50. Todestag von Hannah Arendt: Es braucht Stolz für einen Platz am Tresen
Auch die Kneipe ist kein Reich der Freiheit mehr. Es braucht materielle Sicherheit, um seinen Platz dort zu finden. Das wusste schon Hannah Arendt.
I n der Adventszeit zieht es den, der sich gerne mal ein Kaltgetränk genehmigt, wieder vermehrt in stickige Kneipen, um dem nahenden nass-grauen Winter zu entfliehen und noch ein wenig menschliche Wärme zu erhaschen. So auch mich.
Letztens ereignete sich dann an der Theke etwas Überraschendes: Eine Frau, die ich sonst nur gekannt hatte, wie sie von Tisch zu Tisch lief und nach Kleingeld fragte, kam herein und eröffnete den anderen Gästen, dass sie nun einen Job und eine Wohnung habe.
Sie setzte sich, legte Geld auf den Tresen, bestellte ein Bier und begann, sich mit dem Wirt zu unterhalten. Ich schäme mich ein bisschen dafür, das zu schreiben, aber sie erschien mir in diesem Moment zum ersten Mal wirklich als Gästin – als Teil der Gemeinschaft.
Wenn ich mich jetzt daran erinnere, fällt mir eine Frage aus Hannah Arendts Essay „Die Freiheit, frei zu sein“ ein: Warum scheitern Revolutionen? Arendt, die vor fast genau 50 Jahren starb, würde sagen, weil sie, wie die Französische Revolution, von der Armut und dem „Problem des Hungers“ überrollt werden.
„Wesenskern“ der Freiheit
Was hat das nun mit der Kneipe zu tun? Für Arendt spielte der öffentliche Bereich eine besondere Rolle für unser Menschsein. Der Zugang zu ihm ist Voraussetzung dafür, dass wir uns an politischen Prozessen beteiligen können, was für Arendt nicht weniger als der „Wesenskern“ der Freiheit ist. Frei ist demnach nur, wer mit anderen in Austausch treten, über das Miteinander diskutieren und gemeinsam handeln kann.
Die Überwindung der Armut ist wiederum Bedingung dafür. Wer im Elend lebt, hat kaum Zeit, über Teilhabe nachzudenken – zu beschäftigt ist man damit, das tägliche Überleben zu sichern. Stabile Demokratie und politisches Handeln funktionieren nur, wenn Menschen nicht zuerst von Notwendigkeit, z. B. der Beschaffung von Essen, getrieben sind.
Nun dachte Arendt vermutlich nicht an schummrige Spelunken, wenn sie vom öffentlichen Raum sprach – gemeint waren vielmehr Parlamente, Medien, Versammlungen. Trotzdem lässt sich in der Kneipe im Kleinen beobachten, was es braucht, damit Menschen überhaupt anfangen, mit anderen zu sprechen. Ohne der Trinkgefährtin zu nahe treten zu wollen: Mir kam es ein wenig so vor, als sähe sie ihre Verkündung von Job und Wohnung ein bisschen als Ticket für einen Platz am Tresen.
Hier scheint es nicht nur um neu erlangte Zeit oder Geld zu gehen, sondern auch um das Selbstvertrauen, das damit einhergeht. Ein Selbstvertrauen, das armen Menschen in Zeiten von Grundsicherungssanktionen und Mietenwahnsinn meist verwehrt wird. „Ohne Stolz gibt es keine politischen Tugenden, und wer unglücklich ist, kann keinen Stolz haben“, zitiert Hannah Arendt den französischen Revolutionär Louis Antoine de Saint-Just.
So trivial das klingen mag, so groß können die Auswirkungen sein. Denn progressive Parteien und Bewegungen scheitern immer wieder daran, genau diesen Stolz anzubieten. Den Stolz auf die eigene Arbeit, die eigene Bedeutung für die Gesellschaft, nicht auf die Ethnie oder Nation.
Arendt interessierte sich in ihrer Argumentation zwar wenig für die Klassenfrage, hatte jedoch recht damit, dass politischer Neuanfang nur gelingen kann, wenn Armut überwunden und den Menschen ihre Würde zugestanden wird. Diese Erkenntnis ist auch heute noch, wie Arendt sie schon vor über einem halben Jahrhundert bezeichnet hatte, „beschämend aktuell“.
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