50 Jahre nach dem Putsch in Chile: Geister, die uns weiter umtreiben
Der Verfassungsprozess ist gescheitert. Ein Bruch mit dem Erbe der Pinochet-Zeit fehlt. Das stellt Chile bis heute vor große Unsicherheiten.
Als Gabriel Boric im Dezember 2021 zu Chiles neuem Präsidenten gewählt wurde, versprach er, die großen Probleme des Landes anzugehen: Sicherheit und öffentliche Ordnung unter Wahrung der Bürger*innenrechte. Zu der Reihe an Maßnahmen, die Boric vorstellte, gehörte auch die Neugründung der chilenischen Militärpolizei, den Carabineros.
Die Militärpolizei war seit Jahren kontinuierlich in die Kritik geraten: 2017 durch einen Korruptionsskandal und die massive Veruntreuung öffentlicher Gelder, später durch zahlreiche Menschenrechtsverletzungen gegen die indigenen Mapuche und schließlich auch gegen Demonstrierende bei der sozialen Revolte von 2019.
Mit einem Blick auf diese Zustände überrascht das Lob, das der Stabsleiter beim deutschen Bundeskriminalamtes (BKA), Sigurd Jäger, für die Carabineros übrig hatte. Jäger erklärte Anfang 2022 öffentlich, er habe einen „sehr positiven Eindruck“ von dieser Organisation, „gut strukturiert, qualifiziert, sehr professionell in diversen Bereichen“.
Anlass für Jägers Erklärung war eine Fortbildung zu organisierter Kriminalität, Drogenhandel und Cyberkriminalität, die im Januar 2022 in Chile stattfand. Die Zusammenarbeit deutscher und chilenischer Sicherheitsbehörden wurde noch unter dem rechten Vorgängerpräsidenten, Sebastián Piñera, beschlossen und im Jahr 2022 unter Präsident Boric verlängert.
Bedingungslose Rückendeckung für Gewalt der Carabineros
Der Text ist am 8. September 2023 als Teil einer achtseitigen Chile-Beilage in der taz erschienen. 50 Jahre ist es her, dass in Chile ein von den USA unterstützter Militärputsch am 11. September 1973 der demokratisch gewählten Regierung des Sozialisten Salvador Allende ein jähes Ende setzte. Mehr als 3.000 Menschen kamen während der folgenden Diktatur (1973 – 1990) ums Leben, noch mehr wurden inhaftiert, gefoltert und ins Exil getrieben. Die taz Panter Stiftung nimmt das Jubiläum zum Anlass, um zusammen mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung und unterstützt von der Stiftung Umverteilen an die damaligen Geschehnisse zu erinnern und zugleich zu fragen, wie die Ereignisse vor 50 Jahren die gesellschaftlichen Verhältnisse von heute beeinflussen. Einige Texte wurden auch auf Spanisch veröffentlicht.
Inzwischen sind keine Fortschritte zu verzeichnen. Statt einer Neugründung der Carabineros wird nun unter Boric eine „Reform“ der Institution angestrebt. Praktisch bedeutet das vor allem eine Stärkung: So flossen 2023 große Teile des riesigen Haushalts für Sicherheit und Ordnung – 4,4 Prozent mehr als 2022 – in die Töpfe der Carabineros.
Auch das kürzlich verabschiedete Gesetz zur „bevorzugten legitimen Verteidigung“, auch „Finger-am-Abzug-Gesetz“ genannt, ist als bedingungslose Rückendeckung für die Carabineros zu verstehen, auch wenn im Einsatz Menschen erschossen werden. Weil das Gesetz Sicherheitskräften juristische Immunität gewährt, stößt es bei zahlreichen Menschenrechtsorganisationen, Rechtsexpert*innen und Kriminolog*innen auf Ablehnung.
Der wichtigste Grund für die Kritik ist, dass das Gesetz in bestehende Rechtsnormen eingreift und die Ungleichheit vor dem Gesetz verankert: Einerseits erwarten Personen, die für Angriffe auf Polizist*innen und Militärs angeklagt sind, nun höhere Strafen. Andererseits sichert das Gesetz Sicherheitskräften institutionalisierte Straffreiheit oder Strafminderung zu, wenn sie im Rahmen ihrer Arbeit Waffen einsetzen. Diese Regelung ist den Rechtsnormen, von denen Verantwortliche für Menschenrechtsverletzungen in der Diktatur profitiert haben, sehr ähnlich.
Borics Regierung und die rechte Opposition haben sich außerdem darauf geeinigt, noch in diesem Jahr 31 weitere Gesetzesvorhaben zu Sicherheit und öffentlicher Ordnung zu verabschieden. Dazu zählen etwa die Gründung eines Sicherheitsministeriums sowie der Ausbau staatlicher Geheimdienste und Gefängnisse. Zu dem Maßnahmenpaket gehört auch die Verlängerung des Ausnahmezustands im Gebiet der Mapuche. Dieser war auf Borics Antrag hin vom chilenischen Kongress verhängt worden. Hatte sich Chiles Präsident früher geweigert, bewaffnete Handlungen von Mapuche-Gruppierungen als „terroristisch“ einzustufen, rechtfertigt er Monate nach Amtsantritt den Ausnahmezustand mit „Handlungen mit terroristischem Charakter“.
Boric schließt mehr Bündnisse als gedacht
Nun bestehen Teile der Opposition darauf, ähnliche Ausnahmeregelungen auch in anderen Regionen anzuwenden. So fordern sie die zusätzliche Stationierung von Militärs in weiteren Regionen im Süden und in den Grenzregionen im Norden des Landes, über die Migrant*innen nach Chile gelangen.
17 Jahre lang hat Chile unter Staatsterrorismus gelebt, angelehnt an die Nationale Sicherheitsdoktrin und Frankreichs Kolonialpolitik zur Aufstandsbekämpfung in Algerien. Die heutigen Sicherheitsstrategien und -debatten sind stark mit dieser Phase der chilenischen Geschichte verbunden, aber das wird von den Regierungen nicht thematisiert. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage: Wie konnte es zu dieser Kontinuität kommen?
Antworten auf diese Frage gibt es viele – und sie werden immer noch viel diskutiert. Dabei spielen politisch-institutionelle Fragen und die Stimmung in der Gesellschaft mit in die Debatte hinein. Auf politischer Ebene sind die aktuellen Kräfteverhältnisse im Kongress entscheidend, denn dort kann jede einschneidende Reform verhindert werden.
Aus Unerfahrenheit und in Ermangelung einer konstanten Regierungslinie sah sich Boric nach wenigen Monaten an der Regierung gezwungen, gegen die starke Opposition wieder mehr Bündnisse mit den Mitte-links-Kräften der Nachdiktaturzeit einzugehen – was die Möglichkeiten grundlegender Veränderung einschränkt.
Falsche Antworten auf die Forderungen von 2019
Noch schlimmer steht es im Verfassungsrat, der nach der überwältigenden Ablehnung des ersten Entwurfs nun mit der Ausarbeitung eines neuen Verfassungstextes beauftragt ist. Hier haben Rechte und Ultrarechte eine absolute Mehrheit, das Ergebnis könnte sogar noch schlimmer ausfallen als die derzeit geltende Verfassung aus Diktaturzeiten.
Auf gesellschaftlicher Ebene ist die Frage interessant, was zwischen der Revolte und der Ablehnung der neuen Verfassung passiert ist. Diese vier Jahre waren intensiv, rasend schnell und gleichzeitig so ereignisreich wie ein Jahrzehnt: Wir haben die einschneidende Revolte von 2019 und ihre Folgen erlebt; das Eingesperrtsein während der Pandemie unter einer rechten Regierung, die auf den Gesundheitsnotstand mit Sicherheitsmanagement reagierte, und einen Verfassungsprozess, der wichtige Debatten und einen fortschrittlichen Verfassungstext hervorbrachte. Dass dieser im Plebiszit von 2022 abgelehnt wurde, ist ein Ausdruck der Politikverdrossenheit, von der die Ultrarechte profitiert hat.
Entscheidend für diese Entwicklung war, wie das politische System 2019 auf die Forderungen von Millionen Chilen*innen während der Revolte reagiert hat. Statt die Rufe nach höheren Renten und Löhnen, nach besserer Gesundheit und Bildung zu hören, bot man eine neue Verfassung an. Doch damit ging es den Menschen nicht besser.
Das Gefühl der Unsicherheit wurde durch eine neue Art von Gewaltverbrechen verstärkt. Ein gefundenes Fressen für Konservative, die die Kriminalität sofort mit der angestiegenen Einwanderung nach Chile erklärten – obwohl längst bekannt ist, dass das eine nicht mit dem anderen zusammenhängt. Die Rechte hat es geschafft, statt der Verfassungsfrage das Thema Sicherheit auf die Agenda zu setzen – auch dank einer großen Medienkampagne. Progressive Kräfte mühten sich währenddessen damit ab, die wichtigen Themen des Verfassungsentwurfs sichtbar zu machen – erfolglos, ließ sich das in Umfragen prophezeite „Nein“ zum Entwurf doch nicht mehr umkehren.
Kontinuität von Repression und Straflosigkeit
Wenn man die Kontinuität repressiver Staatspraktiken langfristig verstehen will, gäbe es viele Aspekte zu beachten, meint die Strafverteidigerin Karinna Fernández. „Auf den wichtigsten Aspekt, der Repression und Menschenrechtsverletzungen abgesichert hat, weist [der argentinische Anwalt und Aktivist; Anm. d. Aut.] Juan Méndez seit den 1970er Jahren hin: Laut internationalem Menschenrecht stehen Staaten insbesondere in Übergangsphasen in der Pflicht, die Beteiligten und ihre Vollstrecker ihrer Ämter zu entheben. Nur so kann eine Gesellschaft zu Gerechtigkeit kommen,“ erklärt Fernández gegenüber der taz.
In Chile ist das nie passiert. Nach dem Ende der Diktatur blieb Pinochet General und wurde später Senator. Und er war damit nicht der Einzige. „Die Henker haben ihre Machtstellung behalten und sind immer noch eng mit der Elite, vor allem der wirtschaftlichen Elite, verbunden“, erklärt Fernández weiter. In der Phase des Staatsterrorismus haben sie aktiv an den wirtschaftlichen, sozialen, politischen und kulturellen Veränderungen mitgewirkt. Dazu gehört auch die Privatisierung staatlicher Ressourcen und Leistungen, die auf einem freien Markt die gesellschaftliche Ungleichheit noch verschärft und zur Bereicherung einiger weniger beigetragen hat.
Das sind die Grundlagen für die systemische Straflosigkeit in Chile. Und die wiederhole sich immer wieder, wie Fernández an einem Beispiel von 2012 erläutert: „Bei den großen Demonstrationen mit sozialen Forderungen in Aysén im Süden Chiles verlor einer von 10.000 Menschen in der Region infolge der Polizeirepression ein Auge.
Die Logik der Diktatur bleibt
Doch die Leiter dieser Polizeieinsätze wurden später befördert. Manche von ihnen hatten während der Repression, die den Protesten von 2019 folgte, Führungspositionen übernommen. Jetzt bekleiden sie Posten auf Landesebene.“ Einer von diesen Polizisten ist Ricardo Yañez, heute Generaldirektor der Carabineros. „Die Verbrechen wiederholen sich“, so der Anwalt.
Empfohlener externer Inhalt
Auch in der Zeit nach der Diktatur wurde angesichts fehlender Sozialpolitik Repression zur Systemstabilisierung eingesetzt. Das vorherrschende Verständnis von öffentlicher Ordnung und Sicherheit wurde nie kritisch hinterfragt. Dieselbe Logik der Diktatur wurde beibehalten. Im demokratischen Chile wurde laut dem Anwalt Silvio Cuneo stattdessen ein populistischer Bestrafungsdiskurs laut: Gefängnisse wurden zu einer Möglichkeit, Armut zu kontrollieren. So steht die wachsende Zahl von Gefängnissen heutzutage zum Beispiel in keinem Verhältnis zur Kriminalitätsrate.
In den vergangenen Jahren gab es keine Vorstöße, etwas an diesem Zustand zu ändern. Auch heute, nach der sozialen Revolte, mit der neuen Regierung von Boric und nach dem gescheiterten Verfassungsprozess, gibt es keine Aussicht auf Veränderung.
Aus dem Spanischen: Susanne Brust
Gloria Elgueta ist Menschenrechtsaktivistin und Schwester eines in der Diktatur verschwundenen politischen Gefangenen
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