Die Eskalation ist so gut wie sicher

Am Donnerstag tritt der neue Thüringer Landtag zum ersten Mal zusammen. Schon die Wahl zur Landtagspräsidentin wird kompliziert. Was plant die AfD?

Der rechtsextreme Björn Höcke führt die AfD in Thüringen Foto: Frank Hammerschmidt/dpa

Von Gareth Joswig
und David Muschenich

Der Thüringer Landtag ist bekannt für juristische Winkelzüge. Und die beginnen nun schon vor dem ersten Treffen des neu gewählten Landtags in Erfurt am kommenden Donnerstag. Eine der Aufgaben der 88 Abgeordneten an diesem Tag: Das Parlament muss ei­ne*n Prä­si­den­t*in wählen. Klingt simpel, dürfte aber höchst umstritten ablaufen. Denn das Vorschlagsrecht für das Amt hat die stärkste Fraktion – die AfD.

Schon vorab kündigten die anderen Parteien an, nicht für AfD-Kan­di­dat*in­nen zu stimmen. Sie wollen die Geschäftsordnung ändern, um eine Blockade der AfD zu verhindern. Denn die extrem rechte Landtagsfraktion unter Vorsitz Björn Höckes setzt auf maximalen Konfrontationskurs: Sie will Wiebke Muhsal zur Landtagspräsidentin vorschlagen. Die 38-Jährige ist fester Teil von Höckes innerem Zirkel und berüchtigt für ihr Eskalationspotenzial.

Im Plenarsaal erschien sie zu einer Debatte über ein Kindergarten­gesetz mal in Vollverschleierung, um gegen den Islam zu hetzen. Bekannt ist sie außerdem für Antifeminismus, Queer- und Transfeindlichkeit. Zudem ist Muhsal rechtskräftig verurteilt – weil sie den Thüringer Landtag in der letzten Legislatur um 8.000 Euro betrogen hat.

Muhsal dürfte trotz geheimer Abstimmung selbst für wankelmütige CDU-Abgeordnete oder wackelige BSW-Po­li­ti­ker*in­nen nicht wählbar sein. Mit der Nominierung der verurteilten Betrügerin Muhsal werde deutlich, „wie sehr die AfD das Parlament verachtet“, sagt Christian Schaft, Fraktionsvorsitzender der Linken. Ähnlich äußerte sich auch der Fraktionsvorsitzende der SPD, Lutz Liebscher: Dass sie dem Landtag vorstehen wolle, sei „ungeheuerlich“, sagte er der taz.

Das Amt des Landtagspräsidenten ist ein hohes und repräsentatives Amt. Diejenigen Parlamentarier*innen, die es ausüben, verfügen meist über einen guten Ruf auch über Parteigrenzen hinweg. Das ist wichtig, weil sie eine übergeordnete Funktion einnehmen: Sie repräsentieren nicht nur offiziell den Landtag, sondern sollen für den möglichst reibungslosen Ablauf demokratischer Prozesse und die Einhaltung von Regeln auch während der Plenardebatten sorgen.

Dass mit parlamentarischen Taschenspielertricks und Winkelzügen der AfD zu rechnen ist, daran erinnert nicht zuletzt die Thüringer Regierungskrise 2020. Damals wählte die AfD überraschend den FDP-Kandidaten Thomas Kemmerich zum Kurzzeitministerpräsidenten und ließ ihren eigenen Kandidaten vorsätzlich durchfallen.

Was die Partei diesmal tun will, ist noch unklar. Auf Anfrage wollte Stefan Möller, Landessprecher der AfD Thüringen und Fraktionsmitglied, nicht verraten, mit welcher Strategie die ex­trem rechte Partei in die Sitzung geht: „Da wäre ich ja mit dem Klammerbeutel gepudert, wenn ich das jetzt mit Ihnen debattieren würde“, sagte er der taz am Telefon.

Konfrontativ finde er weder das Beharren auf dem alleinigen Vorschlagsrecht der AfD noch die Nominierung der AfD-Politikerin Muhsal: „Konfrontativ sind die anderen“, so Möller, „wir müssen jetzt taktisch mit der Situation klarkommen. Und wir haben einen Plan.“

Doch auch die anderen Parteien planen bereits. „Jeder Bestrebung, ein Verfassungsorgan auf offener Bühne vorzuführen, werden wir entschlossen entgegentreten“, sagte Andreas Bühl, parlamentarischer Geschäftsführer der CDU. Darum wollen CDU und BSW vor der Wahl des*­der Land­tags­prä­si­den­t*in die Geschäftsordnung ändern. Dem Vorschlag nach dürften dann von Anfang an alle Fraktionen Kan­di­da­t*in­nen vorschlagen – nicht nur die AfD.

Damit der Antrag durchgeht, braucht es eine einfache Mehrheit. Wenn Linke und SPD auch dafürstimmen, wird die Geschäftsordnung geändert. Der AfD zufolge aber könne der Landtag die Geschäftsordnung erst angehen, nachdem ein*e Land­tags­prä­si­den­t*in gewählt sei. Die rechtsextreme Partei wird voraussichtlich versuchen, den Antrag zu übergehen.

Der AfD kommt eine Unsicherheit zugute, die sich aus der aktuellen Geschäftsordnung ergibt. Bislang ist dort unklar formuliert, wie lange die AfD allein das Vorschlagsrecht innehat. So steht unter Paragraf 2 der Geschäftsordnung: Sollte die Mehrheit der Abgeordneten in geheimen Wahlen zweimal nicht für den Vorschlag stimmen, „können für weitere Wahlgänge neue Bewerberinnen beziehungsweise Bewerber vorgeschlagen werden“. Doch wer die weiteren Vorschläge machen darf, das regelt die Verordnung nicht.

Dass es zu dieser Situation kommen könnte, davor hatte den bisherigen Landtag eigentlich schon das Thüringen-Projekt des Verfassungsblogs gewarnt. Die Ju­ris­t*in­nen rieten in einem Policy-Paper dazu, vorsorglich die Geschäftsordnung zu ändern. Ihr Vorschlag: unmissverständlich festschreiben, dass alle Fraktionen Kan­di­da­t*in­nen aufstellen können, wenn der Vorschlag der stärksten Fraktion nicht die erforderliche Mehrheit erhält. Der alte Landtag ist der Empfehlung allerdings nicht nachgekommen.

So bleibt es also Auslegungssache. Der Wissenschaftliche Dienst des Thüringer Landtags geht nach Auslegung der geltenden Geschäftsordnung davon aus, dass nach zwei durchgefallenen Kan­di­da­t*in­nen der AfD auch die übrigen Fraktionen Vorschläge machen können. Die AfD hingegen hat bereits mitgeteilt, dass sie, wenig überraschend, anderer Rechtsauffassung ist. Sie sieht das alleinige Vorschlagsrecht bei sich selbst.

Welche Ansicht sich am Donnerstag durchsetzen wird, das hängt auch vom Alterspräsidenten ab, der die erste Sitzung leitet und in ihr die Geschäftsordnung auslegt. In Thüringen ist das der AfD-Abgeordnete Jürgen Treutler mit seinen 73 Jahren.

Treutler wurde im für die AfD sicheren Wahlkreis Sonneberg I direkt gewählt. Pikant dabei: Ursprünglich hatte die Partei hier einen anderen und deutlich jüngeren Kandidat aufgestellt. Der allerdings zog überraschend zurück. Sein Kreissprecher gab „persönlich-strategische Gründe“ an. Die Kreis-AfD wählte Jürgen Treutler nach – mit besten Aussichten auf die Alterspräsidentschaft.

Was also, wenn sich der AfD-Alterspräsident bei der Änderung der Geschäftsordnung querstellt oder sich weigert, andere Vorschläge für die Wahl zur Land­tags­prä­si­den­t*in als jene aus der AfD zuzulassen?„Der Landtag kann mehrheitlich das Gegenteil feststellen“, sagt die Juristin Juliane Talg vom Thüringen-Projekt. Die Auslegungshoheit über die Geschäftsordnung liege am Ende beim Landtag selbst.

Ebenso hält Talg auch den Alterspräsidenten für abwählbar – auch wenn das so nicht explizit in der Geschäftsordnung ausformuliert sei, weil eine solche Situation eben noch nie vorgekommen sei. „Es gibt zwar klare Regelungen, was den Wahlvorgang angeht, aber aufgrund kleiner Unsicherheiten kann die AfD darauf herumreiten und den Fall vor das Verfassungsgericht ziehen“, befürchtet sie.

„Wir haben einen Plan“

Stefan Möller, Landessprecher der AfD Thüringen

Die Juristin hält es für wahrscheinlich, dass die AfD auf ihrer Position beharrt, auch wenn sie rechtlich schwer zu vertreten sei. „Sie werden das Argument vorbringen: Wir sind die stärkste Fraktion, das Volk will das so. Wenn ihr nicht mitmacht, stellen wir uns quer. – Dann können sie eskalieren“, sagt Talg. Der Wahlvorgang und der Bruch mit den bisherigen parlamentarischen Gepflogenheiten, um zu verhindern, dass eine Rechtsextremistin Parlamentspräsidentin würde, biete Stoff für die autoritär-populistische Erzählung der AfD.

Dass es eine Eskalation geben wird, ist also so gut wie sicher. Noch größer als das Risiko eines öffentlichkeitswirksamen Opfergangs der AfD dürfte indes eine AfD-Landtagspräsidentin sein. Das skizzierte der Staatsrechtler und Chefredakteur des Verfassungsblogs, Maximilian Steinbeis, bereits in seinem Buch „Die verwundbare Demokratie“: Eine Landtagspräsidentin nämlich leitet nicht nur Debatten, sondern hat auch die personelle Hoheit über die Landtagsverwaltung. Sie könnte den Parlamentsdirektor feuern und linien­treues Personal nachbesetzen.

Ebenso könnte die AfD-Landtagspräsidentin als Repräsentantin nach ­Moskau, Budapest oder zur Residenz von Donald Trump nach Mar-a-Lago reisen – und symbolische Außenpolitik ohne jegliche politische Verantwortlichkeit betreiben. Ebenfalls vorstellbar wäre ein Missbrauch des Parlaments für Tagungen der Neuen Rechten, völkische Kulturförderung oder die Entsorgung vermeintlich „entarteter“ Kunst.

Theoretisch wäre sogar der Aufbau eines Sicherheitsdienstes oder einer Polizeieinheit denkbar, die der AfD-Landtagspräsidentin unterstünde und Ordnungsrufe gegenüber missliebigen Abgeordneten vollstreckte. Ebenso könnte eine AfD-Landtagspräsidentin formalen Blockaden bei der Ausfertigung von Gesetzen Vorschub leisten, gewählten Rich­te­r*in­nen die Unterschrift verweigern oder juristische Scharmützel mit dem Landesverfassungsgerichtshof in die Wege leiten.

Und das Wichtigste: Der Landtagspräsident leitet die Ministerpräsidentenwahl und entscheidet im Zweifel über die Auslegung eines verfassungsrechtlich umstrittenen Ergebnisses im dritten Wahlgang. Das könnte wiederum zu einer Klage vor dem Verfassungsgerichtshof und einer Hängepartie für die gewählte Regierung führen, sprich zu einer Verfassungskrise, welche die AfD wiederum genüsslich ausschlachten würde. Kurzum, in den falschen Händen kann selbst die Ausübung eines formal repräsentativen Amts für großen Schaden sorgen.