: Einergeht noch
Vor fünf Jahren wurde Ischgl zum Synonym für den verantwortungslosen Umgang mit der Coronapandemie. Was hat sich seitdem getan in der Aprés-Ski-Hochburg Österreichs?

Aus Ischgl Christian Jakob
Über 50 Mal zum Skilaufen in denselben Ort, das schafft auch nicht jeder. Jürgen Stang schon. Seit 1991 reiste der Maurermeister aus Langenfeld nahe Leverkusen nach Ischgl in Tirol: Weihnachten, Ostern, und wenn es ging, noch mal zwischendurch. Sogar seine zweite Frau lernte Stang, heute 62 Jahre alt, dort kennen. „Ein so gutes Skigebiet finden Sie in Österreich nicht noch mal“, sagt er.
Zum letzten Mal in Ischgl war Stang 2020, mit zwei Freunden und vier Kollegen. Am 7. März kam die Gruppe im Paznauntal an. Eine Woche wollten sie bleiben. Die österreichischen Behörden wussten da schon seit drei Tagen, dass sich 14 Isländer:innen in der letzten Februarwoche in Ischgl mit Covid-19 angesteckt hatten.
Dennoch dauerte es bis zum 13. März 2020, bis die österreichische Bundesregierung Ischgl und das Paznauntal zum Risikogebiet erklärte und eine Quarantäne verhängte. In dieser Woche jährt sich der Ischgl-Ausbruch zum fünften Mal. Die kleine Gemeinde und das Bundesland Tirol wurden damals international zum Synonym für den verantwortungslosen Umgang mit der Pandemie.
Auch Jürgen Stang infizierte sich in Ischgl und erkrankte schwer. Es dauerte ein Jahr, sagt Stang, bis er wieder Treppen laufen konnte wie zuvor. Er zog bis vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, um die Behörden zur Verantwortung zu ziehen.
„Man hätte Zeit genug gehabt, den Schlagbaum an der Einfahrt zum Paznauntal runterzumachen. Sache erledigt“, sagt Stang. „Wir wären dann eben nächstes Jahr gefahren, kein Problem.“ Doch nach der Mitteilung aus Reykjavík wiegelte das Land Tirol ab und behauptete in einer Pressemitteilung, dass die Isländer sich „erst im Flugzeug bei der Rückreise“ angesteckt haben dürften. „Falsch und irreführend“ war dies, steht später im Untersuchungsbericht einer unabhängigen Expertenkommission.
So verbringen Jürgen Stang und etwa 15.000 weitere Gäste die Woche zunächst arglos im Paznauntal. Als die Behörden die ersten Aprés-Ski-Bars schließen, geht man eben in die Lokale, die geöffnet blieben. „Die Leute wollten ja was essen, ein Bier trinken“, sagt Stang.
Am 13. März spürt Stang beim Frühstück leichtes Fieber. Zum Mittagessen sitzt er mit seinen Freunden auf der Idalp, einem Bergrestaurant mit den Dimensionen einer Großkantine, als 600 Kilometer weiter östlich in Wien der damalige Bundeskanzler Sebastian Kurz eine Pressekonferenz gibt. Kurz erklärt, dass er dem Virus „geografisch punktgenau gegensteuern“ wolle. Unter anderem werde deshalb das Paznauntal „ab sofort isoliert“.
Wie so oft wollte Kurz sich als Macher zeigen und hatte diese Quarantäne-Entscheidung mit niemand besprochen. Die lokalen Behörden erfahren davon aus dem Fernsehen. Die sich anschließende chaotische Massenabreise, teils in restlos überfüllten öffentlichen Verkehrsmitteln, gilt als eine der Haupt-Infektionsquellen des Ischgl-Covid-Clusters.
Jürgen Stang und seine Freunde taten, was alle Urlauber in Ischgl taten: Sie sahen zu, dass sie noch wegkamen. „Wir sind schnell runter in die Pension, Klamotten gepackt, ab ins Auto.“ 720 Kilometer sind es zurück nach Langenfeld. Die Gruppe fährt durch, ein Tankstopp wird am Automaten bezahlt: „Nicht dass wir noch wen in der Tankstelle anstecken, haben wir gedacht.“
Zu Stangs Fieber kommt unterwegs Schüttelfrost. Am Samstag weist ein Test im Leverkusener Krankenhaus die Covid-Infektion nach. Am folgenden Donnerstag bringt ihn ein Krankenwagen in die Langenfelder LVR-Klinik. Eine Röntgenaufnahme zeigt eine beidseitige Lungenentzündung. „Das ist, als ob du nur durch einen Strohhalm Luft kriegst. Du hast eine wahnsinnige Erstickungsangst“, sagt Stang. Erst Ende März wird er aus der Klinik entlassen, im Rollstuhl, um 12 Kilo abgemagert.
Beim österreichischen Verbraucherschutzverein haben sich bis zum Sommer 2020 über 6.100 Menschen und Angehörige gemeldet, die nach einem Skiurlaub in Tirol an Covid-19 erkrankten. Drei Viertel der Betroffenen waren in Ischgl. Etwa 30 der Erkrankten starben, rund die Hälfte der Toten habe sich in Ischgl direkt infiziert, die andere Hälfte sei durch Rückkehrer angesteckt worden, so schätzt es der Chef des Verbraucherschutzvereins, Peter Kolba. Rund 11.000 Infektion seien insgesamt auf Ansteckungen in Ischgl zurückzuführen, heißt es in österreichischen Medien.
232 Menschen haben deshalb die österreichischen Behörden auf Millionensummen verklagt, einer davon ist Jürgen Stang. Doch bis Mai 2023 wiesen die österreichischen Gerichte ausnahmslos alle Klagen zurück. Im Dezember 2023 zog Stang vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Denn Ischgl habe „nur aus wirtschaftlichen Gründen“ den Betrieb weiterlaufen lassen, glaubt er. Damit seien nicht nur die Touristen, sondern auch die eigene Bevölkerung und die vielen Saisonarbeiter in Gefahr gebracht worden. „Eine Entschuldigung kam nie“, sagt Jürgen Stang.
Wer heute mit der Gemeindeverwaltung Ischgl darüber sprechen will, wie sie heute auf diese Zeit zurückblickt, welche Spuren die Ereignisse hinterlassen haben, kriegt kein Interview, sondern eine E-Mail: Die Pandemie „gehört der Vergangenheit an“, steht darin. Das Virus sei „nicht nur in Ischgl, sondern weltweit zum Ausbruch gekommen“, das Thema „stößt auf kein weitergehendes Interesse mehr“. Der Tonfall gleicht jenem des Auftritts des damaligen ÖVP-Gesundheitslandesrates Bernhard Tilg, der damals sagte, die Behörden hätten „alles richtig gemacht“.
Die 1.600-Einwohner-Gemeinde hat ihr Zentrum einem Gebäudekomplex geopfert, der an ein mehrstöckiges Flughafenterminal mit angeschlossenem Parkhaus erinnert. An einem Dienstag im Februar sind alle Parkplätze hier belegt, ebenso wie praktisch alle rund 12.000 Betten der fast 400 Unterkünfte. Die Pardatschgratbahn führt von hier in die grandiosen Gipfel der Samnauner Alpen, das Skigebiet gilt als eines der besten der Welt.
Auch wenn sich das Ansteckungsgeschehen nach Expertenmeinung wohl auf den gesamten Ort verteilte, wird der Ischgler Covid-Ausbruch vor allem mit einem Namen in Verbindung gebracht: dem „Kitzloch“, einer mit schweren, dunklen Balken auf Hüttenoptik getrimmten Après-Ski-Bar neben dem Liftausgang im Ortskern. Auf der Karte stehen hier Austern und teure Wagyū-Burger. Weil die Bar durch die Pandemie noch berühmter geworden ist, hat der Betreiber ein großes lilafarbenes Holzherz mit dem Logo vor der Tür anbringen lassen, damit die Leute es mit den Selfies leichter haben.
Im „Kitzloch“ läuft es längst wieder rund
Am frühen Nachmittag sind die meisten Touristen noch oben auf dem Berg, unten am Liftausgang steckt ein DJ die Kabel seiner Anlage zusammen. Im Kitzloch liegt auf fast allen Tischen ein „Reserviert“-Schild, es läuft Metallica, am Tresen wartet ein Fotograf. Die Presse aus Wien hat ihn geschickt, um vom Betreiber Bernhard Zangerl ein Bild zu machen. „Ich hab die gefragt, ob er auch schön schuldig dreinschauen soll“, sagt der Fotograf.
Zangerl ist 31, ein freundlicher Typ. Für das Foto lehnt er sich an das Herz vor der Tür, schuldig schaut er dabei nicht. Er trägt die blonden Haare lang, dazu Cap, Hoodie, weite Hose. Er sieht aus wie die Snowboardfahrer im Ort.
„Es war eine sehr spezielle Situation, auf einmal vor der ganzen Welt Rechenschaft geben zu müssen“, sagt Zangerl dann. Er habe „offen auftreten“ wollen, „das hat den Effekt gehabt, dass über uns sehr viel berichtet worden ist“. Selbst auf CNN war vom Kitzloch die Rede. Denn die ersten drei Covid-Fälle in Tirol waren drei norwegische Erasmus-Studenten, die im Kitzloch waren und am 5. März positiv getestet wurden. Am 7. wurden ein Kellner, am 9. dann 14 Mitarbeiter und ein Gast des Kitzlochs positiv getestet. Dann ordnete die Polizei endgültig die Schließung an.
Warum er nicht schon früher zugemacht habe? „Wir haben täglich mit den Behörden kommuniziert und darauf vertraut, dass die Experten uns die richtigen Anweisungen geben“, sagt Zangerl. „Es tut uns um jeden leid, der sich angesteckt hat. Aber jetzt sind wir umso mehr froh, dass die Menschen wieder gemeinsam hier Zeit verbringen können.“ Er hoffe, das Rekordniveau von 2018/19 diese Saison wieder zu erreichen.
Rund 2,3 Millionen Übernachtungen verzeichnete Ischgl im vergangenen Winter, fast 50 Millionen sind es in ganz Tirol. Gute 6 Milliarden Euro „touristische Wertschöpfung“ bringt das pro Jahr.
Der Journalist Sebastian Reinfeldt hat ein Buch über die Ereignisse in Ischgl geschrieben. Der Titel: „Alles richtig gemacht“. Auf seiner Seite „semiosis.at“ hat Reinfeldt die „Ischgl-Files“ dokumentiert. Für Reinfeldt ist klar: Die Behörden hätten den Betrieb „mutwillig weiterlaufen lassen“. Die Lage sei „schöngeredet worden“, mit dem „klaren Ziel, das vorzeitige Ende der Wintersaison hinauszuzögern“. So sehen es viele, auch in Tirol selbst.
Der ÖVP-Politiker Franz Hörl empfängt in seinem palastartigen 4-Sterne-Hotel in Gerlos, im Osten Tirols. In der Gaststube sitzend, kann er sich noch genau an den Nachmittag erinnern, an dem darüber entschieden wurde, ob und wie die Wintersaison endet. Es war der 12. März. Eine Woche nachdem die ersten Meldungen aus Island kamen. „Da bin ich einbestellt worden, zum Landeshauptmann“, sagt der Hotelier und frühere Nationalratsabgeordnete.
Hörl ist einer der wichtigsten Vertreter der Tiroler Tourismuswirtschaft, wenn er die Gremien aufzählt, in denen er für sie sitzt, kommt man irgendwann nicht mehr hinterher. An jenem Nachmittag sei die Situation so gewesen: Die Landesregierung wollte ab dem folgenden Wochenende den Betrieb in ganz Tirol für den Rest der Saison stoppen. 250.000 Gäste wären sonst am Samstag, den 14. März neu angereist. Die sollten nicht mehr kommen.
„Die Entscheidungsgrundlage war dünn, und die Frage war: Ist es verhältnismäßig oder nicht?“, sagt Hörl. „Es zählt ja nicht, was man hinterher weiß, sondern das, was man damals wusste.“ Aber am Abend des 12. März sei dann allen klar gewesen: Es geht nicht anders. „Mutig“ sei das vom Landeshauptmann gewesen, sagt Hörl. Im Auto auf der Rückfahrt habe ihn der Vorstand einer Seilbahngesellschaft angerufen. „Du trägst das mit?“, habe er gefragt. Es sei „alternativlos“ habe er geantwortet. Der Vorstand habe ihm daraufhin vorgeworfen, Schuld daran zu sein, dass „450 Mitarbeiter und Familien in den wirtschaftlichen Untergang getrieben“ werden.
Lois Hechenblaikner, Fotograf
Untergang? Nach Jahrzehnten sprudelnder Einnahmen? Die Pandemie hat gezeigt, wie selbstverständlich Tirol auf die enormen Einnahmen des Wintersports eingestellt, ja von ihnen abhängig ist.
Nach dem Infektionsausbruch hofften viele, dass die Region sich neu aufstelle: nachhaltiger, ökologischer, ruhiger. Mehr Wandern, weniger Jagertee und Saufmusik. Après-après-Ski gewissermaßen. Die millionenschweren staatlichen Coronahilfen wurden als Hebel gesehen, die Tourismuswirtschaft zu einer Neuorientierung zu bewegen – am besten zu einer, die auch gleich noch ökologisch ist.
Franz Hörl sagt, seine Oma habe den Après-Ski in Tirol quasi erfunden, er selbst habe bis 2004 ein solches Lokal betrieben. Seine Frau kommt in die Gaststube, ruft ihn zu den Handwerkern. „Sie können sie ja mal fragen, was sie dazu sagt“, sagt Hörl und geht hinaus.
„Ich hasse Après-Ski“, sagt Margot Hörl dann. „Früher haben wir das auch gemacht. Die Leute kamen vom Berg, tranken zwei Bier, um 18 Uhr war Schluss – okay.“ Aber heute „ist das ja fast kriminell, Hasch, saufen, bis ein Uhr früh. Erst gestern haben die Besoffenen wieder eine Lampe abgefetzt.“
An dem Geschäft hänge er nicht, sagt auch Franz Hörl, als er zurückkommt. Viele hätten darauf gesetzt, Après-Ski nach der Pandemie „umzudrehen“, meint er. Es gab runde Tische bei der Landesregierung; das Management Center Innsbruck, eine Privatuni, habe Konzepte entwickelt. „Ich stünde diesen Ideen nicht entgegen,“ sagt Hörl. „Am Ende des Tages aber hat der Kunde entschieden: Er will es so haben, wie es ist.“
In Ischgl sieht Kitzloch-Wirt Bernhard Zangerl das ähnlich. Auch er hat an den runden Tischen teilgenommen. „Man kann sicher drüber diskutieren; aber so, wie es bei uns ist, schätzt der Gast es am meisten. Sie kriegen hier in der Hauptsaison nie ein freies Zimmer, das muss ja irgendwo auch passen, sonst wäre das ja nicht so.“
Der Tiroler Fotograf Lois Hechenblaikner hat die Schattenseiten der „enthemmten und zügellosen Urlaubswelt“ dokumentiert, wie es in seinem Fotobuch „Ischgl“ heißt. Das Virus, so glaubt Hechenblaikner, konnte sich da, wo „Exzesse nicht die Ausnahme, sondern die Regel“ sind, besonders gut ausbreiten.
Dass die Versuche, eine neue Art von Tourismus aufzubauen, an der stabilen Nachfrage für die alte Art scheiterten, wundert ihn nicht. Hechenblaikner glaubt, dies hänge mit der „deutschen Seele“ zusammen. Denn die sei „eingesperrt“, so sagt er, „zu Glanzleistungen fähig, aber sie wird nur dann belohnt“. Der Exzess in Tirol sei ein „Überdruckventil für die Leistungsgesellschaft“, das die deutschen Tourist:innen dankend annehmen: 54 Prozent der Skitouristen in Tirol kommen aus Deutschland Und „Druckablassen gegen Bezahlung“ – das sei auch deshalb ein besonders lohnendes Business, weil beim Alkohol die Gewinnmarge für die Wirte am höchsten ist.
Es sei wahr: Die Après-Ski-Wirte stünden „nicht draußen mit der Peitsche,“ sagt Hechenblaikner. „Man geht da freiwillig hin.“ Doch das Geschäftsmodell habe Folgen: Schlägereien, Gewalt gegen Rettungskräfte und „xenophobe Rückkopplung“, wie er es nennt. „Das ist das Schlimmste im Tourismus: dass man jene zu hassen beginnt, von denen man lebt“. Tirol sei „nicht so auf die Welt gekommen“, doch nach der Pandemie seien beide Seiten, die Gäste und die Wirte, sofort in die ganzen alten Muster zurückgefallen. „Wie ein Drogenabhängiger, der rückfällig wird.“
Angefangen hat der Ski-Boom vor ungefähr hundert Jahren. 1930 eröffnete die Familie des Kitzloch-Chefs Bernhard Zangerl ihren ersten Gasthof. Damals war das Paznauntal, wie fast die gesamten Tiroler Alpen, eine bettelarme Gegend. Dann kamen die ersten Skilifte und mit ihnen der Reichtum. Heute betreiben die Zangerls sechs Lokale und Restaurants, ein Hotel und einen Bergbauernhof, beschäftigen 170 Mitarbeiter:innen aus 20 Ländern.
Bernhard Zangerl hat sich während der Pandemie überlegt, politisch aktiv zu werden, „für unsere Zukunft Verantwortung direkt selber in die Hand nehmen“. Er gründete mit Freunden und Bekannten aus Ischgl eine politisch mittig stehende Wahlliste namens „B’sinna“. Bei den Kommunalwahlen im Februar 2022 bekam sie fast 60 Prozent der Stimmen. Zangerl ist nun Gemeinderat und -vorstand, zuständig für Bau und Verkehr.
Wie genau stellt er sich die „Verantwortung für die Zukunft“ vor? Man müsse den Klimawandel ernst nehmen, sagt Zangerl, sich für die Zeit Gedanken machen, wenn es keinen Schnee gibt. Da müsse man „auch andere Sachen anbieten, aber wenn das so einfach wäre, dann hätten wir das natürlich schon umgesetzt“.
Auch der ÖVP-Politiker Franz Hörl setzt erst mal darauf, dass alles noch eine Weile weitergeht. In den niedriger gelegenen Skigebieten im Osten Österreichs wird schon heute der Schnee knapp. Die höhergelegene Zillertal-Arena hingegen, zu der Hörls Wohnort Gerlos gehört, investiert 30 Millionen in neue Liftanlagen. „Da wären wir ja schlechte Kaufleute, wenn wir nicht glauben würden, die noch 30 Jahre profitabel zu führen.“
Nach Auskunft von Klimawissenschaftlern sei mit einem Anstieg der Schneefallgrenze um 200 Meter bis 2050 zu rechnen. „Das schaffen wir locker mit den Schneekanonen.“ Was wäre denn die Alternative, fragt Hörl. „Sanfter Tourismus?“ Das Zillertal habe 8,5 Millionen Gäste pro Jahr.
In Sachen Skiwirtschaft mag in Tirol heute vorerst wieder vieles beim Alten sein. Politisch aber haben sich die Dinge verändert. Dass die FPÖ in Österreich heute so stark ist wie nie – das liegt auch an der Pandemie. In deren Frühzeit konnten den Rechtsextremen die Maßnahmen erst gar nicht hart genug sein. Sie warfen der Regierung Untätigkeit und Überforderung vor, klagten gar, sie halte sich nicht an die WHO-Vorgaben für „flächendeckende Tests“.
Doch schon ab April 2020 witterte der FPÖ-Chef Herbert Kickl, dass im wachsenden Unmut über die Infektionsschutzmaßnahmen für ihn eine Riesenschance steckte. Die Partei drehte ihre Linie in Sachen Corona in kürzester Zeit um 180 Grad – und lebt bis heute gut davon, den Unmut weiter zu bewirtschaften. Den Wahlkampfauftakt zur Tiroler Gemeinderatswahl Anfang 2022 etwa absolvierte Kickl kurzerhand auf einer Innsbrucker Querdenker-Demo. In Niederösterreich legte die FPÖ-Landesregierung gar einen millionenschweren „Corona-Opferfonds“ auf, der unter anderem Bußgelder wegen Verstoßes gegen Covid-Maßnahmen zurückerstattet.
Die Rechtsextremen profitieren bis heute
Wegen der Ereignisse in Ischgl hatten sich viele in Tirol damals zu Unrecht an den Pranger gestellt gefühlt. Die Wut auf die Medien und die Regierung hat die FPÖ seither nach Kräften befeuert. Bis zu den Nationalratswahlen im September 2024, so sagen es viele, blieb das Thema präsent.
Im Wahlkampf schrieb die FPÖ, sie werde „niemals vergessen, was uns die schwarz-rot-grün-pinke Einheitspartei während Corona angetan hat“. Alle hätten „die Österreicher drangsaliert und schikaniert“. Doch „gemeinsam mit der Bevölkerung haben wir gegen den Corona-Wahnsinn angekämpft und so den Impfzwang zu Fall gebracht“. Am Ende stand das beste Ergebnis aller Zeiten für die FPÖ.
Der Aktivist und Lokalpolitiker Mesut Onay sitzt für die Alternative Liste im Innsbrucker Gemeinderat. Als in Ischgl Covid ausbrach, unterstützte er osteuropäische Saisonarbeiter, die jedes Jahr zu Tausenden nach Tirol kommen – und damals teils ohne Einnahmen und Unterkunft dastanden. Das wirke sich bis heute auf das ohnehin schwierige Werben von Arbeitskräften aus, sagt Onay bei einem Treffen in Innsbruck.
Dass die Rechtsextremen die Coronamaßnahmen erfolgreich instrumentalisieren konnten, zeige das größte Versäumnis in der Pandemie. „Covid hat die Probleme, die es gab, zugespitzter vor Augen geführt“, sagt Onay. Alle seien damals für Reformen gewesen, doch: „Hauptsache, das Geld fließt in Richtung Unternehmen. Die haben dann versprochen, sie machen nachhaltigen Tourismus und alles.“ In der Krise seien alle Sozialisten, kaum sei die Krise vorbei, setzten sich die Neoliberalen wieder durch. „In dieser Ideologie ist das Private alles und der Staat ist nichts.“ Auch so komme dann die FPÖ mit ihrer neoliberalen Ideologie ins Spiel.
„Der Turbowettbewerb ist nicht reglementiert worden“, sagt Onay. „Nach der Pandemie hatten die Skigebiete das Gefühl, sie müssten alles wieder aufholen.“ Man habe „nicht wieder auf Normalbetrieb umstellen dürfen“. In Zukunft werde es mehr Krisen statt weniger geben. Darauf müsse die Gesellschaft sich vorbereiten. „Man hätte dafür so viel aus Covid lernen können“, sagt Onay in Innsbruck.
In Langenfeld wartet Jürgen Stang derweil weiter darauf, dass der Gerichtshof in Straßburg seine Klage annimmt. „Juristisch wird das schwer“, sagt Stang. „Aber ich zieh das durch bis zuletzt.“
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