SPD-Basis und der Koalitionsvertrag: Zwischen Resignation und Pragmatismus
Die rund 360.000 SPD-Mitglieder sind aufgerufen, über den Koalitionsvertrag abzustimmen. Viele werden wohl Ja sagen – mit der Faust in der Tasche.

Im Juso-Alter ist auch Maik Ritter, aber nicht bei den Jungsozialisten aktiv. Der jüngste Bürgermeister Mecklenburgs wirbt voller Überzeugung für den Koalitionsvertrag – aus Pragmatismus. „Ohne Regierung gibt es keinen Haushalt, ohne Haushalt keine Investitionen“, rattert er runter. Das Geld aus dem 500 Milliarden Euro schweren Investitionspaket brauche die 8.000-Einwohner-Gemeinde Tessin dringend für Straßen, Schienen, Kitas und Schulen. „Wir haben allein in meiner Gemeinde einen Investitionsstau von über 11 Millionen Euro.“
Zwei Genossen, zwei Meinungen zum Koalitionsvertrag. Bis Dienstag sind die rund 360.000 SPD-Mitglieder bundesweit aufgerufen, sich ein Urteil zu bilden und abzustimmen. Das Ergebnis entscheidet darüber, ob die SPD in eine Koalition mit der Union eintritt und ob 83 Millionen Menschen in Deutschland demnächst wieder eine stabile Regierung haben werden. Kruse und Ritter sind am Mittwoch ins Bürgerhaus in Güstrow gekommen, wo die SPD zur Dialogkonferenz geladen hat. Manuela Schwesig, Landesvorsitzende und Mitverhandlerin, werde „Rede und Antwort stehen“, verspricht der Moderator.
50 Genoss:innen haben an diesem Abend den Weg hierher gefunden. Eingeladen wurde für ganz Ostdeutschland, außer Brandenburg. Von Enthusiasmus kann nicht die Rede sein – eher von müder Resignation, gepaart mit Pragmatismus.
Schlechtestes Ergebnis der Geschichte
Die SPD hat 16,4 Prozent bei der Bundestagswahl bekommen, das schlechteste Ergebnis der Geschichte. Da sei eben nicht viel zu erwarten, finden die Genoss:innen. Und Alternativen zur ungeliebten Verpartnerung mit der Union? Gibt es nicht, jedenfalls keine, die die in Teilen rechtsextreme AfD außen vor lässt. Schwesig, ganz in Rot, versucht in Güstrow nichts zu beschönigen.
„Der 23. Februar war ein wirklich bitterer Abend. Eine Niederlage mit Ansage“, sagt die Ministerpräsidentin, die im nächsten Jahr wiedergewählt werden will, und setzt sich so gleich zu Beginn ihrer Rede von der Parteiführung ab. „Alle wussten, dass es so kommt. Die Bevölkerung hat ganz klar Olaf Scholz und der SPD kein Vertrauen mehr geschenkt.“ Umso wichtiger sei es, dieses Ergebnis jetzt aufzuarbeiten.
Einen ähnlichen Programmprozess wie in den 1950er und Anfang der 2000er Jahre brauche es heute auch, meint der Politikwissenschaftler Wolfgang Schroeder. Das Wähler:innenspektrum der SPD sei heute „dramatisch reduziert“ auf akademisch gebildete Staatsbedienstete und Rentner:innen. „Die SPD hat die Arbeiter und unteren Mittelschichten verloren, sie konkurriert heute um ähnliche Wähler:innen wie Grüne, Linke und teilweise die CDU.“
Wenn es der Partei gelänge, ein Bündnis der sogenannten kleinen Leute mit den aufgeklärten Mittelschichten zu schmieden, in dem sie stärker die Lebenswirklichkeit in den Blick nähme und sicherstelle, dass Arbeit sich lohne, dann wäre das ein konkurrenzfähiges Angebot im Parteienwettstreit. Dass die Neuerfindung als Partei der Arbeit kurzfristig gelingt, denkt Schroeder nicht. Zudem werde es schwierig, beides gleichzeitig hinzukriegen: Neuaufstellung und loyale Regierungsarbeit. Das aber wird darüber entscheiden, ob die SPD Volkspartei bleibt.
2018 haben nur 66 Prozent mit Ja gestimmt
Doch die Aufarbeitung ist vertagt – auf den Parteitag im Juni. Zunächst geht es darum, die Basis hinter dem Koalitionsvertrag zu versammeln. Deshalb verlegt sich Schwesig in Güstrow von der Kritik aufs Konstruktive. Sie lobt das Milliardenpaket für die Infrastruktur, hofft, dass der Bürokratieabbau endlich vorankommt und die Wirtschaft wieder Fahrt aufnimmt. Für die Menschen im Osten, die überwiegend auf die gesetzliche Rente angewiesen sind, sei die Sicherung des Rentenniveaus wichtig. Themen wie Migration oder Bürgergeld – Punkte, bei denen die Union der SPD harte Verschärfungen abgehandelt hat –, lässt sie weg.
Am selben Abend kämpft südlich von Dortmund auch der Bundestagsabgeordnete Oliver Kaczmarek für den Vertrag, nüchtern, ohne Pathos. „Wir machen keine Liebesheirat“, sagt der 54-Jährige im Ladenlokal Freundschaft im Stadtzentrum von Schwerte. „Wir machen diese Koalition, wenn die SPD-Mitglieder zustimmen, weil wir sie machen müssen.“ 26 Genoss:innen sind der Einladung des Stadtverbands gefolgt.
Sicher kann sich die Parteiführung nicht sein, dass die Genoss:innen auch den dritten Koalitionsvertrag mit CDU und CSU problemlos durchwinken. Gaben beim Mitgliedervotum 2013 noch knapp 76 Prozent ihr Okay, waren es 2018 nur noch 66 Prozent.
Kaczmarek, im Bundestag Sprecher der SPD für Bildung und Forschung, hat den Koalitionsvertrag für seinen Bereich mitverhandelt. Der an die allgemeine Lohnentwicklung gekoppelte Mindestlohn komme, argumentiert er und wirbt mit dem 500 Milliarden schweren Investitionsprogramm. Vor allem aber appelliert er an die Verantwortung seiner Leute: Die erfolgreiche Bekämpfung der Rechtsextremen, darauf komme es jetzt an.
Koalitionsvertrag „ziemlich furchtbar“, findet Genossin
Quasi alternativlos sei die Wahl von CDU-Chef Friedrich Merz zum Kanzler, erklärt der im benachbarten Kamen geborene Sohn einer Bergmannsfamilie. Die Bundestagswahl sei ein „historischer Einschnitt“ für die Demokratie in Deutschland gewesen. „Wir müssen uns vor Augen führen, in welcher politischen Lage wir sind“, mahnt Kaczmarek: Die SPD-Bundestagsfraktion habe nur noch 120, die der AfD dagegen 152 Mitglieder. „Wir können jetzt nicht weglaufen.“
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Die Angst vor dem weiteren Aufstieg der AfD treibt die SPD im Osten wie im Westen. In seinem Wahlkreis Unna hat sich Kaczmarek als direkt gewählter Abgeordneter erneut durchgesetzt. Doch die AfD hat ihr Ergebnis mit 18,8 Prozent fast verdreifacht. Die Direktmandate in den ostdeutschen Flächenländern gingen mit wenigen Ausnahmen an die AfD, der rote Teppich von 2021 ist nun komplett braun. Die extrem Rechten sind in Mecklenburg-Vorpommern mit 35 Prozent stärkste Kraft. Für die regierende SPD blieben magere 12,4 Prozent.
Auch im Freundschaft in Schwerte wird schnell klar: Die meisten Genoss:innen gehen mit geballter Faust in das Bündnis mit der Union. Am Koalitionsvertrag gibt es viel Kritik. Ob es so etwas wie sozialen Wohnungsbau überhaupt noch gäbe, fragt etwa eine 60 Jahre alte Genossin. Als Sozialarbeiterin diskutiere sie mittlerweile darüber, „mit welchem Zelt man am besten über den Winter kommt“, schildert sie ihre Arbeit mit Obdachlosen. „Mein Vertrauen in diese CDU ist äußerst begrenzt“, erklärt die Schwerter Co-Parteichefin Sigrid Reihs.
Gerade „als Frauenpolitikerin“ finde sie den Koalitionsvertrag „ziemlich furchtbar“. „Wenn es nicht einmal gelingt, im Jahr 2025 den Paragrafen 218 abzuschaffen – dann frage ich mich, welches Frauen- und Familienbild da produziert wird.“ Der Bundesvorstand der Jusos hat den Vertrag bereits abgelehnt, auch die Jusos in Schwerte sind überwiegend kritisch.
Verhandlungen „kein Demütigungstrip“
Die Vorsitzende der SPD-Grundwertekommission Gesine Schwan sieht hingegen viel sozialdemokratisches Gedankengut im Koalitionsvertrag und lobt die Verhandler:innen: „Für die SPD waren diese Verhandlungen kein Demütigungstrip, das galt wohl eher für Friedrich Merz.“
Einen massiven Verlust an Glaubwürdigkeit attestiert sie ihrer Partei, wie allen demokratischen Parteien, gleichwohl. Die Ursache sieht die Politikwissenschaftlerin vor allem in einem Modell von Politik, das Wähler:innen seit den Nullerjahren wie Kunden behandele. „Die SPD hat in den letzten Jahren immer mehr Lobbypolitik zugunsten einzelner Gruppen gemacht. Das muss aufhören, wir müssen wieder Politik für die ganze Gesellschaft machen.“ Es brauche eine neue Vorstellung von Gemeinsinn und Teilhabe, etwa bei der Energiewende. „Denn Bürger:innen sind keine Kunden, sondern verantwortlich Mitwirkende.“
In Güstrow geht die Dialogkonferenz zu Ende. Was passiert, wenn der Vertrag keine Mehrheit findet, will jemand zum Schluss noch wissen. „Wenn es keine Mehrheit gibt, kommt die Koalition nicht zustande. Es wird auch keine Nachverhandlungen geben“, sagt Schwesig. Es ist eine nüchterne, harte Ansage. Bürgermeister Ritter hofft, dass es nicht schon am Quorum scheitert. Mindestens 20 Prozent der Parteimitglieder müssen bundesweit abstimmen, damit der Entscheid gültig ist.
Scheitern kommt zumindest für Schwesig nicht infrage. „Ich hätte nie gedacht, dass ich diesen Satz mal sage, aber ich wünsche mir wirklich, dass Friedrich Merz und die künftige Koalition Erfolg haben.“
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