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100. Todestag Lenins in RusslandLebendiger als die Lebenden

Kommentar von Alexander Friedmann

Vor 100 Jahren ist Lenin gestorben. In der russischen Erinnerungspolitik spielt er fast keine Rolle mehr. Warum ist das so?

Keine Liebe für den Genossen: Ein Demonstrant zerreißt ein Lenin-Plakat auf einer Demo in Moskau 1990 Foto: Alexander Zemlianichenko/AP

V or genau 100 Jahren starb Wladimir Lenin. In der UdSSR war er omnipräsent. Seine Bilder hingen in sämtlichen Schulklassen; Straßen und Plätze, Betriebe und Hochschulen wurden nach ihm benannt. Der „Anführer des Weltproletariats“ galt als Vorbild, gar als „bester Mensch auf der Welt“. Das pompöse Mausoleum mit seiner Mumie auf dem Moskauer Roten Platz spiegelte den nahezu grenzenlosen Lenin-Kult wider.

Selbst Michail Gorbatschow hat 1985 im Rahmen seiner Perestroikapolitik zunächst die Parole „Zurück zu Lenin“ ausgegeben. Seine Reformen machten eine kritische Auseinandersetzung mit Lenin möglich. Man reflektierte den „roten Terror“ und bolschewistische Verbrechen. Lenins antirussische Ressentiments wurden thematisiert. Auch die im Westen längst bekannte Tatsache, dass Lenins Rückkehr aus dem Schweizer Exil nach Russland und der anschließende bolschewistische Umsturz von Berlin ermöglicht und finanziert wurden, beschädigten seinen Ruf. Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus galt Lenin zunächst als Unperson, seine Beerdigung schien nur eine Frage der Zeit zu sein.

Sowohl Jelzin als auch Putin hielten und halten nicht viel von Lenin. Putin wirft dem „westlich geprägten Fanatiker“ die Zerstörung des Zarenreiches vor, die Gründung der verhassten Ukraine und Verbindungen mit dem Kaiserreich in Deutschland. Die Beerdigung der Leiche hat er jedoch nicht riskiert. Denn es sind vor allem ältere Menschen – seine Wäh­le­r*in­nen – die gegen die Beerdigung sind. Putin will außerdem nicht, dass sein Umgang mit Lenin mit der Ukraine und mit dem Baltikum in Verbindung gebracht wird, wo Lenin verhasst und abgelehnt wird.

Nach einer neuesten russischen Umfrage bewerten 47 Prozent Lenin positiv und lediglich 15 Prozent negativ. Eine Mehrheit unterstützt zwar grundsätzlich seine Beerdigung, sieht jedoch darin keine Eile.

Der tote Lenin hat somit gute Chancen, die heutige russische Führung im Mausoleum zu überleben. Er ist, wie der sowjetische Dichter Wladimir Majakowski vor 100 Jahren betonte, „auch jetzt lebendiger als alle Lebenden“.

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15 Kommentare

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  • Es war nie Lenins Vorstellung, ein sozialistisches Paradies auf Erden zu errichten, weder in ganz Russland noch weltweit. Seine Vorstellung von der Zukunft kam in seinem "Dekret über den Roten Terror" klar zum Ausdruck; er war ein Theoretiker und Praktiker der absoluten Macht, die er gnadenlos durchzusetzen versuchte. Der einzige Unterschied zu Stalin bestand darin, dass er sich als der führende Kopf eines kleinen Kollektivs, einer auserlesenen Führungsmannschaft von Bolschewiki sah, während Stalin alles für sich selbst beanspruchte und die übrigen Mitglieder der Führung gnadenlos liquidieren ließ, um seine eigenen willfährigen Speichellecker einzusetzen, von denen niemand ihm zu widersprechen oder auch nur das geringste Zeichen des Missfallens zu äußern wagte. Der Stalinismus war die folgerichtige Konsequenz des Leninismus, nicht ihr Antagonismus.

  • Brechts "Fragen eines lesenden Arbeiters" - hatte Lenin beim Oktoberputsch keinen Koch dabei? Die Fixierung auf Personen macht auch vor der taz samt Leserschaft nicht halt. Die heute oft hervorgehobene Februarrevolution in Russland 1917 war alles andere als 'sanft', es entlud sich vor allem der Hass der im Zarenreich Gequälten und Erniedrigten auf Adel, Offiziere und Oberschicht. Ohne diese Vorgeschichte lässt sich die von beiden Seiten im Bürgerkrieg ausgeübte Barbarei nur unzureichend erklären. Und eine weitere historische Erfahrung befeuerte den Vernichtungswillen im russischen Klassenkampf: Die nach Niederschlagung der Pariser Kommune 1871 von den Siegern verübte Massakern an Tausenden in den Pariser Arbeitervierteln brannte sich in das Gedächtnis aller Revolutionäre ein. Daher tanzte Lenin auf der Strasse, als man einen Tag länger an der Macht war, als die Kommunarden.



    Die alte Mär von Lenin als Deutschlands Agenten. Lenin ging es um die Macht in Russland, dazu akzeptierte er die Unterstützung der Reaktionäre in Berlin. Er setzte auf die folgende Weltrevolution. Insofern war er alles andere als käuflich - genauso wenig wie seine Parteigänger. Fatal wären allerdings die Folgen gewesen, hätten Ludendorff und Co gesiegt, denn Imperiale Vorstellungen für den deutschen 'Osten' existierten schon vor Hitlers NS-Vernichtungskrieg (Liulevicius: Kriegsland im Osten). Sie hätten, wie in der Ukraine, deutsche Vasallen eingesetzt.



    Wichtiger als die Reduzierung historischer Kritik an Personen wie Lenin, Stalin, Mussolini, Hitler bis Pol Pot sind die im Rahmen des Umsturzes entstehenden neu/alten Eliten, die die dies zur Karriere nutzten und nach dem Untergang der Systeme alles auf 'den Führer' schoben (siehe Görtemaker: Hitlers Hofstaat).

    • 6G
      665119 (Profil gelöscht)
      @Philippe Ressing:

      Klar, Einzelpersonen und Menschen generell zählen nicht, nur Klassen, Produktivkräfte und das Erlösungsgeschwurbel eines Rauschebarts von vor 200 Jahren.

      Wegen Erschießungsquoten, Entkulakisierung oder Arbeitslagern herumzuweinen wäre bourgeoise Sentimentalität. Der erleuchtete Führer/Vorsitzende macht das auch nicht gerne, aber er hat halt den Lauf der Geschichte im Blick.

      Drecksideologie. Weg damit.

  • 6G
    665119 (Profil gelöscht)

    Stalin war die logische Weiterentwicklung von Lenin. Wäre Lenin nicht gestorben, er hätte sich notwendigerweise zu einem Stalin entwickeln müssen, um in dem System zynischer Rechtlosigkeit und Gewalt die Oberhand zu behalten, oder er wäre gestürzt worden.

  • Lenin war mit seinen Kadern im Schweizer Exil 1917 für das deutsche Kaiserreich dessen Geheimdienste als Teil der Achsenmächte Akteure im 1. Weltkrieg 1914-1918 gegen die Entente Mächte das, was Bin Laden mit Al Quaida für die USA, die CIA im Kampf gegen die UdSSR nach deren Invasion von Afghanistan 1979-1989 war in Richtung Ostblock Implosion. Lenin wurde von Berlin finanziert, über Finnland mit Waffen ausgestattet, das russische Zarenreich nach dessen Auflösung durch die bürgerliche Kerensky Regierungsmachtübernahme unter Festhalten an der Entente Forstsetzung Krieges durch Revolution aus der Entente zu brechen, auf Biegen und Brechen zulasten russischer Interessen mit Berlin den Brest-Litowsk Diktatfrieden 18. Januar 1918 abzuschließen, Reparationsleistungen an deutsches Kaiserreich zuzustimmen, die Russland nach der Oktoberrevolution, die zum Bürgerkrieg ausuferte, finanziert von ausländischen Mächten aufseiten „Weißer Armee“, begleitet von Massensterben durch Hungernöte, nicht zu erfüllen vermochte. Worauf kaiserlich deutsche Heere große Teile der Ukraine, gesamtes Baltikum besetzten zum deutschen Militär-Oberost Distrikt Regime erklärten unter Kommando Generalquartiermeisters Erich Ludendorff OKH, Zwangsarbeiterlager einrichteten, dem Gebiet unkontrolliert Getreide, Kohle, Rohstoffe zugunsten kaiserliche Heere entzogen. Dadurch weitere Hungersnöte, Massensterben, angesichts medizinisch unterversorgter Bevölkerung während verdeckt grassierend sog Spanischer Grippe vor allem in der Ukraine auslösten.

    • @Joachim Petrick:

      Bin Laden spielte für die CIA keine Rolle, seine Rolle in Afghanistan war generell beschränkt. Es kam sowieso das meiste Geld von islamischen Stiftungen, gefolgt von islamischen Staaten.

  • Vielleicht hat Putin den Platz im Mausoleum ja schon für sich reserviert.

    Das wäre dann allerdings (ziemlich sicher) auch nur befristet, denn:

    Alle Götter waren unsterblich.



    (Stanislaw Jerzy Lec)

  • Lenin und Stalin beide ein Fleisch gewordener Alptraum für die Menschen der ehem. Sowjetrepubliken.

    Lenin nahm für die Erreichung seiner Ziele den Bürgerkrieg billigend in Kauf, mit rund 10 Millionen Toten und der andere Stalin ließ alle, die nicht ans rote Paradies glauben wollten, umbringen, deportieren, umerziehen oder als Kollektivstrafe verhungern. Was wohl nochmal um die 10 Millionen Menschen entsprechen dürfte.

    Beide verdienen keine Denkmäler, nur Mahnmäler!

  • Verstehe den Titel nicht ganz. Immerhin bewerten "Nach einer neuesten russischen Umfrage 47 Prozent Lenin positiv "???? Er SPIELT also eine Rolle, oder nich?

  • Er rührte an den Schlaf der Welt (Lenin)



    Text: Johannes R. Becher; Musik: Hanns Eisler



    LENIN

    Er rührte an den Schlaf der Welt



    Mit Worten, die Blitze waren.



    Sie kamen auf Schienen und Flüssen daher



    Durch alle Länder gefahren

    Er rührte an den Schlaf der Welt



    Mit Worten, die wurden Brot,



    Und Lenins Worte wurden Armeen



    Gegen die Hungersnot.

    Er rührte an den Schlaf der Welt



    Mit Worten, die wurden Maschinen,



    Wurden Traktoren, wurden Häuser,



    Bohrtürme und Minen –

    Wurden Elektrizität,



    Hämmern in den Betrieben,



    Stehen, unauslöschbare Schrift,



    In allen Herzen geschrieben.

    Text: Johannes R. Becher (1929)



    Musik: Hanns Eisler (1953)

    (Stalin begann sein Wüten nach Lenins Tod.)

    • @Trabantus:

      Zum Schließen Ihrer Wissenslücke, kurz und knapp:



      www.bpb.de/kurz-kn...des-roten-terrors/

      • @Barbara Falk:

        Der rote Terror war bekanntlich die Antwort auf den weißen Terror. Lesen Sie dazu den Aufruf Lenins zum Kampf gegen Denikin und machen Sie sich kundig über den zu Recht erfolglosen Kampf der Mächte der Entente.

      • @Barbara Falk:

        Und hier ist auch von Machtergreifung die Rede, was besser passt als Revolution, die war nämlich bereits erfolgreich, der Zar war beseitigt.

    • @Trabantus:

      Lenin war ein Massenmörder und ein brutaler Soziopath.

      Dass Stalin noch brutaler und soziophatisch war macht es um keinen Deut besser.

    • @Trabantus:

      Lenin hat, natürlich nicht wie Stalin, selbst mehr als genug gewütet. Gemordet, gefoltert, verschleppt.