10 Jahre „Wir schaffen das!“: Willkommen in der Traum(a)stadt
Das Jubiläum ist unserem Kolumnisten Anlass, daran zu erinnern, dass seit Sommer 2015 mit den Geflüchteten auch traumatisierte Menschen zu uns kommen.

H appy Birthday, „Wir schaffen das!“ Angela Merkels Satz feiert Zehnjähriges. Für die einen ist er gut gealtert, für die anderen immer noch eine Unverschämtheit. Für mich ist das Jubiläum Anlass, an etwas anderes zu erinnern: Seit dem Sommer 2015 kommen mit den Geflüchteten auch traumatisierte Menschen zu uns.
Sie sind natürlich nicht die ersten ihrer Art. Vor ihnen kam, zum Beispiel, meine Familie aus Kabul. Davor kamen sogenannte Gastarbeiter, die für ganz eigene Erfahrungen von Entwurzelung und Ausgrenzung stehen. Und davor? Mauerbau, Vertreibung, Weltkriege und Shoah. Heute stapeln sich in Berlin alte und neue Traumata: Verelendung, Wohnungslosigkeit und sexuelle Gewalt, Raub und Mord. Sie sind nicht vergleichbar, aber jedes Trauma verursacht sein eigenes schweres Leid.
Ich denke auch an den Vater einer Freundin. Er musste zum Ende des Zweiten Weltkriegs mit anhören, wie sowjetische Soldaten im Nebenzimmer seine ältere Schwester vergewaltigten. Die Schreie bekomme er bis heute nicht aus dem Kopf. Auch das ist Berlin.
Die Stadt bleibt ein Ort, an dem sich Wunden überlagern. Jüdische Berliner:innen leben in Angst, zeigen kaum noch ihr Jüdisch-Sein. Gleichzeitig sehen viele mit Entsetzen, dass nach dem Trauma des 7. Oktober eine reaktionär-rechtsextremistische Regierung in Israel auch in ihrem Namen Verbrechen begeht und das Leben der Geiseln zusätzlich gefährdet.
Zehn Jahre Flüchtlingssommer 2015: Die großen Fragen von damals sind die großen Fragen von heute – ganz egal, ob es um Grenzkontrollen, Integration oder die AfD geht. Die taz sucht in einem Sonderprojekt Antworten.
Palästinensische Berliner:innen wiederum betrauern ihre getöteten Angehörigen und sorgen sich um vertriebene Verwandte. Sie erleben, wie sie durch legitime Kritik an der israelischen Regierung und an deutschen Doppelstandards unter Generalverdacht geraten, als antisemitisch oder islamistisch. Wie Protest delegitimiert und Identitäten geleugnet werden. Auch das ist Berlin.
Und all die Ukrainer:innen und Angehörigen russischer Soldaten … Oder Menschen aus dem Sudan, die ihre Familien in einem vergessenen Bürgerkrieg verlieren, ganz ohne Sondersendungen. Auch in diesem Text bleiben Konflikte und Schicksale ungenannt. Aber sie schwingen mit – in Blicken, im Schweigen, im Alltag von uns allen.
Was ist überhaupt ein psychisches Trauma? Die WHO beschreibt die „seelische Verletzung“ als ein „Ereignis außergewöhnlicher Bedrohung oder mit katastrophalem Ausmaß“. In seinem Standardwerk „The Body Keeps The Score“ ergänzt der Traumaforscher Bessel van der Kolk: „Trauma is not the story of something that happened back then, but the current imprint of that pain, horror, and fear living inside.“ Diese Abdrucke haben oft posttraumatische Belastungsstörungen zur Folge, manchmal erst Jahre später. Traumata wirken nach: in Körpern und Seelen, in Beziehungen, in Familiengeschichten und Gesellschaften, oft über Generationen hinweg.
Berlin ist voll von diesen Prägungen. In Moabit, wo das „Zentrum Überleben“ Geflüchtete begleitet. In Pankow, wo Flinta*-Workshops Räume für Atem und Sprache schaffen. In Jugendzentren, Wartezimmern und an so vielen anderen Stellen, viele unterfinanziert und um den Fortbestand bangend.
Und trotzdem – oder vielleicht gerade deshalb – geht es oft erstaunlich „gesittet“ zu. Keine Selbstverständlichkeit für eine Stadt, in der sich so viele Geschichten von Gewalt, Verlust und Überleben kreuzen, manchmal miteinander konkurrieren. Vieles fehlt, anderes ätzt, einiges scheitert. Aber dass wir miteinander aushalten, was wir an Schmerz mitbringen – das ist vielleicht das eigentlich Beeindruckende. Das ist ein kleines „Wir schaffen das“, jeden Tag aufs Neue. Aller Hetze und Anfeindungen zum Trotz. Und gegen jeden Paternalismus.
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