30 Jahre Friedliche Revolution: „Ich war nie das Volk“
Tupoka Ogette wurde in Leipzig geboren. Ab ihrem achten Lebensjahr lebte sie in Westberlin. Ein Gespräch über Revolution, Rassismus und lautes Singen.
taz: Frau Ogette, Sie wurden 1980 in Leipzig geboren. Sprechen Sie von sich selbst als Ostdeutsche?
Tupoka Ogette: Eigentlich nie. Für mich ist das Ostdeutsch-Sein etwas, was ich in bestimmten Situationen raushole. Wenn ich als Anti-Rassismus-Trainerin im Osten unterwegs bin, kann ich damit eine Verbindung herstellen. Ich kann sagen, Ihr kennt doch Diskriminierung, und so ähnlich fühlt es sich für Schwarze Menschen an, rassistisch behandelt zu werden.
Ist es eine von mehreren möglichen Identität für Sie?
Auf jeden Fall! Für meine Mutter, die weiße Deutsche ist und mit mir 1988 ausgewandert ist, war das oft Thema. Sie musste sich fragen: Oute ich mich? Hat das Nachteile? Wie werde ich gelesen? Als Regime-Kritische oder als Teil der Stasi? Für meine Mutter und andere ist das wichtig. Bei mir persönlich hat das Schwarz-Sein das Ostdeutsch-Sein immer überlagert.
Sie sind mit acht Jahren nach Westberlin gekommen. Wie war das für Sie?
Meine Mutter hatte einen Ausreiseantrag gestellt und es war nicht klar, wann der genehmigt wird. Also haben sie mir davon nichts erzählt. Ich bin irgendwann von der Schule gekommen und dann hieß es plötzlich: So, pack jetzt deine Sachen, wir gehen. Ich musste alles hinter mir lassen.
Tupoka Ogette wurde 1980 als Tochter einer deutschen Mutter und eines tansanischen Vaters in Leipzig geboren. Mit acht Jahren reiste ihre Mutter mit ihr nach West-Berlin aus. Sie arbeitet als Expertin für Vielfalt und Antidiskriminierung. Sie hat das Buch "Exit Racism" geschrieben, in dem sie zeigt, wie Menschen lernen können, rassismuskritisch zu denken. In ihrem Podcast "Tupodcast" spricht sie mit Schwarzen Frauen.
Wohin ist Ihre Mutter mit Ihnen gegangen?
Zu ihrer Freundin in ein besetztes Haus. Von so einer Ost-Idylle mit Großmutter und geregelten Essenszeiten in die Hausbesetzerszene! Für mich war das so ein Schock, dass ich ein Jahr lang nicht mehr geredet habe.
Wissen Sie heute, warum das so war?
Was mir die Sprache verschlagen hat, war Berlin, diese Riesenstadt. Da waren viele verschiedene Menschen. Da waren Punks, da war Hundescheiße, da war Kreuzberg, da waren die Drogen. Da wusste ich nicht, was ich dazu sagen soll. Meine Mutter musste arbeiten, es gab keinen Hort, ich war viel allein.
Waren Sie in der DDR weniger allein?
In einem Workshop sollte ich mal ein Wort benennen, was meine Kindheit beschreibt. Da ist mir das Wort „Einsamkeit“ eingefallen. Meine Familie hat mich sehr geliebt. Aber außerhalb der Familie habe ich im Osten krasse Erfahrungen mit dem Schwarz-Sein gemacht. Ich wurde ständig geandert, also als die Andere, die Fremde gekennzeichnet, die Lehrerin hat mich mit dem N-Wort beschimpft, ich wurde als chinesischer Rotarschaffe durch die Straßen gejagt. Aber wenn ich das thematisiert habe, wurde das relativiert, aus Angst.
Tupoka Ogette, Diversity-Trainerin
Wer hatte Angst und wovor?
Das ist so eine Reaktion von Erwachsenen: Oh Gott, was erlebt das Kind? Das können wir nicht einordnen, also sagen wir, das ist nicht so schlimm. Oder: Hast du dich nicht verhört? Ich war so einsam mit diesem Thema. Und als ich dann im Westen war, blieb Einsamkeit ein Riesen-Thema, weil ich da tatsächlich oft alleine war. Wir haben in Kreuzberg gelebt und da waren viele Menschen mit türkischem Kontext. Da hatte ich ein Gefühl der Nähe, aber gleichzeitig das Gefühl, die haben schon sich. Heute kann ich das ausdrücken: Die hatten gleiche Codes, Sprachen und kulturellen Bezüge. Ich wollte damals auch gern Türkisch sprechen können und ich habe mir manchmal Handtücher über den Kopf gelegt.
Gab es das Wort Rassismus in der DDR?
In meiner Kindheit nicht. Das Wort Rassismus habe ich kennengelernt, als ich in einer Berliner Bibliothek Bücher über die Apartheid in Südafrika gelesen habe. Meine richtige Politisierung hat im Studium angefangen. In Leipzig habe ich Afrikanistik studiert, dort bin ich mit anderen Schwarze Menschen das erste Mal auf ein Afro-Treffen gegangen. Da fing es an. Das Wort Rassismus habe ich davor ganz lange nicht auf mich übertragen.
Und wie haben Sie sich als Kind erklärt, was mit Ihnen passiert ist?
Ich war überzeugt, dass ich zu wehleidig bin. Ich hatte starke Neurodermitis, ich habe viel gekränkelt, ich dachte, ich habe zu viele Gefühle.
Wie war das für Sie, kein Wort für Rassismus zu haben?
Wir sind mal mit der Schulklasse durch einen Wald gelaufen und die Lehrerin hat uns erzählt, dass Schwarze Männer am Rande des Weges sitzen und Kinder fangen. Wahrscheinlich, damit wir nicht in den Wald rennen. Es war gruselig, ich bin zusammengezuckt und sie hat gesagt: Boah, guck mal, haha, der N., der erschreckt sich.
Wie haben Sie reagiert?
Ich habe in diesen Momenten das Gefühl gehabt, mit mir ist etwas nicht okay. Wieso bin ich die Einzige, die sich erschreckt? Warum findet das niemand sonst schlimm? Für mich war es eine Befreiung, dieses Wort „Rassismus“ kennenzulernen, mit Anfang 20. Und zugleich hat das in mir voll die Wut losgetreten.
Konnten Sie in der DDR mit niemandem darüber sprechen?
Mein Vater war Student aus Tansania, er musste das Land wieder verlassen. Aber ich habe meiner Mutter Sachen erzählt. Gleichzeitig wollte ich sie schützen, ich wollte nicht, dass sie traurig wird. Das machen Kinder oft, gerade wenn sie alleine mit ihrer Mama sind. Es war nicht das mangelnde Vertrauen. Es gab krasse Szenen, wo sie dabei war, da war sie im Kampfmodus. Aber ich wollte nicht, dass sie sich in Gefahr begibt. Ich habe ihr und meiner Großmutter vieles erst in den letzten Jahren erzählt.
Wie ist Ihre Großmutter mit Ihren rassistischen Erfahrungen umgegangen?
Sie liebt mich über alles. Wir haben bis heute eine ganz enge Verbindung. Aber ihre Strategie war, zu schweigen. Sie sagt heute: Ich wollte das nicht so groß machen, es nicht in den Mittelpunkt rücken.
Wie hat sich das konkret geäußert?
Wenn ich erzählt habe: Du, da hat gerade auf dem Spielplatz ein Vater zu mir gesagt, ich stinke wie ein N., dann hat sie zu mir gesagt: Du hast dich bestimmt verhört. Und das war aus ihrer Perspektive gut gemeint. Sie hat sich ohnmächtig gefühlt. Aber für mich war der Effekt: Mit mir ist etwas komisch. Oder ich habe mich verhört. Ich habe angefangen, an mir zu zweifeln.
Sind Menschen im Osten direkter und brutaler beim Verwenden des N-Wortes?
Der Begriff wird in Ostdeutschland ritualisierter und normalisierter benutzt. Nicht immer mit der Intention, zu verletzen, anders als im Westen. Da wurde das eher bewusst eingesetzt, um mich zu entwürdigen. So habe ich das wahrgenommen.
Wie war es mit der beschworenen Solidarität mit den afrikanischen Bruderstaaten in der DDR. Hat Ihnen die geholfen?
Mein Vater war Teil dieser afrikanischen Eliten, die eingeladen wurden und die afrikanische Brüder waren. Es war aber klar, wo der Bruder hingehört und wer oben ist und wer unten. Es war auch klar, dass das politische Indoktrination ist. Mein Vater hat immer gesagt, er ist Schwarz und nicht rot, er war kein Kommunist.
Tupoka Ogette, Diversity-Trainerin
Konnten Sie mit ihm als Kind über Rassismus reden?
Briefe hätten ewig gedauert, an telefonieren war nicht zu denken. Diese Gespräche führen wir jetzt erst. Vor 12 Jahren habe ich ihn wieder in Tansania besucht und da war ich in einer Wutphase. Ich habe ihm Vorwürfe gemacht: Warum hast du mich alleingelassen? Du warst der Einzige, der so aussah wie ich. Dabei wusste ich, er musste gehen.
Was hat er gesagt?
Er hat mir von schwierigen Erfahrungen erzählt. Diesen Schmerz, dass er mich dalassen musste, den hat er oft überlagert mit schönen Erinnerungen. Es ist für ihn schwer auszuhalten, wenn ich ihm sage, dass es für mich schwer war. Deswegen habe ich irgendwann nicht mehr so gepusht. Aber auf meine Arbeit heute ist er unglaublich stolz.
In der DDR war es schwierig, über Rechtsextreme zu reden, weil der Faschismus offiziell als besiegt galt. Galt das für Rassismus auch?
Für unsere Familie war klar: Der Staat lügt und der Staat sperrt uns ein und deswegen dürfen wir nicht reisen und deswegen dürfen wir nicht meinen Vater sehen. Meine Mutter hat das mir als großes Geheimnis anvertraut: Wir sind gegen den Staat.
Wie sind Sie damit umgegangen?
Wenn ich zum Flötenunterricht gegangen bin und an diesem einen Parteihaus vorbeimusste, habe ich immer ganz laut „Pioniere voran, lass uns vorwärtsgehen“ gesungen. Damit keiner unser Geheimnis bemerkt. Aber als Kind wollte ich nicht anecken. Ich wollte nicht noch etwas haben, was mich anders macht.
Sagen Sie eigentlich „Mauerfall“, „Wende“ oder „Revolution“?
Ich habe das gar nicht gelabelt. Es war einfach eine aufregende und spannende Zeit. Am Tag, als die Mauer fiel, habe ich auf der Mauer oben getanzt.
Stört es Sie, dass auch 30 Jahre danach fast nur weiße Geschichten erzählt werden?
Auf jeden Fall! Ich spüre deshalb einen Trotz dieser ostdeutschen Identität gegenüber. Je näher ich an Leipzig komme, desto verletzlicher werde ich. Ich werde immer noch überall geandert. Wenn ich in dem Haus bin, wo meine Großmutter seit 60 Jahren lebt, dann gucken mich die Leute dort an, als wollen sie mich gerade in Deutschland begrüßen. Dabei kenne ich dieses Haus viel länger als sie. Auch bei der Wende hatte ich nie das Gefühl, dass ich das Recht habe, mich da zu freuen, weil ich in diesem Kampf nicht mitgedacht wurde. Dieses „wir“ in „Wir sind das Volk“ – ich war nie das Volk.
Und wie verfolgen Sie jetzt die ganzen Debatten über Rechtsextremismus und Rassismus im Osten?
Diese Frage habe ich befürchtet. Wenn ich als Schwarze deutsche Frau Rassismus thematisiere, mache ich mich bei einigen Menschen unbeliebt. Das macht mich verletzlich und angreifbar. Wenn ich mir jetzt noch die „Ost-Identität“ dazuhole, das macht mir Angst.
Warum Angst?
Einerseits ist es so: Wenn ich in den Osten fahre, habe ich physisch in vielen Gegenden mehr Angst, als wenn ich in den Westen fahre. Gleichzeitig weiß ich, dass im Osten viele Menschen leben – Schwarze Menschen, People of Color und weiße Menschen –, die tagtäglich gegen die Zuschreibung kämpfen, dass der Osten rechts ist. Ich möchte diese Menschen nicht „verraten“, ihnen kein Unrecht tun. Meine Großmutter geht mit 80 Jahren auf Anti-Nazi-Demos. Dazu kommt, dass das Sprechen über Rassismus in den Räumen im Osten schwieriger ist.
Inwiefern?
Es wird einfach nicht gesprochen. In einem Gespräch habe ich mal meine Großmutter gefragt: Wie kannst du es vereinbaren, dass du mit Menschen Zeit verbringst, die AfD wählen? Die kennst du seit 60 Jahren und die kennen mich, seit ich klein bin. Die wählen doch gegen meine Menschlichkeit, gegen die Menschlichkeit deiner Kinder, Enkelkinder und Ur-Enkelkinder. Wie schaffst du das?
Und was hat sie geantwortet?
Sie hat gesagt: Im Osten waren wir alle nicht zufrieden mit dem Regime. Das hat uns verbunden. Dann fiel die Mauer und wir haben angefangen, uns alle zu streiten. Die einen gingen zur PDS, die anderen zu den Grünen. Manche gingen, andere blieben. Sie hatten so essenzielle Streits, sie sind fast zerbrochen als Freunde. Dann haben sie irgendwann die bewusste Entscheidung getroffen: Wir sprechen nicht mehr über Politik. Deswegen sitze ich heute halt bei Familienfeiern Menschen gegenüber, von denen ich weiß, dass sie AfD wählen.
Und thematisieren Sie das dann?
Mein Gesprächsangebot gilt allen Menschen, die sich als nicht rassistisch positionieren, aber wie wir alle rassistisch sozialisiert sind und die das verlernen möchten. Mein Gesprächsangebot gilt nicht für Menschen, mit denen ich über meine Menschlichkeit verhandeln muss. Im Osten gibt es auch oft so ein kollektives Gefühl von „Jetzt kommt wieder Osten und Rassismus“, das wird schnell explosiv, die Abwehr ist groß. Da bin ich vorsichtig.
Finden Sie es potenziell gefährlich, über eine ostdeutsche Identität zu reden?
Nein, ich finde es interessant. Die DDR gab es geschichtlich gesehen nicht so lange, und wie schnell innerhalb von so kurzer Zeit eine Identität wachsen kann, das ist doch krass! Wie schnell Identitäten geschaffen werden und verloren gehen können. Der Staat, in dem ich geboren wurde, den gibt es nicht mehr, trotzdem gibt es einen gemeinsamen kulturellen Kodex, eine gemeinsame Sprache und so weiter. Aber klar, ein Wir-Gefühl hat immer auch etwas Schwieriges. Die Frage ist: Wer ist denn „wir“? Und worüber identifiziert sich dieses „wir“? Das definiert sich ja immer über Abweichung. Dieses Wir ist sehr fragil. Und je fragiler das ist, desto machtvoller ist dieses Verlangen danach, andere auszugrenzen. So passiert es gerade im Osten. Es gibt dieses Gefühl von „wir wurden irgendwie vergessen“.
Aber das stimmt in gewisser Weise auch. An Universitäten gibt es keine ostdeutschen Rektor*innen, der Osten ist die Werkbank Westdeutschlands, dort wird kaum geerbt. Eine Ost-Identität gibt auch den Raum, solche Unterschiede zu benennen.
Ich finde es sehr wichtig, Missstände zu benennen. Aber wenn larmoyantes Gruppen-Geningel in Rassismus umschlägt, dann wird es gefährlich.
Wird es nicht immer als Jammern disqualifiziert, wenn sich eine Minderheit beschwert?
Man muss das, was schiefläuft, sichtbar machen. Aber wenn man das nur kann, indem man andere runtermacht und indem man sein Leiden über das von allen anderen stellt, das ist gefährlich und falsch. Wenn ein ostdeutscher Mensch weniger Rente bekommt, dann ist das unfair. Aber die Schlussfolgerung darf nicht lauten: Das ist so, weil wir zu viele geflüchtete Menschen haben. Das ist absurd.
Werden Sie sich künftig häufiger bei Diskussionen zu Ostdeutschland zu Wort melden?
Nein. Es ist kein Thema, welches ich beruflich bearbeite und zu welchem ich mich zukünftig nochmals öffentlich äußern werde. In diesem Sinne ist dieses Interview einzigartig.
Sie haben als Kind den Sozialismus, wie es ihn gab, miterlebt. Und heute sagen einige Linke: Wenn es Sozialismus gäbe, dann würde es auch keinen Rassismus geben. Was halten Sie davon?
Ich lebe im Hier und Jetzt und nicht in einer diskriminierungsfreien Utopie. In dem sozialistischen Kontext, den ich erlebt habe, gab es grausamen Rassismus. In jetzigen kapitalistischen Kontexten gibt es auch grausamen Rassismus. Ich habe irgendwie keine Zeit für diese theoretische Frage.
Kann die Sehnsucht eine Strategie von Linken sein, den Rassismus von sich wegzuschieben, ihn quasi nach außen in die Wirtschafts- und Gesellschaftsform zu verlagern?
Ja, und gleichzeitig auch für sich zu behaupten: Wir sind die, die Rassismus irgendwie bearbeiten. Ich bin viel in linken Kreisen unterwegs. Ich werde oft eingeladen, weil die sagen, das ist unser Thema. Aber da sitzt der Rassismus genauso dick und fett wie in allen anderen Kontexten auch. Aber die Grundhaltung ist oft: Wir sind nicht ganz so schlimm wie die anderen Weißen. Das finde ich arrogant und nicht hilfreich.
Wenn Sie als Antirassismus-Trainerin unterwegs sind, gibt es da Unterschiede zwischen Ost und West?
Je nachdem, wer vor mir steht, kann ich unterschiedliche Bezüge herstellen. Einer ostdeutschen Person kann ich sagen, Schwarze Menschen und People of Color erleben hier bestimme Dinge, das ist ein bisschen so, wie wenn du in Westdeutschland bist. Vor Westdeutschen arbeite ich eher mit Vergleichen zum Sexismus und sage zum Beispiel: Die Frauen im Raum, ihr wisst, wie das ist, wenn ihr in einem männlich dominierten Kontext seid. Wie fühlt sich das an? Welche Strategien habt ihr? Wie geht es euch damit?
Funktioniert das?
Wenn ich mich in Räume begebe, wo mehrheitlich weiße Menschen sitzen und ich über Rassismus spreche, muss ich damit rechnen, dass Abwehr aufkommt. Dann habe ich verschiedene Strategien, um damit umzugehen. Eine ist eben, zu gucken, an welchen Stellen haben Menschen irgendeine Art von Diskriminierung erlebt, die institutionell wirkt. Ich versuche darüber, einen Zugang zu schaffen. Das funktioniert nicht immer, aber immer öfter.
Kann man denn Ostdeutschsein überhaupt mit Rassismuserfahrungen vergleichen?
Rassismus ist etwas, was seit vielen Jahrhunderten wirkt, im Osten genauso wie im Westen, das hat eine ganz andere Dimension. Aber um gefühlsmäßig einen Zugang legen zu können, finde ich es hilfreich, dass sich Menschen an Momente erinnern, wo sie eine Hilflosigkeit gespürt haben aufgrund einer Kategorie, die sie sich selbst nicht ausgesucht haben. Ich erzähle dann auch zum Beispiel, dass mein Großvater Professor der Mathematik war, aber nicht die gleiche Rente bekommt wie ein Westprofessor, obwohl er genauso lange gearbeitet hat. Ich mache das einfach, um bestimmte Mechanismen klarzumachen.
Sie haben gesagt, dass sie bei den Workshops immer mit Abwehr rechnen müssen. Wie anstrengend ist das?
Diese Arbeit ist bereichernd, ich möchte keine andere machen. Aber sie ist auch kräftezehrend. Ich habe diese Arbeit begonnen, weil ich so eine immense Wut hatte, dass meine Kinder Erfahrungen machen, die ich auch schon gemacht habe. Ich wollte die Wut in etwas Positives, Produktives umwandeln. Ich habe dann mit diesen Workshops angefangen und gemerkt, ich habe ein gutes Gespür für Menschen und einen guten Draht für Gruppendynamiken. Ich liebe die Momente, in denen die Kluft zwischen zwei Individuen für einen Moment ein bisschen kleiner wird und wir uns wieder in unserer Menschlichkeit begegnen.
Was ist das Kräftezehrende an Ihrem Job?
Die Arbeit fordert auch einen hohen Preis: Ich gehe da rein ohne viel Schutz, um selbst auch authentisch zu sein. Ich stelle mich hin und halte alle Emotionen aus, die aufkommen: nicht nur Abwehr, auch Trauer und Ohnmacht. Deswegen mache ich die Workshops nicht mehr allein, sondern zusammen mit meinem Mann
Haben Sie eine Supervison?
Ja, seit kurzem arbeiten wir mit der Psychologin Stephanie Cuff, die Supervision mit uns als Familie macht. Für mich ist die größte Baustelle das Thema „Rassismus und Schule“. Das Absurdeste dieser Welt ist, dass ich diese Workshops mache und die Lehrer*innen gucken mich an und sagen: Rassismus? Den gibt es vielleicht in ihrem Buch, aber nicht hier an unserer Schule. Ihr Kind ist einfach zu empfindlich. Das ist so unfassbar. Ich kann das doch nicht alles machen und dann hilft es meinem eigenen Kind nicht. Das ist so paradox. Das sind Momente, wo ich das Gefühl habe, ich breche.
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