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Kim Jong Un nimmt Südkorea ins Visier

Immer mehr Experten glauben, dass die derzeitigen massiven Drohgebärden Nordkoreas gegenüber dem Süden über das übliche Säbelrasseln hinausgehen

Touristen spazieren im Süden Koreas entlang des Zauns zur demilitarisieren Zone, an dem Bänder hängen, mit den Wünschen für eine Wiedervereinigung Foto: Soo-hyeon Kim/reuters

Aus Seoul Fabian Kretschmer

Begreift man die Spannungen auf der koreanischen Halbinsel als Wellenbewegungen, dann laufen sie derzeit mit erschreckendem Tempo auf einen neuen Höhepunkt zu: Erst am Wochenende hat Nordkoreas Generalstab Südkoreas Regierung beschuldigt, unbemannte Drohnen mit Propagandaflugblättern über die Pjöngjang entsandt zu haben. Am Dienstag ließ das Kim-Regime dann innerkoreanische Straßenverbindungen sprengen. „Unser Angriffszeitpunkt für die Zerstörung von Seoul […]ist nicht festgelegt“, erklärte Kim Yo Jong, Schwester des Diktators Kim Jong Un: „Aber der Moment, wenn erneut eine Drohne der Republik Korea am Himmel über unserer Hauptstadt entdeckt wird, wird sicherlich zu einer fürchterlichen Katastrophe führen.“

Und am Mittwoch hieß es aus Pjöngjang, 1,4 Millionen junge Menschen hätten sich freiwillig der Volksarmee angeschlossen, um Südkoreas Drohnen zu bekämpfen. Den Ernst der Lage zeigt ein kurzfristig einberufenes Treffen der Vizeaußenminister von Südkorea, Japan und der USA in Seoul am Mittwoch, um sich gegenüber der Bedrohung aus Nordkorea zu koordinieren. Immer mehr Beobachter glauben, dass Pjöngjangs Rhetorik nicht nur das übliche Aufplustern eines paranoiden Regimes ist, sondern man Kim beim Wort nehmen sollte. Dies sei „beängstigend“, sagt ein südkoreanischer Ex-General mit Bitte um Anonymität.

Schon im Dezember hatte Kim Südkorea zum „Hauptfeind“ erklärt und dies in die Verfassung schreiben lassen. Das jahrzehntealte Ziel einer Wiedervereinigung hat er aufgegeben. Seit Frühsommer wenden beide Seiten nahezu täglich Methoden psychologischer Kriegsführung an: Südkorea stellte riesige Lautsprecheranlagen mit Propagandabeschallung an der entmilitarisierten Zone auf. Und Nordkorea schickt sogenannte Müllballons über die Grenze und hat den Todesstreifen zwischen den Staaten seit Jahresbeginn mit Zehntausenden Landminen befestigt.

In Seoul ist inzwischen eine Regierung an der Macht, die sich von Kims Drohungen nicht einschüchtern lässt. Präsident Yoon Suk Yeol spricht aus, worüber sein Vorgänger Moon Jae In stets geschwiegen hat: Dass er nämlich das abgeschirmte und verarmte Volk Nordkoreas mit kritischen Informationen über sein Regime und dessen Menschenrechtsverbrechen versorgen möchte. Doch wäre es ein Fehler, Nordkoreas Verhalten als bloße Reaktion darauf zu erklären.

Lange ließ sich Nordkoreas Militärdoktrin darauf reduzieren, nicht als zweites Libyen zu enden. Das Schicksal, das Muammar al-Gaddafi 2011 ereilte, wäre dem Diktator wohl erspart geblieben, hätte er sein Nuklearprogramm nicht im Tausch für fragile Sicherheitsversprechen aufgegeben. Deshalb galt auch Kims Atomarsenal stets als Absicherung gegen eine US-Invasion.

Längst ist eine Abkehr von der reinen Selbstverteidigungsdoktrin zu sehen. Nordkorea verfügt schon seit einer Dekade über genügend Sprengköpfe für eine glaubhafte Abschreckung. Trotzdem baut es sein Arsenal aus und setzt statt auf Interkontinentalraketen mittlerweile auf Kurzstreckenraketen und taktische Nuklearwaffen, die vor allem gegen Südkorea nützlich wären. „Für mich sieht es so aus, als wolle sich Nordkorea auf einen Krieg vorbereiten – wohl nicht kurzfristig, sondern in den nächsten fünf bis zehn, vielleicht auch 20 Jahren“, sagt anonym ein Nordkorea-Experte in Seoul. „Der Plan ist, Südkorea einzunehmen und die USA daran zu hindern, sich in den Konflikt einzumischen.“

Nordkoreas Militär hat vier, möglicherweise auch schon fünf Typen an Interkontinentalraketen, die alle das US-Festland erreichen können. Das Regime verfügt also über eine glaubhafte Abschreckung. Sollten Kims Truppen in Seoul einmarschieren, stünde die US-Regierung vor dem Dilemma, im Atomkrieg etwa San Francisco für Seoul opfern zu müssen.

Der republikanische Präsidentschaftskandidat Donald Trump betrachtet Südkoreas Sicherheit vor allem als finanzielles Problem. Am Dienstag sagte er in Chicago, wie er gegenüber Seoul auftreten würde, säße er im Weißen Haus: „Wäre ich jetzt dort, würden sie uns 10 Milliarden Dollar pro Jahr zahlen. Und wissen Sie was? Sie würden es mit Freude tun. Es ist eine Geldmaschine. Südkorea.“ Die Summe wäre fast das Zehnfache von dem, was Seoul derzeit für die US-Soldaten im Land zahlt. Dabei sind auch die Kapazitäten der USA begrenzt. Der einstige Weltpolizist wird schon durch die Kriege in der Ukraine und in Nahost und durch den drohenden Taiwankonflikt stark beansprucht.

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