Abschied von europäischen Gewohnheiten: Auf der Suche nach unserer Stärke
Die Europäer sind es nicht gewohnt, Machtpolitik zu betreiben. Aber wenn die USA als Schutzmacht ausfallen? Eine Zugfahrt kann Hoffnung machen.
I n den Sommern meiner Kindheit prallten die Welten nur so aufeinander: Bei meinen Verwandten galt ich als das Mädchen aus dem Westen – verwöhnt und provinziell, weil ich bis dahin die meiste Zeit in Frieden und ohne große weltpolitische Krisen aufgewachsen war. Sie hingegen, die im Freilichtmuseum der untergegangenen Sowjetunion, in Transnistrien, unter russischem Einfluss lebten, verstanden sich als die wahren Hüter der Freiheit.
„Die USA gehen bald unter, wirst du schon sehen“, schrie mein Couch-Politologen-Onkel jedes Mal im Streit, den wir eigentlich gar nicht haben durften, weil zu Beginn jedes Besuchs zwei Regeln aufgestellt worden waren: keine Gespräche über Politik und keine über Religion. Ich weinte da meistens schon, weil ich nicht verstehen konnte, wie ich mit diesen Menschen verwandt sein konnte. Für die Verwandtschaft war das alles nur ein Scher: Haha, lustig! Wie ernst du alles nimmst! Für mich nicht.
Mit dem Untergang der USA, damit hätte mein Onkel jetzt vielleicht sogar recht, scherzte ein Kollege, als ich ihm von diesen Erinnerungen erzählte. Ich musste lachen, ja, vielleicht, und es schauderte mich zugleich.
Es mag naiv und albern klingen, aber die Existenz der Vereinigten Staaten als westliche Großmacht, die Tatsache, dass sie eine Lebensversicherung für die Länder des Westens verkörperten, hat mir immer Sicherheit gegeben. Ich dachte: egal was kommt, die haben wir im Rücken. Weil ich umgekehrt wusste: Unter russischem Einfluss, in putinschen Verhältnissen will ich niemals leben.
Mindestens angekratzt
Mit Donald Trump an der Spitze der USA ist das transatlantische Verhältnis auf die Probe gestellt worden. Die einen sagen, es sei dahin, zerrüttet, mindestens angekratzt. Wer steht jetzt noch für „den Westen“, wenn sein einstiger Vorkämpfer und Anführer, die USA, in Arbeitsverweigerung getreten sind, weil Trump die Idee eines freien Westens zutiefst verachtet?
Ich las davon, dass die EU mehr Mut bräuchte. Ist es das? Ich glaube nicht, dass es um fehlenden Mut geht, eher um Bequemlichkeit, Zaghaftigkeit. Es ist wie mit alten Gewohnheiten, die man ablegen möchte, um neue Routinen aufzubauen: mit ihnen anzufangen ist schwer, meistens sträubt man sich, es braucht ein paar Anläufe. Manchmal verwirft man sie, um sie im nächsten Jahr wiederzuentdecken. Bis sie dann endlich sitzen, das braucht Zeit. Aber diese haben die Ukrainer, hat Europa nicht.
Die Europäer sind es nicht gewohnt, Machtpolitik zu betreiben. Mussten sie ja bislang nicht. Da war ein transatlantischer Verbündeter – und Russland wurde lange Zeit nicht als Feind betrachtet.
„Erfolgreiche Diplomatie braucht Zwangsmittel im Hintergrund“, kommentierte Journalist Jörg Lau kürzlich im Deutschlandfunk Kultur. Heißt: Machtpolitik lebt von Diplomatie und von Drohungen. Nur aus einer Position der Stärke kann erfolgreich verhandelt werden. Diese aufzubauen, hat Europa in den vergangenen Jahren verpasst – und damit auch die Ukraine gefährdet.
Ungleich, aber angenehm
Gerade erst fand ich mich in einem tschechischen Speisewagen wieder. Ein ukrainisches Paar trank Tee und Bier, ich aß Gulaschsuppe und ein deutscher Fußballfan sang betrunken Lieder.
Wir waren eine ungleiche, aber angenehme Gruppe. Dass seine Kenntnisse des östlichen Europas jenseits der Grenze zu Polen endeten, offenbarte der in Fußballschals gewickelte Betrunkene, da er nicht verstehen wollte, dass die Kellner aus dem tschechischen Prag kamen, nicht aus Polen („Tschechien, Tschechien, ich kenne nur Krakau.“).
Dem ukrainischen Paar zugewendet, bemerkte er, zu meiner Überraschung, dass Trump sich nur für sich selbst interessiere, Russland der Aggressor sei, und es ihm leid tue, dass der Angriffskrieg andauere. Die Ukrainer lächelten amüsiert, überrascht und ein wenig dankbar. Und ich war hoffnungsvoll, wenn auch für einen kurzen Moment.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Deutsche Nahostpolitik
Verlogen und verloren
Trump verbietet Worte
Buchstäblich ungerecht
Klimapolitik und Arbeiterklasse
„Das Klima schützen darf kein teurer Lifestyle sein“
Widerstehen mit Dietrich Bonhoeffer
Gefährlicher als das Böse ist die Dummheit
Einigung zwischen Grünen, SPD und Union
Ein neuer grüner Deal
Schuldenbremse und Sondervermögen
Investitionen für die langfristige Verteidigung