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Europa reagiert auf Oval-Office-Eklat„Die freie Welt braucht einen neuen Anführer“

Die EU, Frankreich und Deutschland stellen sich demonstrativ hinter die Ukraine, während sich der britische Premier in Zurückhaltung übt. In Russland herrscht dagegen Genugtuung.

Kaja Kallas spricht den USA ab, in der westlichen Welt künftig weiter die Führungsrolle einnehmen zu können Foto: Virginia Mayo/ap/dpa

Washington/LONDON afp/dpa/rtr | Der beispiellose Eklat im Weißen Haus zwischen US-Präsident Donald Trump und dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj hat bei den europäischen Verbündeten der Ukraine Fassungslosigkeit ausgelöst. Zahlreiche Regierungen bekundeten Selenskyj in der Nacht zum Samstag ihre Solidarität, nachdem dieser vor der Weltöffentlichkeit von Trump zurechtgewiesen und wegen angeblicher Respektlosigkeit getadelt wurde. Während die EU-Außenbeauftragte Kaja Kallas erklärte, angesichts des Verhaltens der US-Führung brauche die freie Welt nun einen neuen Anführer, herrschte im Kreml in Moskau Genugtuung.

Trump, angefeuert von seinem Vizepräsidenten JD Vance, und Selenskyj gerieten am Freitag bei ihrem Treffen im Oval Office vor laufenden Kameras heftig aneinander. Trump und Vance warfen Selenskyj fehlende Dankbarkeit für die US-Militärhilfe und Respektlosigkeit vor, der US-Präsident drohte zugleich mit einem Ende der Unterstützung.

Selenskyj verließ das Weiße Haus im Streit, die eigentlich geplante Unterzeichnung des Rohstoffabkommens zwischen den USA und der Ukraine sowie eine gemeinsame Pressekonferenz waren geplatzt. US-Medien berichteten, der ukrainische Staatschef sei von Trump-Mitarbeitern aufgefordert worden, das Weiße Haus zu verlassen.

Nach dem Eklat erklärte Selenskyj in einem Interview, er respektiere „den US-Präsidenten und das amerikanische Volk“. Auf die Frage, ob er sich bei Trump entschuldigen wolle, antwortete er: „Ich bin nicht sicher, dass wir etwas Schlimmes getan haben.“ Zugleich zeigte sich der ukrainische Präsident mit Blick auf die Beziehungen zu den USA weiter zuversichtlich: „Natürlich“ sei das Verhältnis zwischen Washington und Kiew noch zu retten, sagte er.

In seinem Onlinedienst Truth Social erklärte Trump später, Selenskyj habe den USA in ihrem „geliebten Oval Office keinerlei Respekt entgegen gebracht“. Selenskyj sei „nicht zu einem Frieden bereit“, er könne „zurückkommen, wenn er bereit für den Frieden ist“. US-Außenminister Marco Rubio verlangte, Selenskyj solle sich bei Trump „dafür entschuldigen, dass er unsere Zeit für ein Treffen verschwendet hat“.

Nach dem Eklat bekundeten zahlreiche europäische Spitzenpolitiker ihre Solidarität mit der Ukraine. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) schrieb im Onlinedienst X, auf Deutschland und auf Europa könne „sich die Ukraine verlassen“. Der CDU-Chef und voraussichtliche künftige Bundeskanzler Friedrich Merz erklärte auf X: „Wir dürfen nie den Aggressor und das Opfer in diesem schrecklichen Krieg verwechseln.“

Frankreichs Präsident Emmanuel Macron sagte vor Medienvertretern er denke, „es war richtig, dass wir alle vor drei Jahren der Ukraine geholfen und Russland sanktioniert haben und dies auch weiterhin tun werden“.

Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni rief zu einem Gipfel der USA und der Europäer auf. Dabei solle besprochen werden, wie mit den großen Herausforderungen der Gegenwart umgegangen werden soll, angefangen mit der Ukraine. „Jede Spaltung des Westens schwächt uns alle und hilft denen, die einen Niedergang unserer Zivilisation sehen wollen“, heißt es in einer Erklärung.

Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock schrieb auf sozialen Medien: „Die Ukraine ist nicht allein. Deutschland steht gemeinsam mit unseren europäischen Verbündeten geschlossen an der Seite der Ukraine – und gegen die russische Aggression.“ Sie betonte: „Die Ukraine kann auf unerschütterliche Unterstützung aus Deutschland, Europa und darüber hinaus bauen.“

Die EU-Außenbeauftragte Kaja Kallas sprach den USA ab, in der westlichen Welt künftig weiter die Führungsrolle übernehmen zu können: „Heute ist klar geworden, dass die freie Welt einen neuen Anführer braucht“, schrieb Kallas in Onlinenetzwerken. Die Europäer forderte sie auf „diese Herausforderung anzunehmen“.

SNP-Politiker: britische Einladung zurücknehmen

Ein führender Politiker der Schottischen Nationalpartei SNP hat gefordert, die britische Einladung an US-Präsident Donald Trump durch Premierminister Keir Starmer wieder zurückzuziehen. „Starmer sollte besser aufhören zu knien und das Angebot eines Staatsbesuchs zurückziehen“, schrieb Stephen Flynn, der SNP-Fraktionschef im britischen Parlament auf X.

Was als durchaus gelungener Versuch galt, Trump milde zu stimmen, droht nach dem Eklat zwischen Selenskyj und dem US-Präsidenten, nun für Starmer zur Belastung zu werden. Schon bei früheren Besuchen Trumps während dessen erster Amtszeit kam es zu erheblichen Protesten in Großbritannien. Der einflussreiche britische LBC-Journalist Lewis Goodall schrieb auf X, das Angebot zum Staatsbesuch sei nach dem vor laufenden Kameras ausgetragenen Wortgefecht zwischen Trump und Selenskyj nun ein „Alptraum“.

Keir Starmer hatte Trump im Rahmen seines Besuchs in Washington in dieser Woche eine Einladung von König Charles III. zu einem historischen zweiten Staatsbesuch im Vereinigten Königreich überreicht.

Anders als Wolodymyr Selenskyj einen Tag später hatte Starmer ein überaus harmonisches Treffen mit dem US-Präsidenten. Nach dem Eklat zwischen Selenskyj und Trump bekundete Starmer seine Unterstützung für den ukrainischen Präsidenten nicht direkt im Anschluss per Social Media. Der Brite versucht, sich als Brückenbauer über den Atlantik zu positionieren. Für Sonntag hat er zu einem Ukraine-Gipfel mit Selenskyj und europäischen Staats- und Regierungschefs geladen.

Starmer habe sowohl mit Selenskyj als auch mit Trump telefoniert, teilte der Regierungssitz Downing Street mit, nachdem der Ukrainer das Weiße Haus vorzeitig verlassen hatte. „Er behält seine unerschütterliche Unterstützung für die Ukraine bei und tut alles, was er kann, um einen Weg zu einem dauerhaften Frieden auf Grundlage von Souveränität und Sicherheit für die Ukraine zu finden“, sagte ein Downing-Street-Sprecher.

Moskauer freut sich über „Ohrfeige“

Selenskyj bedankte sich am Freitag und Samstag in zahlreichen einzelnen Online-Beiträgen bei X bei den westlichen Verbündeten. „Danke für ihre Unterstützung“, schrieb er als Reaktion auf rund 30 Veröffentlichungen, in denen die Verbündeten der Ukraine ihre Solidarität bekundeten.

Aus Moskau war hingegen Genugtuung über den Streit zwischen Trump und Selenskyj zu vernehmen. Der ehemalige russische Präsident Dmitri Medwedew nannte Selenskyj ein „anmaßendes Schwein“, das „im Oval Office eine ordentliche Ohrfeige“ erhalten habe. Der russische Unterhändler in den Gesprächen mit der US-Seite, Kirill Dmitrijew, nannte die Auseinandersetzung zwischen beiden Staatschefs „historisch“.

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