: Von Gisèle Pelicot inspirieren lassen
Der Blick ins nächste Jahr ist für Feminist*innen kein Anlass, Trübsal zu blasen. Auch wenn sich das für manche vielleicht anders darstellt
Von Katrin Gottschalk
Fünf Frauen stoßen in einem Berliner Restaurant auf Gisèle Pelicot an. Es ist der 19. Dezember 2024, ein historischer Tag, an dem 51 Täter im französischen Avignon wegen Vergewaltigung verurteilt wurden. Frauen weltweit nehmen Anteil an diesem Prozess. Sie fühlen sich verbunden mit Gisèle Pelicot, denn die meisten Frauen haben in ihrem Leben selbst sexuelle Gewalt erfahren. Laut einer Studie der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte jede dritte bis vierte Frau in Deutschland. Diese Zahl ist zwar schon zehn Jahre alt, aber verbessert haben dürfte sich die Situation für Frauen nicht. Das Bundeskriminalamt zählte allein für das vergangene Jahr 180.715 Frauen, die hierzulande Gewalt in der Partnerschaft erlitten – und damit mehr als im Jahr 2022. Auch die Zahl der Frauen, die Vergewaltigung und sexuelle Nötigung erlebt haben, ist im vergangenen Jahr auf 52.330 gestiegen. Fast jeden Tag wird in Deutschland eine Frau getötet, weil sie eine Frau ist, zwei Drittel von ihnen durch ihren Partner oder Ex-Partner.
Diese Zahlen mögen auf viele abstrakt wirken – weil Opfer oft schweigen. Doch schaut man sich die Zahlen an, ist offensichtlich, dass jede*r von uns Frauen im persönlichen Umfeld hat, die bereits Opfer sexueller Gewalt waren. Deshalb ist der Respekt gegenüber Gisèle Pelicot so groß. Und die Hoffnung ist ebenso groß, dass dieser Fall zu einem Wandel führt. Dass Gewalt gegen Frauen endlich aufhört. Aber Donald Trump als baldiger US-Präsident und Friedrich Merz als möglicher nächster Bundeskanzler geben keinen Anlass zur Hoffnung für 2025.
1997 stimmte Friedrich Merz gegen einen Gesetzesvorschlag, der Vergewaltigung innerhalb der Ehe als Straftatbestand definierte. Merz war gegen den überfraktionellen Antrag, weil dieser keine Widerspruchsregelung enthielt, die die Regierungskoalition aus Union und FDP im Gesetz haben wollte. Die Strafverfolgung hätte auf Wunsch der Frau gestoppt werden können. Diese Regelung hätte in der Realität natürlich eher dazu geführt, dass Frauen auf Druck des Partners ihre Anzeige wieder zurückgezogen hätten.
Wegen dieser Widerspruchsregelung kündigte die SPD an, das Gesetz im Bundesrat zu blockieren, die SPD-Bundestagsabgeordnete Ulla Schmidt organisierte im Bundestag gemeinsam mit den Grünen einen überfraktionellen Gruppenantrag mit demselben Wortlaut wie in der Vorlage der Koalition, aber ohne die Widerspruchsregelung. Dieser Antrag ging durch. Es ist wichtig, sich nicht nur daran zu erinnern, wer 1997 gegen den Antrag stimmte – sondern auch, wer ihn möglich machte und durchbrachte, nämlich eine überfraktionelle Gruppe von Politiker*innen von SPD, Grünen, CDU/CSU, FDP und PDS.
Ulla Schmidt schloss ihre Auftaktrede zur Abstimmung mit den Worten: „Ich wünsche mir sehr, dass wir bei unserer heutigen Abstimmung gemeinsam deutlich machen: Nichts ist unmöglich, wenn es das Richtige ist.“ Ist das nicht eine Inspiration, die wir von 1997 ins Heute mitnehmen sollten? Zwei Drittel aller Vergewaltigungen erleben Frauen zu Hause, im Freundeskreis oder am Arbeitsplatz. Das Spektrum männlicher Gewalt reicht von psychischer über körperliche Gewalt bis hin zu Tötungsdelikten. Deshalb stellte Bundesfamilienministerin Lisa Paus am 6. November das Gewalthilfegesetz vor. Es soll Frauen Schutz und Beratung bei häuslicher Gewalt zusichern und ausreichend Frauenhausplätze schaffen.
Doch nur wenige Stunden später besiegelte Olaf Scholz das Ende der Ampelregierung. Angeblich soll trotzdem noch ein entsprechendes Gesetz durchkommen. Aktuell befinden sich dazu Union, SPD und Grüne in Gesprächen miteinander, ein überfraktioneller Zusammenschluss ist wieder nötig – und möglich. Wie 1997 gibt es einen konkreten Streitpunkt: In Paus’ Entwurf sollen Frauen nicht nur aufgrund ihres biologischen Geschlechts ein Recht auf einen Frauenhausplatz haben, sondern auch aufgrund ihrer Geschlechtsidentität. Da will die Union nicht mitgehen, sie stellt trans Frauen als Gefahr statt als Opfer dar. Dabei zeigt der Bericht des Bundeskriminalamts vom Mai 2024, dass die Gewalt gegen trans*, intergeschlechtliche und nicht binäre Menschen um etwa 105 Prozent gestiegen ist.
Die Union möchte nur biologische Frauen schützen. Sollten SPD und Grüne hier mitgehen, um einen Kompromiss zu erzielen? Oder will die Union nur Gründe finden, um ein gemeinsames Gesetz zu verhindern? Ein wenig mehr Protest auf der Straße als Rückenwind für mehr Gewaltschutz wäre ein gutes Zeichen. Zum Erfolg führte 1997 nämlich auch der enorme Druck von außen, der den damaligen Kanzler Helmut Kohl überhaupt erst dazu brachte, die Abstimmung über das Gesetz freizugeben. Es waren gerade die konservativen Frauen, die Druck auf die Union ausübten – unter anderem mit einem anscheinend bis heute noch effektiven Druckmittel: mit vielen, vielen Briefen.
Im Januar 2017, als Trump zum ersten Mal Präsident der Vereinigten Staaten wurde, gingen Hunderttausende Frauen auf die Straße. Sie trugen rosa Pussyhats wegen seines heimlich aufgezeichneten Zitats „Grab them by the pussy“ („Grapsch ihnen an die Muschi“). Sexuelle Gewalt beginnt, wo solche Sätze normalisiert werden. Sie geht durch alle politischen Lager, alle gesellschaftlichen Gruppen. Umso verwunderlicher ist es, dass bei der Wahl in diesem November so viele Frauen ihre Stimme Donald Trump gegeben haben.
Katrin Gottschalk
ist seit 2016 stellvertretende Chefredakteurin der taz und dort verantwortlich für digitale Projekte. Vorher war sie Chefredakteurin des „Missy Magazine“.
Dem Umfrageinstitut Forsa zufolge würden 21 Prozent der Frauen in Deutschland für Friedrich Merz stimmen. Er ist ganz gewiss kein Trump, derartige Zitate wie die des nächsten US-Präsidenten sind von Merz nicht bekannt. Bekannt ist allerdings sein Stimmverhalten von 1997, das wohl auch deshalb immer wieder aus der Mottenkiste hervorgeholt wird, weil es ein Misstrauen manifestiert. Wenn es um mehr Schutz für Frauen geht – wird Friedrich Merz dann ein Unterstützer oder eher ein Verhinderer sein?
Will Merz die Wahl gewinnen, sollte er sich dafür einsetzen, dass es bald ein Gewalthilfegesetz gibt. Nur so kann er dem Misstrauen der Frauen entgegenwirken. Das wird kosten. Denn Gewaltschutz kostet nun mal. Zwar schaffte die Ampelregierung 2022 endlich den Paragrafen 219a ab und legalisierte so das Informieren über Abtreibungen. Aber viele frauenpolitische Vorhaben wie das Gewalthilfegesetz blieben liegen, weil dafür Geld nötig ist. Geld, das auch die Union nicht haben wird, wenn sie die Schuldenbremse nicht reformiert.
Wenn Frauenrechte zu teuer werden, schwindet plötzliche deren Dringlichkeit, drohen sie wieder zu „Gedöns“ zu werden. Deshalb muss sich – egal, wer ab 2025 in Deutschland regiert, und vielleicht besonders, wenn es die CDU ist – der Druck auf die Politik erhöhen. Wer sich ob des rechtskonservativen Schwenks jetzt in Aussichtslosigkeit suhlt, wirkt vielleicht besonders links, macht es sich aber letztlich nur bequem. In der aktuellen Ausgabe von analyse & kritik regt der Autor Jan Ole Arps sehr inspirierend dazu an, mit solidarischer Katastrophenpolitik einen Rückzug in die eigene Nische zu verhindern.
Sexuelle Gewalt wird bleiben, und der Kampf dagegen wird bleiben – und die gegenseitige Hilfe. Sollten trans Frauen aus dem Schutz des Gewalthilfegesetzes herausfallen, müssen sich wieder informelle Strukturen aufbauen: Frauen, die ein Bett anbieten für andere, die vor Gewalt flüchten müssen. Nur weil die Politik droht, rückschrittlich zu werden, muss dies nicht auch die gelebte Solidarität beeinflussen.
Jedem Rückschritt kann immer auch ein Fortschritt folgen. Auf Donald Trump 2017 folgten die Frauenproteste, die rechtskonservative FPÖ-ÖVP-Regierung unter Sebastian Kurz in Österreich beflügelte die Gründung der Omas gegen Rechts, die bis heute fast jeden Tag für Menschenrechte auf die Straße gehen. Wie beim Thema Vergewaltigung in der Ehe sollten wir nicht immer auf den einen Mann starren, der sich gegen Frauenrechte ausspricht. Wir sollten auf all jene schauen, die sich in Massen und Mehrheiten gegen fortschrittliche Gesetze zum Schutz von Frauen und Minderheiten gestellt haben. Denn es gibt sie, die Mehrheiten für Frauenrechte. Das zeigt die breite Bewunderung für Gisèle Pelicot.
Am Ende des Prozesses sagte Pelicot: „Heute habe ich Vertrauen in unsere Fähigkeit, gemeinsam eine Zukunft zu gestalten, in der alle, Frauen und Männer, in Harmonie, Respekt und gegenseitigem Verständnis leben können.“ Wenn diese Frau, Opfer eines schier unglaublichen Verbrechens, nach einem monatelangen Prozess und allem, was sie erlebt hat, Grund zum Optimismus sieht, dann sollten wir uns von ihr inspirieren lassen.
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