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Milieus in DeutschlandFällt die politische Mitte auseinander?

Eine Analyse, die der taz exklusiv vorliegt, zeigt: Die Wäh­le­r­:innenschaft ist entlang der Konfliktlinie Modernisierung polarisiert.

Vielschichtig: Ein Arbeiter überklebt in Berlin Wahlwerbung Foto: Stefan Boness/Ipon

Berlin taz | Schon am Abend der Bundestagswahl stand der eigentliche Verlierer fest: die politische Mitte. Die Ampelparteien verloren drastisch, die Union blieb weit hinter ihren Erwartungen. Aber wie genau haben die Parteien in den einzelnen sozialen Mi­lieus abgeschnitten? Ist die Wahlkampfstrategie der Grünen aufgegangen, konservative Wäh­le­r:in­nen anzusprechen? War der Anti-Ampel-Kurs der Union ­hilfreich?

Diese Fragen hat eine Wahlanalyse der Bertelsmann Stiftung untersucht, die der taz exklusiv vorliegt. Die Erhebung stützt sich auf die sogenannten Sinus-Milieus, die die deutsche Bevölkerung in Lebenswelten einteilen. Darunter versteht man Gruppen Gleichgesinnter, die neben der ähnlichen so­zia­len und ökonomischen Lage auch ähnliche Wertvorstellungen haben.

Angesichts der Selbstdemontage der Ampelparteien durch eine schlechte Regierungsperformance hätten es CDU und CSU nicht geschafft, hiervon zu profitieren, so die Analyse. Insgesamt büßten SPD, Grüne und FDP fast 30 Prozentpunkte in den Milieus der Mitte ein – bei der Union landeten davon lediglich fünf Prozentpunkte. Ein Alarmsignal für die Union, die in ihren Stammmilieus schlecht abgeschnitten habe.

Das sticht am Beispiel der „adaptiv-pragmatischen Mitte“ hervor, also der Personen, die sich als zukunftsoptimistisch, veränderungsbereit, aber auch pragmatisch beschreiben. Neben dem Wunsch nach Humanität sind ihnen Ordnung, Kontrolle und Sicherheit wichtig, sie stellen 12 Prozent der Bevölkerung. Hier konnte die Union seit 2021 nur wenig hinzugewinnen, während die AfD um 19 Prozentpunkte zulegte.

Jetzt liegen Union und AfD mit jeweils 32 Prozent gleichauf. „Die Unionsstrategie der Fundamentalopposition hat ihre Kern­wäh­ler­mi­lieus offenbar nicht überzeugt – sie hat sie eher in die Arme der AfD getrieben“, sagt Robert Vehrkamp, Autor der Wahlanalyse. Wer AfD-Narrative bediene, stärke das Original.

Konfliktlinie durch die Mitte

Besonders schwer habe es die ehemalige Volkspartei SPD getroffen. Im „prekären Milieu“ verlor die SPD 21 Prozentpunkte, in der „adaptiv-pragmatischen Mitte“ halbierte sich ihr Ergebnis. Zwar konnte sie bei progressiven Gruppen wie den „Postmateriellen“ und „Performern“ überdurchschnittlich abschneiden, doch ihr Profil als Volkspartei verblasse.

Die Grünen blieben eine Milieupartei, obwohl sie eher einen Volkspartei-Wahlkampf gemacht hätten, sagt Vehrkamp. Während sie bei ihrer Kern­wäh­le­r:in­nen­schaft – etwa den „Postmateriellen“ – um 11 Prozentpunkte im Vergleich zur vorherigen Wahl zulegen konnten, fielen sie in anderen Mi­lieus unter 5 Prozent. Eine klassische Milieupartei mit sta­biler Kern­wäh­le­r:in­nen­schaft zu sein, könne aber auch eine Stärke sein.

Insgesamt könnten die zehn Sinus-Milieus in drei Gruppen eingeteilt werden. Den einen Pol bildeten modernisierungsskeptische Milieus. In der Mitte fänden sich die „Modernisierungsanpasser“, Personen, die längst Wärmepumpen verbauten, aber abgestoßen seien von ideologischer Klimapolitik. Den anderen Pol bildeten die „Modernisierungsbefürworter“. Bei der Wahl habe sich nun eine polarisierte Parteienlandschaft entlang der Konfliktlinie Modernisierung herauskristallisiert.

Diese Konfliktlinie gehe diagonal durch die Mitte. „Scheitert die Regeneration der Mitte, droht eine parteipolitische Bi­polarisierung in zwei unversöhnliche Lager“, sagt Vehrkamp. Auf der einen Seite würden sich CDU/CSU, AfD und FDP zum nationalkonservativen Lager gruppieren, auf der anderen Seite SPD, Grüne und Linke mit einer progressiven Ausrichtung. Bei der Abstimmung über den Migrationsantrag der Union am 29. Januar sei diese Lagerbildung erstmals politische Realität geworden.

Dabei müsse die Mitte für beide Lager anschlussfähig bleiben, sagt Vehrkamp. Zen­tral dafür sei die Kooperations- und Koalitionsfähigkeit aller Parteien der Mitte. Dazu zähle auch eine erneuerte Linkspartei. Ansonsten drohe schon bei den nächsten Wahlen in ostdeutschen Bundesländern, dass es keine Regierung ohne AfD-Beteiligung gäbe.

Wenn die Mitte scheitert, scheitert dann auch die Demokratie? Nein, aber eine Demokratie ohne Mitte sei deutlich riskanter, sagt Vehrkamp. Ein Blick in die USA unter Donald Trump reiche dazu aus.

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8 Kommentare

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  • Fortschritt Tradition ist eine der herkömmlichen Trennlinien zwischen Links und Rechts. Die andere große ist die vielen "unten" die wenigen "oben".

    Umweltschutz könnte übrigens durchaus rechts sein, im Sinne von Bewahren, wenn da nicht die Fossil- und Autolobbyisten gewisse Parteien im Sack zu haben schienen.

  • Hui - seit 2017 schon



    " Modernisierungsanpasser " - 😊



    Aber seit 2022 sind wir keine unterstützenden



    " Grünenanpasser " mehr !



    Dann doch mal lieber " Mitte Links " 😂

  • Wenn alle mit allen zusammenarbeiten können, ist der Raum der Möglichkeiten größer. Das kann zumindest zu besseren Ergebnissen führen.

    Doch ist Lagerbildung nicht der Normalfall in der Politik?

    Die Zeit mit der flexibelsten, lagerfreisten Ausrichtung der Parteien ging einher mit äußerst niedriger Wahlbeteiligung und dem Aufstieg der neuen Parteien WASG und AfD.



    Starke Zeichen dafür, was auch den meisten bewusst war:



    Den Parteien fehlt die Kontur, sie unterscheiden sich zu wenig -



    und sie repräsentierten große Teile der Bevölkerung nicht mehr.

    Vielleicht besteht das Repräsentanzproblem aktuell auch:



    Denn aufgrund der hoch eingeschätzten Bedeutung der letzten Bundestagswahl haben sich viele nicht getraut, Parteien zu wählen, die unter 5 % landen könnten. Mit BSW, FDP, freien Wählern und Volt sähe es mit Lagerbildung wohl nicht so simpel aus.

  • "Personen, die längst Wärmepumpen verbauten, aber abgestoßen seien von ideologischer Klimapolitik." Diese kurzerhand nicht unter "Modernisierungsbefürworter" zu zählen empfinde ich persönlich als Unverschämtheit. Muss man ideologische Klimapolitik lieben, um Befürworter einer Klimawende zu sein?

    • @PeterArt:

      Was soll eigentlich ideologische Klimapolitik sein?

      • @Klobrille:

        www.openpetition.de/vetorecht ☘️

        • @Alex_der_Wunderer:

          Danke für den Link, habe soeben gleich unterschrieben. Hoffen wir auf Erfolg.

          • @*Sabine*:

            👍👍 Auf das unsere Stimmen gehört werden - wir können ja nicht laut genug sein 😉

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