und Budgetkürzungen. Die Zielmarke: ein Minus von 15 Millionen Euro – pro Jahr. Verliert der Spiegel, der lange problemlos auch als Synonym für die investigative Recherche durchgegangen wäre, seine Kraft?
Der stellvertretende Chefredakteur Alfred Weinzierl, der Ende der achtziger Jahre von Auto Bild zum Spiegel kam, stellt sich mit Sätzen wie „Investigation ist und bleibt unser Markenkern“ gegen diese These. Ob Spiegel-Affäre oder der Skandal um die Flick’schen Parteispenden: es seien „immer die gleichen Geschichten aus mehreren Jahrzehnten, die für die große alte Zeit stehen sollen“. Am Ende seien es „heute wie damals vielleicht drei oder vier größere Geschichten im Jahr, die den Stempel 'investigativ’ wirklich verdienen“.
Derzeit ist solch eine Geschichte wieder zu bestaunen, nach der „Sommermärchen“-Affäre, mit der das Magazin die organisierte Fußballerschaft in die Krise stürzte: Unter dem Etikett „Football Leaks“ breitet das Magazin seit Wochen – perfekt choreografiert – das finanzielle Gebaren diverser Top-Fußballer, ihrer Berater und Vereine aus. In einem Film feiern sich die Redakteure: Über Monate haben sie – abgeschottet von der Redaktion – Terabytes an zugespieltem Material durchforstet. Die Inszenierung der Recherche wirkt wie eine Befreiung.
„Wir haben den Kollegen zugehört“
Bei anderen großen Enthüllungen sind Spiegel-Journalisten nur Zuschauer. Dass der anonyme Whistleblower mit seinen „Panama Papers“ zur Süddeutschen Zeitung (SZ) ging, war ein Schlag für die Hamburger Redaktion. Von „totaler Niedergeschlagenheit“ war redaktionsintern die Rede – auch wenn viele ihren SZ-Kollegen mit Einträgen in sozialen Netzwerken applaudierten. „Wenn die SZ mit den ‚Panama Papers‘ um die Ecke kommt, dann hinterlässt das bei uns Wirkung – Staunen und Respekt“, sagt Spiegel-Vize Weinzierl. „Und es wurmt uns und spornt uns an.“
Ansporn hat der Spiegel offensichtlich auch dringend gebraucht. Jedenfalls hatten Redakteure in einem internen Brandbrief gefordert, die Redaktion müsse sich endlich fit machen für den Umgang mit den investigativen Instrumenten der heutigen Zeit, also gigantischen Datenbergen von Whistleblowern und der sicheren Kommunikation – mit Informanten, aber auch untereinander. Es ging darum, in der Aktivistenszene bekannt und empfänglich für exklusive Stoffe zu werden. Weinzierl bestätigt, dass seine Redaktion etwa einst beim Bewältigen der Wikileaks-Unterlagen „noch nicht gut vorbereitet“ gewesen und auch bei der Verschlüsselung von E-Mails „nicht ausreichend aufgestellt“ war. Der stellvertretende Chefredakteur, der sich um die investigativen Großprojekte kümmert, sagt aber auch: „Wir haben den Kollegen zugehört, nehmen das ernst und werden da auch nicht mehr loslassen.“
So wie die SZ setzt inzwischen auch der Spiegel Spezialprogramme zur forensischen Datenanalyse ein. Außerdem hat er seine Leute im Verschlüsseln von E-Mails geschult. „Informanten, die sich an uns wenden, sollen die Gewissheit haben, dass sie bei uns in sicheren Händen sind“, sagt Weinzierl. Es wirkt wie ein Versprechen: Der Spiegel ist nun auch technisch auf der Höhe der Zeit.
Zuletzt kamen vor allem Autoren mit intellektuellem Profil
Mindestens genauso wichtig ist für investigative Recherchen heute aber auch der Anschluss an die globalisierte Welt und damit an andere Medienhäuser. Allein: Beim bedeutendsten Verbund, dem Journalistenkonsortium ICIJ mit Sitz in Washington, ist der Spiegel außen vor – und damit bei Recherchen wie „Offshore Leaks“, „Lux Leaks“ und „Panama Papers“, die allesamt in der Süddeutschen erschienen.
Einige Spiegel-Redakteure geben die Schuld dafür ihrem einstigen Chefredakteur Georg Mascolo. Er soll auf eine Anfrage des ICIJ nicht adäquat reagiert haben. Mascolo streitet das ab. ICIJ-Direktor Gerard Ryle berichtet nur, er habe den Spiegel 2012 – als Mascolo Teil der Spitze war – informell für ein Projekt angefragt. Ernsthafte Verhandlungen hätten sich daraus nie entwickelt. Auch Weinzierl bleibt vage, bestätigt zum ICIJ jedoch allgemein: „Diese Chance haben wir in der Tat verpasst – sicherlich aus einer Panne heraus und nicht mutwillig.“ Ein neuer Anlauf sei vergebens gewesen.
Aber auch hierauf hat der Spiegel reagiert. Mit der European Investigative Collaboration hat das Magazin seinen eigenen Verbund gestartet. Die „Football Leaks“ laufen über den hauseigenen Verbund dann auch in aller Welt.
Mascolo ist inzwischen selbst Mitglied des ICIJ – als Leiter der Recherchekooperation von NDR, WDR und SZ. Dort ist mittlerweile auch John Goetz, der für seine Teamrecherchen im Spiegel zum Bundeswehrangriff bei Kunduz in Afghanistan den Nannenpreis erhielt. Vor allem bei Steuerskandalen und Exklusivem zur Sicherheitspolitik macht der Verbund Schlagzeilen – zum Ärger des Spiegels. Der hat bei sogenannten weichen Geschichten aufgestockt: Kolumnen, Essays, Kommentaren. Zum Spiegel kamen zuletzt vor allem Autoren mit intellektuellem Profil: FAZ-Feuilletonchef Nils Minkmar und Volker Weidermann, Kulturchef der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung. Sie sind es, die die jüngere Personalpolitik des Nachrichtenmagazins prägen, nicht die Rechercheexperten.
Nun könnte man einwenden: Journalismus ändert sich. In einer Zeit, in der Onlinemedien das schnelle Nachrichtengeschäft erledigen, muss sich ein Wochenmagazin neu aufstellen. Dazu gehören auch die Analyse und der einordnende Kommentar. Nur bilden die eben nicht den Markenkern des Spiegels.
Auch in der Redaktion sehen das einige so. Unter den Rechercheuren beobachte man verwundert, dass seit Jahren vor allem das Schönschreiben belohnt werde: tolle erste Sätze, goldene Zitate, die schönen Geschichten.
Es ist eine Entwicklung, die sich schon lange abzeichnete. 1999 startete der Verlag Spiegel Reporter, ein Magazin für Reportagen, Essays, Interviews, geschrieben und geführt von brillanten Autoren. Es funktionierte nicht. Nach nur 18 Ausgaben wurde es 2001 eingestellt, die Reporter vom Mutterhaus übernommen, dort entstand das Ressort „Gesellschaft und Reportage“. Personell gehört es heute zwar eher zu den kleineren, dafür ist es das mit dem höchsten Anteil an Redakteuren mit besonderen Privilegien. Das zeigt der Innovationsbericht, den einige Mitarbeiter 2015 erstellt haben.
Atmende Investigativressorts
Andere Blätter bauen derweil den Bereich Investigation aus: Holger Stark, bislang US-Korrespondent beim Spiegel, wechselt zum Februar zur Zeit, um dort das Investigativteam zu leiten und zu vergrößern. „Auch unsere Leser haben einen Glaubwürdigkeitsanspruch entwickelt, wie wir ihn lange nicht kannten“, sagt Politikchef Bernd Ulrich, der das Investigative zusammen mit Stark voranbringen will.
Er selbst habe „ein besonderes Interesse an rekonstruktiver Investigation“: Die Zeit werde noch stärker versuchen herauszufinden, was wirklich geschehen ist, um der Mythenbildung vorzubeugen. „Heute legt sich ja praktisch über alles sofort ein Schleier von Postfaktizität, da ist die investigative Recherche ein wichtiges Instrument“, sagt Ulrich.
Der Politikchef will mit Stark das Konzept des „atmenden Investigativressorts“ leben: Ein Grundstock an Rechercheexperten soll das Investigative koordinieren, dann aber „von Recherche zu Recherche immer wieder neue Kollegen zusammenziehen – so viele es dafür auch brauchen mag, von zwei bis 20 Kollegen wird alles möglich sein“.
Beim Spiegel sind sie alarmiert – und arbeiten bereits nach demselben Modell. Startet eine Großrecherche, dann arbeiten die klassischen Ressorts zusammen – bei „Football Leaks“ etwa der Sport und die hauseigene Dokumentation, bei den jüngsten Enthüllungen aus dem Innenleben der Deutsche Bank Redakteure aus Wirtschaft und Gesellschaft. Diese Geschichten zeigen eben auch: Der Spiegel kann, wenn er will. Es muss ja nicht immer gleich das „Sturmgeschütz der Demokratie“ sein.
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