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76 Jahre GrundgesetzEs bleibt sich nicht gleich

Gastkommentar von Thomas Hunstock

Auch nach 76 Jahren Grundgesetz kann von einer demokratischen und rassismusfreien Politik für alle leider immer noch keine Rede sein.

In der R-Frage muss das Grundgesetz unter die Lupe Foto: Michael Kappeler/dpa

A uch zum Tag des Grundgesetzes werden seitens der Politik gerne Reden gehalten, vollständig realisiert wurde eine demokratische Staatspolitik in all den Jahrzehnten seit Gründung der BRD jedoch nicht. Seit jeher tragen Staatsorgane zur Verwirklichung der Grundrechtsgarantien kaum etwas bei, und eine durch demokratische Werte geprägte Haltung wurde der Bevölkerung nie vorgelebt.

Dies erklärt auch, warum eine Partei, die vom Verfassungsschutz in weiten Teilen als gesichert rechtsextrem eingestuft wurde, bei der Bundestagswahl zweitstärkste Kraft geworden ist. Stärker ist nur die CDU/CSU, die sich auf der Zielgeraden der Bundestagswahl auch mit rechtspopulistischen Aussagen profiliert hat. Die Zustimmung zu einer völkischen Politik liegt damit aktuell bei über 50 Prozent. Im kurzfristigen Denken innerhalb von Legislaturperioden, ständig bemüht, die eigenen Privilegien und die der Parteiklientel zu bewahren, ergreifen Ent­schei­dungs­trä­ger:in­nen nie bestimmende Maßnahmen zur Stärkung unserer Demokratie. Eine von demokratischen Werten geleitete Politik wird bis heute immer nur dann umgesetzt, wenn sie die weiße Vorherrschaft nicht infrage stellt. Im Resultat hat sich ein allgemeines Demokratieverständnis etabliert, wonach sich Minderheitenschutz und Diskriminierungsverbot problemlos durch die Meinungsfreiheit ausklammern lassen.

Dies zeigt sich überall. Schon in der Kita. Sobald die Kinder beginnen zu malen, wird ihnen beigebracht, dass ausschließlich rosa-beige Stifte als „Hautfarbenstifte“ zu bezeichnen sind. Im Grundschulunterricht wird vollkommen unkritisch das I-Wort samt allen damit verbundenen klischeehaften Erzählungen reproduziert. Noch heute gehören diskriminierende Kinderlieder wie „A Ram Sam Sam“ zum Repertoire in der frühkindlichen Musikerziehung, und rassistische Narrative werden auch durch entsprechende Märchen, Geschichten und Theateraufführungen an die Kleinsten weitergegeben. Eine rassismuskritische Leh­re­r:in­nen­aus­bil­dung ist bis heute nicht verpflichtend, Rahmenbedingungen zur Bildung einer etablierten gesellschaftlichen Rassismussensibilität wurden bislang leider nicht geschaffen. Im Gegenteil, ein großer Teil der Bevölkerung will sich nicht von den stereotypen Vorstellungen verabschieden, mit denen seine liebgewonnenen Kindheitserinnerungen verbunden sind.

Falsche Glaubenssätze von weißer Überlegenheit wurden nie aufgelöst, und notwendige Maßnahmen, um Veränderungen nachhaltig durchzusetzen, wurden stets unter Hinweis auf wichtigere Themen zurückgehalten. Ein Ergebnis der allgegenwärtigen Leugnung von Rassismus bei gleichzeitiger Bildungsverweigerung zeigt eine Studie des DeZIM-Instituts aus dem Jahre 2022. Sie zeigt auf, dass noch heute die Hälfte aller Befragten an die Existenz von Menschenrassen glaubt. Bei den über 65-Jährigen sind es sogar 61 Prozent. Die Hälfte der Bevölkerung findet, dass Rassismusvorwürfe und „politische Korrektheit“ die Meinungsfreiheit einschränken würden.

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Die taz ist eine unabhängige, linke und meinungsstarke Tageszeitung. In unseren Kommentaren, Essays und Debattentexten streiten wir seit der Gründung der taz im Jahr 1979. Oft können und wollen wir uns nicht auf eine Meinung einigen. Deshalb finden sich hier teils komplett gegenläufige Positionen – allesamt Teil des sehr breiten, linken Meinungsspektrums.

Thomas Hunstock

Thomas Hunstock

ist Antirassismusaktivist aus Kassel. Seit vielen Jahren setzt er sich für die gleich­berechtigte Teilhabe und die Wahrung demokratischer Grundrechte für alle Menschen ein.

M-Wort

Kaum jemand stört sich daran, dass immer noch unzählige Apotheken, Straßen, Cafés, Restaurants, Süßspeisen und sogar Volksfeste das M-Wort im Namen tragen. Die Weiterverwendung dieses meist als veraltet gelesenen Begriffs wird als eine „erhaltenswerte deutsche Tradition“ sogar kämpferisch verteidigt.

Als sich im Frühjahr 2022 eine Schülerin in Offenbach weigerte, das N-Wort unverschleiert vorzulesen, stellte sich die gesamte Lehrerschaft samt Leitung der „Schule ohne Rassismus“(!) mit großem Unverständnis gegen die Schülerin. Erst zu Beginn des Jahrs 2023 wurde der Roman „Tauben im Gras“ aus dem Jahr 1951 mit vielfacher Reproduktion des N-Worts als Pflichtlektüre für die Abiprüfung in Baden-Württemberg eingeführt, und sämtliche Kritik an dieser Entscheidung lief ins Leere. Selbst als eine Ulmer Lehrerin aus diesem Grund ihren Dienst quittierte, bewog das die Verantwortlichen nicht zum Umdenken. Auch als Gregor Gysi im September 2023 mit einer schockierenden Selbstverständlichkeit das N-Wort zur besten Sendezeit in der Talkshow „Markus Lanz“ droppte, blieben ein spürbarer Protest und eine angemessene Entschuldigung von Gysi aus.

Dies sind nur wenige Beispiele aus der jüngeren Vergangenheit, vergleichbare Fälle sind an der Tagesordnung. Das Bundesverfassungsgericht bezeichnet den Schutz der Menschenwürde zwar als den „obersten Verfassungswert“. Marginalisierte Menschen werden jedoch nicht mitgedacht, und Rassismus wird kurzerhand zu einer die Freiheit einschränkenden abwegigen Meinung erklärt. So werden Grundrechte beliebig (um)interpretiert und gegeneinander ausgehebelt, Staatsorgane bedienen sich aus dem Grundrechtskatalog wie aus einem Supermarktregal. Die Freiheit, alles sagen und machen zu dürfen, steht auf der Beliebtheitsskala unangefochten auf dem ersten Platz, und die Gleichheitsgarantie wird als unverwirklichter Ladenhüter wohl bald gänzlich aus dem Sortiment gestrichen. Diese Art von gelebter Demokratie hat in den letzten Jahrzehnten in der Bevölkerung für ein Demokratieverständnis gesorgt, wonach rechtsextreme Politik als demokratische Politik angesehen wird, sobald sie bei demokratischen Wahlen einen größeren Zustimmungswert erreicht.

Am 23. Mai, genau drei Monate nach der Bundestagswahl, wurde das Grundgesetz 76 Jahre alt. Seit fast acht Jahrzehnten wird Energie dafür aufgewandt, Deutungshoheiten über Grund- und Menschenrechte aufrechtzuerhalten, anstatt daran zu arbeiten, die Grundrechtsgarantien für alle zu verwirklichen. Die aktuelle politische Situation mögen viele als Zeitenwende empfinden, in Wirklichkeit erleben wir eine Zuspitzung der schon immer vorherrschenden Situation. Die AfD ist kein Auslöser einer neuen Bewegung, sie ist der Katalysator einer Ideologie vom Herrenmenschen, die nie bekämpft, sondern toleriert wurde.

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8 Kommentare

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  • Als undogmatischer Antirassist und Gleichheitsverfechter finde ich am Artikel vieles problematisch. Wenn man nicht benennen will, was man kritisiert, sondern dies absolut ausschliesst, als womöglich verletzend und es wichtig also schlimm ist, wenn ein Politsternchen sich nicht an diese Regel hält, erzeugt man neue Probleme. Genauso störend bei der tatsächlichen Rassismusbekämpfung ist, wenn hier eine Sprache verwendet wird, die den Artikel nur für wenige Empfänger vollständig verständlich macht, wohl auch aus Platzgründen(?). So bleibt nur ein wahrer Unterton mit vielen Fragezeichen.

  • Ich sage es mal ganz direkt: Dieser Artikel liest sich wie eine Parodie auf sog. "Wokeness" in einer rechten Zeitung.



    Um das zu erläutern: Was das "N-Wort" ist, ist ja allgemein bekannt. Was das "M-Wort" ist, kann ich zumindest vermuten. Was das "I-Wort" sein soll, ist mir aber nicht klar (Inuit? Idiot? Indianer? Inselaffe?). Mal abgesehen davon ist "A Ram Sam Sam“ ein marokkanisches Kinderlied, das aus der Kombination von spielerischen Nonsense-Worten und einzelnen arabischen Begriffen (wie "Freund") besteht. Was daran diskriminierend sein soll, ist mir unverständlich, der Logik nach diskriminiert jedes Lied, das ein "La la la" enthält, seine Herkunftssprache. Zu guter Letzt: "Tauben im Gras" rezipiert explizit den Rassismus der 50er, und damals hat man eben N-Wörter rausgehauen, als gäbe es kein Morgen. Das anders darzustellen, wäre absurd - und marginalisierten Menschen zu unterstellen, sie seien so fragil, dass sie das nicht ertragen könnten, finde ich absurd.



    Und all diese Absurditäten werden hier ganz selbstverständlich vorgetragen, so, als stünde das Verständnis und die Zustimmung der Lesenden überhaupt nicht in Frage. Das wirkt schon sehr schräg.

    • @Agarack:

      Ok mit Andreas Rebers: Helfe gern:

      Vllt wissens wer Tom Waits ist?!



      Dessen “The Piano has been drinking“ hat Gerd Köster congenial (nicht ohne zuvor zu fragen - Herr Tiefgang Wolldecken) op jot Kölsch gecovert! Normal



      & Däh



      ☕️☕️ vs Volksbühne Kölle



      “Da fing der Rico (schwarzer Irokese irischer Anstammung🥁) plötzlich auch mit an.



      So wollt er nicht mehr genannt werden!



      Sach ich - biste verrückt geworden?



      Bin aus der Südstadt - kenn das nicht anders.



      Was soll ich denn dann sagen?



      Schwarzer Farbiger fänd er auch doof!



      Da sach - na ok Klütte?!



      Däh! Ja ok. Klüte - fänd er in Ordnung!;)) 🙀🥳🧐



      & zu ehre 50/60er



      N💋💋 - Kartons a 💯 - 2 mit Lederriemen auf 🚲! Vom Ohl altes Wandrer 🚲 mit Gesundheitslenker - hätt ich mich beinahe tot gefahren: der Lenker hatte sich in der Kurve in einen der Kartons gebohrt 🙀 & ab 🚲quer über die Schwartauer Allee. En anner Gescheecht •



      unterm——Gerd laßt gehn



      The Piano Has Been Drinking - "En d'r Nohbarschaff" (Arsch huh 1992, Chlodwigplatz, Köln)



      www.youtube.com/wa...Bkcmlua2luZw%3D%3D



      & met denn Hocker as Zujabe. Normal



      Sackjeseech



      www.youtube.com/watch?v=vYc-oY0

  • Was bei Parforceritten leicht passiert!

    “ Im kurzfristigen Denken innerhalb von Legislaturperioden, ständig bemüht, die eigenen Privilegien und die der Parteiklientel zu bewahren, ergreifen Ent­schei­dungs­trä­ger:in­nen nie bestimmende Maßnahmen zur Stärkung unserer Demokratie. Eine von demokratischen Werten geleitete Politik wird bis heute immer nur dann umgesetzt, wenn sie die weiße Vorherrschaft nicht infrage stellt.“

    “Mehr Demokratie wagen!“ Willy



    Dafür wohl zu jung - wa!



    & mit weiß allein? - war auch nicht Willy sein



    “Im April 1977 trug Weltbankpräsident Robert McNamara Brandt den Vorsitz der „Unabhängigen Kommission für Internationale Entwicklungsfragen“ (Nord-Süd-Kommission) an. Nach fast drei Jahren Beratungen legte die Kommission am 12. Februar 1980 in New York ihren Nord-Süd-Bericht vor, der allgemein als „Brandt-Report“ bekannt wurde.“



    de.wikipedia.org/wiki/Willy_Brandt

    Soll mal reichen



    & not btw only =>



    (…sein unfassbares Einknicken vom Extremistenbeschluß zum Radikalenerlaß!



    - dabei nicht vergessen • ;((

  • Ich persönlich finde, das Ziel, Menschen Vorurteile abzunehmen, ist schneller und effektiver mit gezielter Förderung positiver Verbreitung von Kultur zu erreichen, z.B. mit Reggaeton- und Afrobeatfestivals, internationalen Kochevents in den Innenstädten, Sprachkursen für Twi oder Krio.



    Bloße Sprechverbote können stattdessen gegenteilige Aversionen und Provokationen heraufbeschwören. Denn nichts scheint doch verlockendender, als mit einem kleinen scheinbar harmlosen Wort wider den Stachel zu löcken.



    Dann dreht sich "gut gemacht" in "gut gemeint".

    • @hedele:

      Wenn das so wäre, würden wir nicht in einer Gesellschaft leben, die viele Menschen diskriminiert.



      Festivals gibt es zuhauf, aber dorthin verirren sich Rassisten nicht. Dort wird nur den Bekehrten gepredigt, durch fröhliches Miteinander, das natürlich toll ist und wichtig ist, aber rein gar nichts gegen den Rechtsruck tut.



      Nehmen wir die Dauerbrenner der ungerechtfertigten Diskriminierung zusammen, dürfte MEHR ALS DIE HÄLFTE DER BEVÖLKERUNG zu einer der Minderheiten gehören, gegen die "die anständige Leute" was haben, viele passen sogar in mehrere Schubladen. Bizarr.

    • @hedele:

      Stimme ihen zu. Hier wird wieder Deutungshoheit über den allgemeinen Sprachgebrauch verübt. In meinen Augen macht die Bezeichnung eines schwarzhäutigen Menschen als "People of Colour" keinen Unterschied. Es ändert seine Hautfarbe nicht. Die wiederum ist mir vollkommen egal. Für mich zählt der Mensch und nicht eine künstlich herbeigeführte völlig sinnlose Klassifiizierung. Der eine ist schwarz, die andere trägt ein Kopftuch, die andere ist blond, der andere trägt einen Vollbart. Dient alles nur zur Identifizierung auf der Strasse und sagt nichts über mein Verhältnis oder Einstellung zu diesem Menschen aus und hat überhaupt nichts mit Rassismus oder unterdrückung von irgendwelchen Personengruppen zu tun.

  • A Ram Sam Sam“ ist rassistisch und diskriminierend? Ach bitte lasst doch mal die Kirche im Dorf!



    de.wikipedia.org/wiki/A_Ram_Sam_Sam