Chile vor dem Verfassungsreferendum: Wahl zwischen Pest und Cholera

Chile stimmt erneut über einen Verfassungsentwurf ab, diesmal einen rechten. Scheitert er, bleibt die Verfassung aus der Pinochet-Diktatur bestehen.

Ein Junge mit einem Heft in der Hand

Ein Junge studiert die neue Verfassung vor dem Regierungspalast in Santiago Foto: Ivan Alvarado/reuters

SANTIAGO DE CHILE taz | Etwa ein Jahr nachdem die Menschen in Chile eine der sozialsten und ökologischsten Verfassungen der Welt abgelehnt haben, stimmt das Land am kommenden Sonntag über ein rechtsextremes Grundgesetz ab. „Dieser Verfassungsentwurf ist gefährlich und noch schlimmer als die aktuelle“, sagt Elisa Franco, Sprecherin der feministischen Organisation Coordinadora Feminista 8M zur taz.

Die aktuell gültige Verfassung stammt aus der Militärdiktatur und in ihr ist das neoliberale Modell verankert, das von Juntachef Augusto Pinochet unter brutaler Gewalt eingeführt wurde. Franco zufolge vertieft der neue Entwurf dieses Modell, das von sozialen Bewegungen in den vergangenen Jahrzehnten stark kritisiert worden ist. Wie ist es dazu gekommen?

Niedrige Löhne und Renten, das privatisierte Bildungs- und Gesundheitssystem, die Wut auf die Politik – das sind nur einige der Gründe, die in Chile 2019 und 2020 zu einem sozialen Aufstand geführt hatten. Als Reaktion auf den Druck von der Straße beschlossen Po­li­ti­ke­r*in­nen der damaligen rechten Regierung gemeinsam mit der Opposition, einen verfassungsgebenden Prozess einzuleiten.

Der erste Entwurf, den eine linksgeprägte demokratisch gewählte Versammlung ausarbeitete, enthielt Rechte für Frauen und Indigene, das Recht auf Abtreibung, die Rechte der Natur und sollte die öffentliche Daseinsvorsorge stärken. Aber der Entwurf wurde von über 60 Prozent der Wäh­le­r*in­nen abgelehnt.

Angst um die Rechte der Frauen

Der neue Verfassungsentwurf ist in etwa das komplette Gegenteil. Er wurde von einer Versammlung ausgearbeitet, in der die rechtsextreme Republikanische Partei die Mehrheit der Sitze hatte. Er besiegelt die Privatisierungen des Rentensystems und im Bildungs- und Gesundheitsbereich.

Die Unterfinanzierung des öffentlichen Bildungs- und Gesundheitswesens und die staatliche Subvention profitorientierter privater Kliniken und Schulen hat dazu geführt, dass der Zugang zu guter Bildung und Gesundheitsversorgung in Chile vom Einkommen abhängt. Diese soziale Ungleichheit würde sich mit dieser neuen Verfassung noch verstärken. Der Handlungsspielraum linker Politik wäre stark eingeschränkt – oder sogar verfassungswidrig.

Auch die Wasserprivatisierung würde durch dieses Grundgesetz beibehalten. Chile ist eines der wenigen Länder der Welt, in denen Wasser als Ware gehandelt wird – Nutzungsrechte können unabhängig vom Landbesitz gekauft und verkauft werden. Das hat dazu geführt, dass sich die Wassernutzungsrechte im Besitz weniger Agrarkonzerne konzentrieren, während ländliche Gemeinden unter Dürre leiden.

Während der Text, der im vergangenen Jahr abgelehnt wurde, eine feministische Handschrift trug, könnte der neue Entwurf die Rechte von Frauen* gefährden. Er enthält einen Artikel, der den „Schutz des Lebens der Ungeborenen“ garantiert. Dieser könnte als Abtreibungsverbot interpretiert werden, da das ungeborene Leben als „Person“ definiert wird. Selbst das strenge derzeitige Abtreibungsgesetz, das Schwangerschaftsabbrüche lediglich in drei Fällen erlaubt – nach einer Vergewaltigung, bei Lebensgefahr der Mutter und Lebensunfähigkeit des Fötus – könnte als verfassungswidrig erklärt werden. Feministische Organisationen wie die Coordinadora Feminista 8M rufen deshalb dazu auf, den Verfassungsentwurf abzulehnen.

Rechtes Wahlkampfthema: Kriminalität und Sicherheit

Die Parteien der Regierungskoalition von Präsident Gabriel Boric haben ebenfalls angekündigt, den Vorschlag abzulehnen. Boric warnte in einer Ansprache davor, „keinen Rückschritt bei Frauenrechten“ zu machen. Abgesehen davon hat er sich bisher aber nicht direkt zu dem Verfassungsentwurf geäußert. Das liegt wohl auch daran, dass eine klare Positionierung von ihm sich negativ auf das Ergebnis des Referendums auswirken könnte. Die Zustimmung für ihn lag Umfragen zufolge Anfang Dezember bei lediglich 33 Prozent. Grund für die negative Bewertung sind Korruptionsvorwürfe und der Anstieg der Kriminalität, für den viele die Regierung verantwortlich machen.

Zugenommen hat aber vor allem die Wahrnehmung der Kriminalität und Unsicherheit, die einer Studie des staatlichen Statistikinstituts zufolge im Dezember ein Rekordhoch von 90 Prozent erreichte. Verantwortlich dafür sind auch die privaten Fernseh- und Radiosender, die mit ihrer Berichterstattung ein Klima der Angst erzeugen. Rechte Parteien nutzen diese Situation aus. „Wähle die Verfassung der Sicherheit“, heißt es in den Wahlkampfvideos der Rechten. Und sie haben finanzielle Unterstützung: 99 Prozent der Wahlkampfspenden sind in rechte Parteien geflossen.

Der rechtsex­treme ehemalige Präsidentschaftskandidat José Antonio Kast verbreitet die Idee, dass das Verfassungsreferendum eine Bewertung der Regierung von Boric sei. „Das Beste für Chile ist ein Wandel, ein dringender Wechsel, der die Regierung dazu zwingt, ihre Arbeit zu machen“, sagt Kast in einem seiner Videos auf sozialen Netzwerken. Die Rechten könnten von der Enttäuschung und Unzufriedenheit der Menschen profitieren.

In der Wahlkampfdebatte geht es längst nicht mehr um den Inhalt der Verfassung, sondern um Emotionen und Ängste. In jüngsten Umfragen bekundeten mehr Wähler*innen, die Verfassung abzulehnen als ihr zuzustimmen, aber knapp 40 Prozent der Wäh­le­r*in­nen waren noch unentschlossen.

Wenn der Text angenommen wird, würde das den neoliberalen Kurs in Chile demokratisch legitimieren. Wenn er abgelehnt wird, bleibt die Verfassung der Diktatur bestehen. Diejenigen, die wie Elisa Franco bei den Protesten 2019 für soziale Gerechtigkeit gekämpft haben, werden noch lange auf Veränderungen warten müssen.

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