: Das Leben meiner Mutter
Für ihre Familie hat Renate alles getan, ihren eigenen Schmerz hüllte sie in Schweigen und Vorwürfe. Als die Mutter unserer Autorin stirbt, beginnt das Nachdenken: Haben sie sich wirklich gekannt?
Von Barbara Oertel
Es ist Dezember 2021. Gerade habe ich meiner Mutter Renate am Telefon mitgeteilt, dass ich sie an Weihnachten diesmal nicht würde besuchen können. Auch in dem Pflegeheim in Flensburg, in dem sie seit einem Gehirnschlag vor über zehn Jahren lebt, gelten strenge Coronaregeln. Die Alternative wäre allenfalls ein kurzer lächelnder Blick durch eine Plexiglasscheibe gewesen, die Hand an der Scheibe aufgelegt. „Das erste Mal wird Weihnachten niemand von der Familie da sein. Das ist das Schlimmste, was ich seit der Flucht erlebe“, sagt sie, ihre Stimme zittert.
Zwei Monate später, im Februar, stirbt Renate – allein, wie so viele in dieser Zeit, und in ihren letzten Stunden nur von einer Pflegerin begleitet. Sie habe meiner Mutter noch die Fingernägel lackiert. Gepflegt zu sein, das habe ihr immer so viel bedeutet, erzählt sie bei der Trauerfeier, die bizarr anmutet. Rund 30 Personen verteilen sich in der weiträumigen Marien-Kirche in Flensburg und stehen danach noch auf dem Hof mit gebührendem Abstand zusammen, bevor kurze Zeit später alle auseinandergehen. Denn auch der „Leichenschmaus“ fällt der Pandemie zum Opfer.
Auf der Rückfahrt mit dem Zug nach Berlin denke ich über meine Mutter nach, was mir seit ihrem Tod, ehrlich gesagt, nicht oft passiert. Außer jetzt, da ich diesen Text schreibe. Habe ich sie wirklich gekannt und sie mich, das zweite ihrer drei Kinder? Ein „verpfuschtes“ Leben – so resümiert meine um sieben Jahre jüngere Schwester einmal Renates 88-jähriges irdisches Dasein. Das hätte meine Mutter so über sich nie gesagt – wie überhaupt stets so vieles ungesagt und unausgesprochen blieb, wenn es um sie, ihre Träume, Wünsche, Hoffnungen und Enttäuschungen ging.
Sich selbst ist Renate nichts, dafür die Familie für sie alles. Mit klar traditioneller Rollenverteilung. Der Mann gibt den Ernährer, die Frau kümmert sich um Haushalt und Nachwuchs. „Ich halte ihm den Rücken frei“ – so lautet einer ihrer Standardsätze, den ich schon in frühester Jugend zu hassen lerne. Den Rücken frei hält Renate meinem Vater auch in meinen ersten Lebensjahren, die ich wegen mehrerer Operationen größtenteils in Krankenhäusern verbringe. Ich sehe verschwommen mein Zimmer zu Hause vor mir, mit einer Truhe, darauf stehen brennende Kerzen. Auch der ortsansässige evangelische Pastor schaut kurz vorbei – für den Fall des Falles. Müßig die Frage, wer fast Tag und Nacht an meinem Bett sitzt.
Wir wohnen recht abgeschieden in Schleswig-Holstein, 15 Kilometer südlich von Flensburg auf dem Gelände einer Erwachsenenbildungsstätte an einem See. Der Weg von dort zur Bundesstraße führt durch ein Waldstück. Renate kutschiert mich bei Wind und Wetter, zunächst über Land in die nächstgelegene Grundschule, später an eine Bushaltestelle, um nach Flensburg zu fahren, wo ich ein Gymnasium besuche. Es ist ihr Beitrag zum Credo dieser Generation, den Kindern solle es einmal besser gehen – besser, auch als ihr.
Meine Mutter ist zwölf Jahre alt, als ihre Familie 1945 aus Königsberg (heute Kaliningrad) vor der Roten Armee flieht. Sie landen in Oldenburg, einer verschlafenen Kleinstadt in Ostholstein. Sie sind nicht willkommen und werden misstrauisch beäugt von den Alteingesessenen. Sich wegducken und möglichst geräuschlos einfügen in die neue Gesellschaft, lautet das Gebot der Stunde. In der zehnten Klasse muss Renate das Gymnasium verlassen, da die Familie das Schulgeld nicht mehr aufbringen kann.
Als Kind war ich mit meiner Mutter fast in allen Ferien in Oldenburg bei ihrer elf Jahre älteren Schwester Ruth. Sie ist meine Lieblingstante. Wenn der Eierverkäufer aus dem Nachbarort kommt, werde ich aus dem Zimmer geschickt, aber ich lausche heimlich an der Tür. Es wird ostpreußischer Dialekt gesprochen.
2015 treffen sich einige taz-Kolleg*innen zu einer Besprechung über mögliche Beiträge für Sonderseiten aus Anlass des 70. Jahrestages zum Ende des Zweiten Weltkrieges. Einer von ihnen berichtet von einer Studie über Nachkriegskinder, die als Erwachsene vielfach körperliche Nähe nicht zulassen könnten. Das Gesagte trifft mich ins Mark. Auch Renate und ich konnten uns nie richtig in den Arm nehmen, geschweige denn Zärtlichkeiten austauschen.
Ein paar Monate später rufe ich im Pflegeheim an. Sie ist, ganz untypisch, kurz angebunden. Gerade liefen die Nachrichten, da ging es um Flüchtlinge. „Die kommen doch übers Meer, so wie wir damals über das Meer gekommen sind“, sagt sie und legt auf. Ich atme tief durch. Endlich einmal spricht sie etwas aus, anstatt Dinge in Schweigen zu hüllen und wegzuignorieren.
So wie an einem Tag, als wir beide, ich noch Schülerin, zu Hause in der Küche sitzen. Meine Mutter redet über ihren bevor stehenden Hochzeitstag. Für sie ist der Tag einer der wichtigsten Tage im Jahr. Im Juni 1957 heiratet sie meinen Vater, im Dezember desselben Jahres kommt mein Bruder auf die Welt. Ich frage: „Aber da warst du doch schon …“, ein bohrender Blick ihrerseits beendet das Thema. In der Pubertät werde ich mir immer mehr bewusst, dass ich mich manchmal vor anderen Leuten für meine Mutter schäme. Aber noch größer ist die Scham darüber, dass ich mich für sie schäme.
1984 ist es mit der vermeintlichen Familienidylle vorbei – mein Vater trennt sich wegen einer anderen Frau. Ich, die ich mich meinem Vater in der Familie am engsten verbunden fühle, soll es richten und ihn davon überzeugen, bei ihr zu bleiben. Doch ich weigere mich, ich will und kann „nicht liefern“, so wie ich später in den Augen meiner Mutter auch nicht liefern werde. Renate kommt nie über diese Trennung hinweg.
In den nuller Jahren stirbt die mittlere Schwester meiner Mutter. Die Beerdigung findet im ostholsteinischen Heiligenhafen statt. Die kleine Kirche ist bis auf den letzten Platz besetzt. Ganz vorne sitzen der Mann meiner Tante und ihr gemeinsamer Sohn Michael, dessen Lebenspartner kauert in der letzten Bankreihe. Sie wollen keinen Anstoß erregen. Da geht meine Mutter nach hinten, kurz darauf nimmt der jetzige Mann meines Cousins neben ihm Platz. Mein Onkel erstarrt, lässt es aber geschehen. Später wird Renate erzählen, sie habe ihn darum gebeten, denn er gehöre doch zur engsten Familie.
Den Abend desselben Tages verbringen Ruth, meine Mutter und ich in Oldenburg. Wir reden über die Verstorbene und leeren dabei eine Flasche Eierlikör. Ruth hat mit 17 Jahren geheiratet und eine Tochter geboren, ihre zweite Tochter ist das Ergebnis des ersten und einzigen Fronturlaubs ihres Mannes, den sie danach nie wieder sieht. Im Osten verschollen, heißt es. Sie bleibt fortan allein. „Hättest du gerne noch einmal eine Beziehung gehabt?“, will ich wissen. Meine Mutter braust auf: „Wie kannst du es wagen, so etwas zu fragen?“, zischt sie mich an. Ruth bleibt ruhig. „Endlich fragt mich mal jemand, nach über 50 Jahren. Ich hätte manchmal Lust gehabt, in den Dorfkrug zum Tanzen zu gehen und auch gerne noch einmal einen Mann im Bett gehabt“, sagt sie und dreht den Kopf zur Seite, dahin, wo ihre Schwester sitzt. „Aber das hat ja niemanden von euch interessiert.“
Es muss bei einer unserer letzten Begegnungen gewesen sein. „Wie kann man eigentlich so leben, wie du lebst? Du bist nicht verheiratet, hast keine Kinder …“, sagt meine Mutter. „Lass gut sein“, antworte ich, „ich lebe.“ Zu diesem Zeitpunkt habe ich die 50 hinter mir gelassen und die Frage nach Nachwuchs hat sich ohnehin erledigt. Meine Mutter blickt mich an und wieder einmal spüre ich es – die stillen Vorwürfe, den Argwohn und das Unverständnis gegenüber diesem Menschen, der da aus ihrem Schoß gekrochen ist.
Manchmal bedauere ich, mit Renate nicht mehr Zeit verbracht zu haben. Doch ob wir uns nähergekommen wären? Wohl kaum.
Wieder Dezember 2021, ein Tag vor Weihnachten. In meinem Postkasten liegt ein Brief von Renate. Auf einer Weihnachtskarte steht: „Ich wünsche Dir schöne Weihnachten und alles Gute im neuen Jahr. Deine Mama“. Beigelegt sind 50 Euro. Das Kuvert mit Karte und Geld steht immer noch in meinem Regal.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen