Leistungen für Geflüchtete: Ausreise oder Geld weg
Das Sozialamt Dessau streicht einer alleinerziehenden Geflüchteten ohne Papiere sämtliche Leistungen, um sie zu zwingen auszureisen. Sie klagt dagegen.
Die Alleinerziehende kam im Herbst 2023 mit ihren Kindern nach Deutschland. Laut ECCHR erlebte sie auf ihrer Flucht aus dem Sudan über Libyen Gewalt und Folter. Dann erreichte sie Europa, landete in Italien. Dort wurde ihr internationaler Schutz zuerkannt. Doch sicher war sie nicht.
Dem Wortlaut nach erfuhr sie mehrfach sexualisierte Gewalt. Unter anderem deshalb floh sie im Herbst 2023 weiter nach Deutschland. Ihr Name ist der taz bekannt, soll aber in diesem Bericht keine Rolle spielen, um sie vor Anfeindungen zu schützen.
Die kleine Familie lebt derzeit in einer Unterkunft in Dessau, sie haben gemeinsam ein Zimmer. Die Kinder gehen zur Schule. Doch einen ruhigen Alltag? Den haben sie nicht. Im Mai kam der Bescheid vom Sozialamt Dessau: Es bestehe kein Anspruch auf Leistungen in Deutschland. Mit Hilfe der Anwältin Lea Hupke legte die 24-Jährige Widerspruch ein und stellte einen Eilantrag auf Gewährung von Leistungen.
Asylfeindliche Politik
Das Sozialamt stützt sich dabei auf § 1 Abs. 4 Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG). Seit 2019 ermöglicht das Gesetz den Ämtern, Leistungen für Menschen zu streichen, denen ein anderer Dublin-Staat internationalen Schutz zuerkannt hat. Bei diesen sei die Annahme berechtigt, dass sie kurzfristig ausreisen können.
Allerdings verweist Anwältin Hupke darauf, dass die Alleinerziehende aktuell über „gar keine Dokumente“ verfüge, mit denen sie die Grenzen nach Italien eigenständig überqueren könne. Sie könne Deutschland kurzfristig gar nicht verlassen. Zudem sei derzeit unklar, ob die Kinder ebenfalls internationalen Schutz in Italien bekommen haben.
Den Eilantrag der Alleinerziehenden hat das Sozialgericht Dessau-Roßlau inzwischen abgelehnt. Sie und Anwältin Hupke haben dagegen Beschwerde eingelegt. Nun befasst sich der 8. Senat des Landessozialgerichts (LSG) Sachsen-Anhalt mit dem Fall. Der entscheidet, ob der Beschluss Bestand hat oder ob das Sozialamt verpflichtet ist, wieder zu zahlen. Um die Zwischenzeit zu überbrücken, bekomme die Alleinerziehende für zwei Wochen wieder Leistungen, bestätigt das LSG.
Der Flüchtlingsrat Sachsen-Anhalt hatte schon im Mai auf den Fall aufmerksam gemacht. Und nicht nur auf diesen: Weiteren Familien streiche das Sozialamt ebenfalls die Leistungen. Nachdem sich die Situation im Juni nicht verbessert hatte, kritisierte Stefanie Mürbe, Sprecherin des Flüchtlingsrats: Kinder müssten ohne Essen zur Schule, „die asylfeindliche Debatte und Politik schlägt sich in repressiver Willkür vor Ort nieder“. Der Flüchtlingsrat Sachsen-Anhalt halte es für rechtswidrig, dass das Sozialamt Leistungen streicht.
Gerichte hoben Leistungsstopp in anderen Fällen wieder auf
Tatsächlich beschäftigen sich derzeit deutschlandweit vermehrt Gerichte mit der Frage, inwieweit ein vollständiger Leistungsausschluss rechtskonform ist. Denn seit einer Gesetzesänderung im letzten Oktober betrifft das Gesetz noch einen weiteren Kreis: die „Dublin-Fälle“ – also Menschen, für deren Asylantrag ein anderer Dublin-Staat zuständig ist.
Wenn die Personen im Dublin-Verfahren „rechtlich und tatsächlich“ ausreisen können, haben sie keinen Anspruch auf Leistungen, heißt es im Gesetz. Doch was „rechtlich und tatsächlich“ bedeutet, ist umstritten. Oft können die Betroffenen als Angehörige von Drittstaaten nicht einfach so durch Europa reisen.
Bei mehreren Dutzend Eilverfahren hoben Gerichte den Leistungsausschluss wieder auf. Eine solche Entscheidung fällte im Juni auch das Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen und fügte an: Die Vereinbarkeit mit „Verfassungs- und Europarecht ist zweifelhaft“. Es sei fraglich, ob mit dem Leistungsausschluss das Existenzminimum noch sichergestellt sei. Eine vollständige Prüfung durch das Landessozialgericht war im Eilverfahren aber nicht drin.
Doch aus Sicht des Bundesinnenministeriums ist eine Ausreise möglich, wenn das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) Hindernisse prüft und auf den Bescheid schreibt, dass die Ausreise möglich ist. So steht es in einem Schreiben des Ministeriums vom 7. Februar, das der taz vorliegt.
Lena Frerichs von der Gesellschaft für Freiheitsrechte hat schon mehrere Gerichtsprozesse unterstützt, in denen der Leistungsausschluss aufgehoben wurde. Es sei irritierend, sagt sie, dass Verwaltungen die Praxis weiter umsetzen, obwohl „wir mehr als 50 sozialgerichtliche Entscheidungen aus Eilverfahren haben“.
Integrationsbeauftragte prüft
In Dessau ist laut Sozialamt derzeit eine vierköpfige Familie mit zwei Minderjährigen als Dublin-Fall von Leistungsstreichungen betroffen. Auf taz-Anfrage berichtet das Sozialamt, es habe ab Februar in einzelnen Fällen geprüft, inwieweit es Leistungen des Asylbewerberleistungsgesetzes einschränken kann. „Im Ergebnis dieser Prüfung besteht für eine Familie kein Anspruch auf Leistungen nach dem AsylbLG“.
Von dem anderen Fall der kompletten Leistungsstreichung für die alleinerziehende Mutter aus Dessau hat derweil auch Sachsen-Anhalts Integrationsbeauftragte Susi Möbbeck (SPD) gehört. Die Betroffene habe sich an Möbbeck gewandt und um Unterstützung gebeten, berichtet das Sozialministerium auf Anfrage der taz. Möbbeck prüfe derzeit den Fall.
In seiner Antwort an die taz verweist das Sozialministerium auf eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von 2012. Darin habe es festgehalten, „dass das Recht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum ausnahmslos gilt – für alle Menschen, auch für Geflüchtete.“
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