20 Jahre Nagelbombenanschlag in Köln: Ein Staat entschuldigt sich
2004 zündete der NSU in der Kölner Keupstraße eine Nagelbombe. 20 Jahre später sind Schmerz und Enttäuschung Teil des Gedenkens.
Ein Sprengstoff-Fehlalarm hatte Steinmeiers Rede um mehr als eine Stunde verzögert. Auch Nordrhein-Westfalens CDU-Regierungschef Hendrik Wüst (CDU) war am Sonntag in der Keupstraße. Er hatte die Betroffenen schon am Samstag in einem Gastbeitrag im Kölner Stadt-Anzeiger und in der türkischen Zeitung Hürriyet um Entschuldigung gebeten. Sie seien „fälschlicherweise selbst ins Visier der Ermittlungen“ geraten und Opfer von „Vorverurteilung und Diffamierung“ geworden.
Denn mörderisch war nicht nur die in einem Koffer versteckte, auf einem Fahrrad befestigte Bombe, die die Neonazis Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt am 9. Juni 2004 in der Keupstraße platzierten. Sie war mit 5,5 Kilo Sprengstoff und 800 etwa 10 Zentimeter langen Zimmermannsnägeln gefüllt, die möglichst viele Menschen verletzen sollten. Um 15.56 Uhr, mitten in der Hauptgeschäftszeit der durch Dutzende türkische Restaurants, Bäckereien, Juweliere, Friseure, Reisebüros geprägten Straße, betätigten die Terroristen den ferngesteuerten Zünder. 22 Menschen wurden verletzt, vier schwer.
Was dem Neonaziattentat folgte, war ein massives Behördenversagen. In Richtung rechtsextremen Terrors wurde nicht ermittelt. Stattdessen nahm die Polizei die migrantische Community selbst ins Visier, vermutete etwa einen Racheakt, Streit unter Drogenhändlern oder Schutzgelderpressung als Motiv.
Massives Behördenversagen
„Die Erkenntnisse, die unsere Sicherheitsbehörden bisher gewonnen haben, deuten nicht auf einen terroristischen Hintergrund, sondern auf ein kriminelles Milieu“, erklärte der damalige Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) schon einen Tag nach dem Anschlag. Einen Teil der politischen Verantwortung für die völlig fehlgeleiteten Ermittlungen übernahm Schily erst 2013 vor dem NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestags.
Sichtbar wurde dieses Behördenversagen, das auch der NSU-Prozess und der Untersuchungsausschuss des Bundestags nicht vollständig aufarbeiten konnten, erst 2011 mit dem spektakulären Ende des NSU: Am Schluss ihrer Terrorserie, die zehn Menschenleben forderte, begingen Mundlos und Böhnhardt nach einem gescheiterten Raubüberfall Suizid. Mittäterin Beate Zschäpe sprengte die letzte konspirative Wohnung in Zwickau in die Luft. Im Schutt fanden sich zynische Bekennervideos.
Vorausgegangen waren sieben Jahre der Täter-Opfer-Umkehr: „Wir standen unter dem Generalverdacht, dass wir alle kriminell sind“, erinnert sich Meral Sahin, Sprecherin der Interessengemeinschaft Keupstraße. „Als wir Hilfe brauchten, waren wir allein“, sagt die heute 53-Jährige, die bei der Explosion der Bombe 100 Meter entfernt war. „Ich selbst habe sofort nach dem Anschlag gedacht, dass die Täter nur Rechtsradikale sein können.“
20 Jahre nach dem Terror haben nun am Wochenende Tausende mit dem Gedenkfest Birlikte an den menschenverachtenden Anschlag erinnert. „Zusammen“ und „gemeinsam“ bedeutet das. Doch der Schmerz, die Enttäuschung über die Gleichgültigkeit und das Misstrauen, womit die weiße Mehrheitsgesellschaft auf den Neonaziterror reagierten, spiegelten sich auch im Birlikte-Programm. Neben Musik von Klezmer bis Rock erinnerten Theater, Lesungen, Diskussionen immer wieder an Diskriminierung und Rassismus.
„Nicht mehr sicher“
Beim Publikumsgespräch „Vergessen ist keine Option“ etwa sprachen Semiya Şimşek und Gamze Kubaşık, Töchter der vom NSU in Nürnberg und Dortmund ermordeten Enver Şimşek und Mehmet Kubaşık, über die Ignoranz und Faschbeschuldigungen, womit die Ermittelnden die NSU-Opfer in der ganzen Bundesrepublik überzogen.
„So einen Tag wie den 9. Juni 2004 vergisst man sein Leben lang nicht“, erklärte in der Talkrunde „Kollektive Traumata und ihre Bewältigung“ der Psychologe Ali Kemal Gün. Schon die mörderischen Brandanschläge auf türkischstämmige Familien in Mölln und Solingen 1992 und 1993 hätten die Community in einen „kollektiven Zustand der Angst“ versetzt. „Es verbreitete sich das Gefühl: Wir sind in Deutschland nicht mehr sicher“, sagte Gün, der auch Integrationsbeauftragter des Landschaftsverbands Rheinland ist.
In Köln habe das Vorgehen der Polizei zusätzlich noch zu einer Retraumatisierung nicht nur der Anwohner:innen der Keupstraße geführt, analysierte der Psychologe: „Jeder konnte verdächtig sein“, beschrieb Gün die Taktik der Ermittler – und klagte: „Teilweise wurden die Menschen zwischen 2 und 4 Uhr nachts zu Verhören geholt.“
Tatsächlich sind die Kriminalisierung, die Stigmatisierung bis heute spürbar. „Die Menschen haben jahrelang geschwiegen, weil sie Repressionen, Verhöre durch die Polizei fürchteten“, sagt der Rapper Kutlu Yurtseven von der Kölner Microphone Mafia. Wie viele misstraut der Rapper, der mit der Holocaustüberlebenden Esther Bejarano durch Deutschland getourt ist, der offiziellen Erzählung über den NSU.
Eine weitere Verhöhnung
Ali Kemal Gün, Psychologe
Yurtseven erinnert an die noch immer nicht vollständig ermittelten Hintermänner, die rund 40 V-Leute, die sieben Sicherheitsbehörden im Umfeld der Rechtsextremen platziert hatten, an die vom Verfassungsschutz geschredderten Akten. Heute kämpft Yurtseven mit der Initiative Herkesin Meydanı – Platz für alle – für einen Erinnerungsort, der am Eingang der Keupstraße an den mörderischen Anschlag erinnern soll.
Den Bau eines Mahnmals hat der Stadtrat schon 2014 beschlossen – doch entstanden ist es bis heute, 20 Jahre nach dem Terror, nicht. Eine weitere Verhöhnung, eine „nachträgliche Erniedrigung“ der gesamten migrantischen Community sei das, findet nicht nur Yurtseven.
Lange habe eine erste Investorengruppe den Bau des Mahnmals verhindert, erklärt der Berliner Künstler Ulf Aminde, dessen Entwurf für einen interaktiven Gedächtnisort sich schon 2016 durchsetzte. Jetzt solle ausgerechnet der als Erinnerungsort ausgewählte Platz am Eingang der Keupstraße, mit direktem Blick auf den Ort des Attentats als Einfahrt einer Großbaustelle dienen. „Deshalb ist weiter völlig unklar, wann das Mahnmal gebaut wird“, sagt Aminde ernüchtert. „Das ist definitiv ein Skandal.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Interner Zwist bei Springer
Musk spaltet die „Welt“
Nach dem Anschlag von Magdeburg
Wenn Warnungen verhallen
Deutsche Konjunkturflaute
Schwarze Nullkommanull
Kaputte Untersee-Datenkabel in Ostsee
Marineaufgebot gegen Saboteure
BSW-Anfrage zu Renten
16 Millionen Arbeitnehmern droht Rente unter 1.200 Euro
HTS als Terrorvereinigung
Verhaftung von Abu Mohammad al-Jolani?