1.200 km Flucht vor Corona auf dem Rad: Das Löwenherzmädchen
Wegen des Lockdowns konnten sie in der Stadt nicht überleben. Jyoti fuhr mit dem Rad und ihrem Vater hinten drauf sieben Tage zurück in ihr Dorf.
„Ich hatte keine andere Wahl“, sagt Paswan. Da in Indien wegen des Coronavirus seit Ende März strenge Ausgangsbeschränkungen gelten und deshalb keine öffentlichen Verkehrsmittel fahren, schwingt sie sich auf ihr neues pinkes Damenrad mit Körbchen. Es war eine Investition: Umgerechnet 20 Dollar hat es gekostet.
Auf dem Gepäckträger sitzt ihr verletzter Vater Mohan Paswan, der vor einem Unfall als Rikschafahrer arbeitete. Normalerweise unterstützt er mit dieser Tätigkeit den Rest der Familie, der im Dorf geblieben ist. Doch ohne Arbeit und Unterstützung haben die beiden während der Coronapandemie keine Chance, in Gurgaon zu überleben. Der Vermieter drohte, sie rauszuwerfen. So wie Vater und Tochter geht es derzeit vielen Menschen in Indien: viele haben ihre Jobs verloren, können die Miete nicht mehr zahlen, sich nicht genügend zu essen kaufen. Hunderttausende Arbeitsmigranten versuchen, aus den Städten zurück in ihre Dörfer zu gelangen.
In der Tat schaffen es Jyoti Kumari Paswan und ihr Vater bis in ihr Heimatdorf Darbhanga im nordindischen Bundesstaat Bihar. Abgesehen von einer kurzen Fahrt auf einem Lastwagen radelte sie jeden Tag 160 Kilometer. Unterwegs leiht sie sich Handys, um ihrer Mutter am Telefon zu versichern, dass schon alles gut werde. Und es wurde gut. Indische wie internationale Medien feiern sie nach geglückter Heimkehr als „Löwenherzmädchen“ – dabei war es ihr Überlebensinstinkt, der sie dazu gebracht hat und massive Lücken im Sozialsystem.
Zahlreiche Angebote
Als Reaktion auf ihre ungewöhnliche Reise bekommt sie zahlreiche Angebote: Der indische Radsportverband will sie zum Test für das Nationalteam einladen, inklusive Zugfahrkarte nach Delhi. Eine Schule möchte der Schulabbrecherin eine weitere Chance geben. In der Tat wären das Möglichkeiten, der Armut zu entkommen – vorausgesetzt, Paswan akzeptiert nicht nur, sondern besteht auch. Was wir aber nicht wissen, ist, wie viele Menschen in den letzten zwei Monaten unbemerkt Ähnliches geleistet haben.
Der Zufall wollte, dass zumindest Jyoti Kumari Paswan entdeckt wird – und hoffentlich nicht nur für einen kurzen Moment als Vorbild für ihren Kampfgeist hochgehalten wird. Viele Sporttalente in Indien wurden schließlich durch Zufall entdeckt. Vielleicht endet so die Geschichte von Jyoti Kumari Paswan? Oder schließt sie die Schule ab? Zu wünschen wäre ihr beides. Eine indische Bank übergab ihr zumindest schon mal umgerechnet 365 Euro und bot an, ihre Ausbildung zu finanzieren.
Nun ist die Familie aber erst einmal wieder vereint und Paswan erholt sich von den Strapazen in der zweiwöchigen häuslichen Quarantäne.
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Macrons Krisengipfel
Und Trump lacht sich eins
Maßnahmenkatalog vor der Bundestagswahl
Grünen-Spitze will „Bildungswende“
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
USA und Russland besetzen ihre Botschaften wieder regulär
Frieden in der Ukraine
Europa ist falsch aufgestellt
Die Neuen in der Linkspartei
Jung, links und entschlossen
Gentrifizierung in Großstädten
Meckern auf hohem Niveau