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5 Thesen zum UrlaubReisen wäre schön!

Edith Kresta
Kommentar von Edith Kresta

Ein Jahr dauert die Coronapandemie nun schon und wir hocken ständig zu Hause. Warum wir alle urlaubsreif sind.

Reisen am Besten mit dem Zug Foto: imago

1 . Weil Reisen das Gegenteil des Lockdowns verspricht

Klar kann man im Kopf reisen, Dokus über ferne Länder schauen. Schlimm ist es nicht, infolge von Seuchenschutzmaßnahmen vor überholt geglaubten Grenzen zu stehen oder ein Jahr zu Hause bleiben zu müssen. Aber das Reisen fehlt. Andere Kulturen, Gerüche, Gewohnheiten, andere Landschaften, andere Menschen, Sonne, Strand stimulieren unsere Sinne. Etwas ausprobieren, was man vorher so nie gemacht hat. Bewegungsfreiheit und intensive Körperlichkeit, Begegnungen. Genau danach sehnen wir uns in Zeiten des notwendigerweise geschrumpften Welt- und Bewegungsradius.

2. Weil Reisen die Augen öffnet

Der Tourismus hat den Erfahrungsraum der Menschen erweitert und Kontakte ermöglicht, die früher unvorstellbar gewesen wären. Der bundesrepublikanische Mief der 70er Jahre wurde erst durch den zu dieser Zeit aufkommenden Massentourismus nachhaltig durchlüftet. Olivenöl gesellte sich zu Butterschmalz. Doch nicht nur die deutsche Küche wurde durch Mittelmeerkost bereichert: Auch der Blick wurde erweitert, Fremdes erstmals auch positiv besetzt. Schon die Mindest­erkenntnis „Die sind ja fast wie wir“ erlaubte seinerzeit vielen Deutschen, sich erstmals auf Italiener oder Spanier einzulassen, die sie daheim im eigenen Land meist nur als Gastarbeiter wahrgenommen hatten.

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Und dann waren da auch noch all die Indienfahrer und Baghwanis auf Selbst- und Freiheitssuche. Auch wenn sie weder das Paradies noch Erleuchtung gefunden haben mögen, so betraten sie doch neue Ufer. Und wenn sie nicht auf einem Trip hängen geblieben sind, gelang ihnen womöglich der Schritt, sich selbst zu relativieren. Das wäre auch heute noch eine gute Reisetugend.

3. Weil Reisen zur Gewohnheit geworden ist

Reisen gehört zum Habitus der wohlhabenden Mittelschichten, weltweit. Sie finden an ausgewählten Orten des Planeten ihr besseres Zuhause: ob im Wellness-Resort, auf Kreuzfahrt, in der Zweitwohnung, auf Safari oder in der Partyzone. Es sind Reisende, die soziologisch, etwa von Andreas Reckwitz, in der neuen urbanen und kosmopolitisch orientierten Mittelschicht verortet werden. Und diese nutze „Globalität in allen ihren Facetten als eine Ressource für die Entwicklung des Ich“.

Wer exzessiv reist, gilt automatisch als weltoffen, wer sich überall auf der Welt zu Hause wähnt, gilt selbstverständlich als Kosmopolit. In diesen Kreisen, also auch unseren, gilt die Urlaubsreise, die es so erst seit rund 60 Jahren gibt, längst als eine Art Menschenrecht und nicht als ein vergleichsweise spät errungenes Privileg der Priviligierten.

4. Weil Reisen für viele Menschen und ­Regionen wichtig ist

Ja, der Tourismus hat Landschaften ruiniert. Aber er hat auch moderne Infrastrukturen befördert. Er hat sich zum Teil penetrant in traditionellen Lebensräumen ausgebreitet, aber er hat auch die dort bestehenden traditionellen Herrschafts- und Machtstrukturen angefressen. Etwa, indem er geregelte Arbeits­verhältnisse und Emanzipationsprozesse für Frauen ermöglicht und befördert hat – die meisten Jobs in der Branche werden von Frauen ausgeübt, wenn auch häufig zu prekären Bedingungen.

Der Tourismus ist heute ein unverzichtbarer Eckpfeiler der Volkswirtschaften vieler Länder und verhindert Armut. Die Fliegerei ist ein Klimakiller, aber ohne Mobilität gibt es keine Internationalität und keine Weltgesellschaft.

5. Weil zu Hause bleiben auf Dauer auch keine Lösung ist

Reisen ist das neue Rauchen: in Verruf geraten als süchtig machendes Konsumgut und Klimakiller. Flugscham sollte angesichts der Klimakrise jeden erröten lassen, der dreimal im Jahr nur so zur Abwechslung eine Fernreise bucht. Klimaverantwortung wäre ein notwendiger Paradigmenwechsel, auch beim Reisen. Länger, intensiver, weniger empfehlen tourismuskritische Portale für Fernreisen.

Eine neue Reisekultur wäre dringend geboten. Wenn aktuelle Stimmen zum Coronalockdown wie die des Historikers Valentin Groebner, des Soziologen Hartmut Rosa oder des Philosophen Richard David Precht im aktuellen Stillstand auch einen überfälligen Bruch sehen, drücken sie damit ihr Unbehagen an der ex­tre­men Beschleunigung auch im Tourismus aus. Der ausufernde Warencharakter des Tourismus ist im überschwappenden Overtourism unübersehbar. Man muss nicht überall gewesen sein.

Von Verzichtsaposteln und Reisemuffeln wird immer wieder Kant zitiert, der die Welt durchdrungen hat, ohne Königsberg je verlassen zu haben. Ein Lob seiner Intelligenz und Belesenheit. Aber nicht jeder findet in diesen protestantischen Tugenden die Erfüllung. Dank des Lockdowns könnten wir gegen die entgrenzte Reisesucht allerdings Entwöhnung und neue Formen der Weltläufigkeit einüben, ohne diese aufzugeben.

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Edith Kresta
Redakteurin
Schwerpunkte: Reise und Interkulturelles. Alttazzlerin mit Gang durch die Institutionen als Nachrichtenredakteurin, Korrespondentin und Seitenverantwortliche. Politologin und Germanistin mit immer noch großer Lust am Reisen.
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15 Kommentare

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  • Wie im Artikel schon angeklungen, ist Reisen keine Gewohnheit für die vielenMenschen, auch in Deutschland, die sich das nicht leisten können.



    Sollte msn nicht gerade in der TAZ auch an die denken?



    Der Artikel kommt etwas elitär daher.



    Wer nicht genug Geld hat, braucht auch keine Abwechslung, nech?

  • Aufgefallen als Auslandsdeutschem ist mir die Gleichartigkeit der „Argumente“ – auch in Schweden reist man gerne nach Thailand – sicher (für uns) und billig. Meine schwedische Partnerin ist da eher Ausnahme wenn sie sagt, dass es so schön sei, mich nicht vom Reisen in die Türkei, Ägypten o.ä. abbringen zu müssen. Für sie galt: wir fahren nicht in Länder ohne Demokratie/ Rechtsstaatlichkeit. Für mich galt bis zur Klimakrise: Wenn die Bereisten (Menschen) nicht die Möglichkeit haben, zu mir zu kommen, dann sollte ich auch nicht zu ihnen. Die Ökokrise der 80/90-ziger hinterließ: Reisen drainiert die Ressourcen der Bereisten. Die Klimakrise hinterließ: Je reicher der Mensch desto größer der Fußabdruck … wendet man eine Klassenperspektive an muss man auch feststellen, dass Reisen die Gesellschaft spaltet weil sie das Prekariat ausschließt! Machen wir taz Leser*innen im Jahr 2040 eine Mond- oder Marsreise, nur weil wir Weltenbürger sein und unseren Horizont erweitern wollen?

    Tipps: Bewegungsfreiheit und ungeplante Begegnungen gibt es z.Z. eher weniger, aber hier hilft eine angepasste Sicht auf Wellness: verwöhne dich selbst – jetzt mal ohne der Anderen Mithilfe/ Ausbeutung. Und die Augen lassen sich öffnen durch virtuelles Reisen, zu den Bereisten und nicht den Veranstaltern - eine Übung in Solidarität.

  • Früher hieß es mal, Reisen bildet. Da gackern ja die Hühner! Eingepfercht auf dem Kreuzfahrtriesen werden zahlungswillige durch vermeintlich typische Basare, Märkte etc. gescheucht um Chinamüll zu kaufen. Auf Island zertrampeln diese Horden den extrem empfindlichen Boden, Einheimische haben nichts von diesen Touristen, es wird nur geguckt, "warum soll ich hier Essen und Trinken, das habe doch auf dem Schiff viel billiger"! Oder Kurzurlauber in der Türkei, kleine Läden, Restaurants sind pleite, Dank all you can eat und Billigessen im Hotel. Statt sich auf Einheimische einzulassen, wird sich über die RussInnen aufgeregt, in anderen Ländern über EngländerInnen oder JapanerInnen, ChinesInnen, etc. pp.. Urlaube werden oft nur noch zum konsumieren genutzt, Ex und hopp!



    Kurzurlaube sind die Pest, sie gehen zu Lasten der Umwelt, der Einheimischen und der Infrastruktur der Länder und müssen endlich das kosten, was sie wirklich kosten.

  • Fragliche Einstellung, dient der Selbstentlastung:

    Zitat: "Die Fliegerei ist ein Klimakiller, aber ohne Mobilität gibt es keine Internationalität und keine Weltgesellschaft." Ja, aber Mobilität geht auch ohne Fliegerei, Internationalität und Weltgesellschaft geht auch mit deutlich weniger Reisestrecken.

    Zitat: "Flugscham sollte angesichts der Klimakrise jeden erröten lassen, der dreimal im Jahr nur so zur Abwechslung eine Fernreise bucht."



    Und auch bei einer Fernreise alle drei Jahre, und zwar egal ob "nur zur Abwechslung" oder "aus guten Grund wie [bitte einsetzen]".

  • Wir sollen reisen, ... "Weil Reisen zur Gewohnheit geworden ist"

    Selbst mit dem Rastertunnelmikroskop kann ich hier kein Fitzelchen eines Arguments erkennen.

    Gewohnheit war schon vieles, auch sehr unerfreuliches, und manchmal ist es an der Zeit, alte Zöpfe abzuschneiden. Vor dem Hintergrund der ganz realen Klimakatastrophe sollten wir alle eine Nummer zurückschalten.

    Wer "exzessiv reist", mag manchen "automatisch als weltoffen" gelten, anderen als ein Hedonist, dem Umwelt und Mitmenschen egal sind.

  • "Weil zu Hause bleiben auf Dauer auch keine Lösung ist"

    Richtig. Deshalb haben viele erst gar kein "zuhause".

    Ja, klar. Auch ich kann die Sehnsucht verstehen. Momentan ist's mir aus finanziellen Gründen eh' verwehrt, lockdown hin oder her. Aber ich habe immerhin ein Zuhause, was viele eben nicht haben.

    Ich denke, es müsste viel passieren, bis "das Reisen" nicht die dystopischen Züge annimmt, die @HAMANN zu recht zeichnet:

    - die andere Seite von Reisen ist Gastfreundschaft. Wer gerne reist müsste mindestens genauso gerne fremde Menschen bei sich aufnehmen können.

    - Respekt und Grosszügigkeit: wer woanders ist sollte sich auch darauf einlassen. Rudimente der Sprache (nicht nur der gesprochenen!) gehören dazu.

    Ich sehe Massentourismus genauso wie @HAMANN.

  • Massentourismus ist nichts anderes als neokoloniale Ausbeutung. Es verdienen daran globale Tourismusplayer - aber immerhin dürfen die all-inclusive Kunden den einheimischen Boy herumschubsen, der für ein Hungergeld den Drink an den Pool schafft. Der tunesische Olivenbauer kann gar nicht soviel Tiefbrunnen für seine Olivenbäume bohren, wie Wasser für den Kunden am Pool benötigt werden, auch verdient der Einheimische nix an der endgültigen Zementifizierung von Küsten. Selbst inneneuropäisch reicht es dem Einheimischen langsam, wenn der Kunde die Innenstädte zu Saufwüsten für die geschundenen Arbeitnehmer im Norden macht , ist das Leben doch schwer, da brauchst den rituellen Exzess zum Ausgleich; beliebt ist auch der Kreuzfahrtkunde, der die Hafenanwohner mit Schwefelabgasen im Wohnzimmer beglückt. Ja, der industrielle Massentourismus bildet 'interkulturell' ganz ungemein. Denn auch Herr Müller darf jetzt sagen: Also 'der Araber' ist ja zurückgeblieben, ich hab mal Urlaub auf Djerba gekauft... Auch die Fernreise trägt zur Völkerverständigung und interkulturelle Bildung breiter privilegierter Urlaubskreise ungemein bei - besonders schätzt der Kunde die 'asiatische Frau' (gerne auch minderjährig). Sehr aufgeregt und richtig wütend wird der interkulturell dermassen Gebildete aber, wenn der Dienstleistungsboy an seinen Grenzen steht und auch mobil sein will. Dann soll der Boy lieber in seiner 'Heimat' bleiben und weiterhin bedienen. Wer zahlt, schafft schliesslich an.

    • @hamann:

      Die Sex Pistols haben das mal schön auf den Punk/t gebracht:



      „A cheap holiday in other people's misery!



      I don't wanna holiday in the sun



      I wanna go to new Belsen



      I wanna see some history



      'Cause now I got a reasonable economy“

    • @hamann:

      Sehr richtig. Und diesem Typus von Wohlstandstourist kann man nur mit Geld kommen. Dann gibt's halt keinen 5-Sterne-Urlaub mehr für 399€. Und wer wirklich nur 399€ übrig hat, wird auch bescheidener urlauben konnen, das geht schon.

    • @hamann:

      Geil! Guter Kommentar. Sie brauchen eine Kolumne...

  • Ist das so schlimm, mal ein Jahr nicht zu verreisen? Es ging im letzten Jahr auch (so lala), und im Jahr davor und da auch wieder davor. Haben wir das jetzt nicht schon oft genug gemacht, um mal pausieren zu können?

  • @Fly: Der Artikel stand bei mir direkt unter dem Beitrag über den UN-Zwischenbericht zum Paris-Abkommen: taz.de/UN-Zwischen...Abkommen/!5752250/. Wenn schon eine Zeitung, die sich explizit als ökologisch versteht, derartige Beiträge bringt, dann sieht es bei den übrigen Medien düster aus.

  • Danke für das klare Bekenntnis für den Klimawandel.

    Nicht, dass alle Punkte nicht richtig wären.

    Aber es ist genau dieser Lebenstil "Weil Reisen zur Gewohnheit geworden ist", der für die erhöhten CO2 Emissionen verantwortlich ist. Auch eine Ökoreise oder eine Flugkompensation werden das nicht ausgleichen.

    Eine Reduktion wird nicht klappen (die ganze Debatte um E-Autos, Tempolimit etc, sind doch nur Augenwischerei). Das Individuum hat sich halt an viele Annehmlichkeiten gewöhnt.

    • @fly:

      Autos und (Fern-) Reisen sind doch in der Regel gar keine Annehmlichkeiten, das anzunehmen ist lediglich Folge erfolgreicher Konditionierung.

    • @fly:

      @FLY:



      Problem erkannt. Und wenn "Gewöhnung" die Ursache für das Problem ist, dann muss diese eben abgeschafft bzw. geändert werden. Früher™ waren es die Leute auch mal gewöhnt, den Nachttopf aus dem Fenster zu entleeren. Macht heuter kaum noch jemand.