Der Bündnisfall

Das BSW trifft einen Nerv im Osten. In Thüringen könnte Spitzenkandidatin Katja Wolf sogar Ministerpräsidentin werden. Aber es gibt da ja auch noch die Parteichefin Wagenknecht

Alle wollen Sahra sehen: Marktplatz von Altenburg Anfang der Woche Foto: Leon Joshua Dreischulte

Aus Altenburg, Eisenach und Erfurt Kersten Augustin

Im abgesperrten Bereich hinter der Bühne lehnt sich Katja Wolf an einen Transporter und schließt die Augen. „Entspannt ihr euch? Seid ihr locker?!“, fragt ihr Sprecher beschwörend in die Runde. Es ist Montag in Eisenach, der Marktplatz ist voll, gleich beginnt die Wahlkampftour des Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) durch Thüringen.

Das Manuskript ihrer Rede hat Katja Wolf einige Male durchgeknetet. „Modul 1“, steht auf dem ersten Zettel in ihren Händen, „Katjas Geschichte. Bildung.“ Und die erste Frage, die der Moderator ihr gleich auf der Bühne stellen wird:

„Wie fühlst du dich?“

Eben war sie noch bei der Linken und Bürgermeisterin von Eisenach, jetzt könnte Katja Wolf für das BSW Ministerpräsidentin werden. Bei 18 Prozent steht das Bündnis Sahra Wagenknecht in einigen Umfragen, der Abstand zur CDU ist klein. Das BSW könnte das Parteiensystem durchschütteln und der Regierung in Berlin den finalen Stoß geben, wenn zwei bis drei Ampelparteien aus dem Landtag fliegen.

Und Katja Wolf? Will die AfD schwächen und so die Demokratie vor Björn Höcke retten, damit hat sie ihren Wechsel begründet. Für ihre Parteichefin dagegen ist Thüringen nur der erste Schritt, um das BSW als neue deutsche Protestpartei zu etablieren.

Wie soll man sich da schon fühlen?

Dass eine Partei aus dem Stand so erfolgreich ist, ist selten. Was aber ist das BSW für eine Partei? Und wer sind die Leute, die in Thüringen bald regieren könnten?

Wer das Bündnis Sahra Wagenknecht durch den Wahlkampf begleitet, erlebt eine Partei, die einen Nerv trifft. Die improvisieren muss, weil es sie erst ein paar Wochen gibt, und die gleichzeitig mit ziemlich etabliertem Personal daherkommt. Nicht zuletzt eine Partei, die versucht, eine Balance zwischen dem Populismus ihrer Namensgeberin und einer pragmatischen Realpolitik in Thüringen zu finden.

Bevor Katja Wolf auf die Bühne tritt, spielt der Liedermacher Tino Eisbrenner ein paar seiner alten Hits. Die größten Erfolge hatte er in der DDR. Noch im Frühjahr flog er für einen Musikwettbewerb nach Moskau.Dann geht es los.

Der Marktplatz ist voll, die Eisenacher jubeln ihrer langjährigen Bürgermeisterin zu. Ab Juli 2012 regierte sie die Stadt, zur Kommunalwahl in diesem Frühjahr trat sie nicht wieder an.

Wolf spricht über Bildungspolitik und fehlende Lehrerstellen. Besonders populistisch klingt sie nicht, nur einmal, als sie über die fehlenden Deutschkenntnisse an den Schulen spricht, sagt sie, das hier sei „nicht Neukölln“. Ansonsten sagt Wolf, das BSW stehe zum Asylrecht, und dass es ein Skandal sei, dass es in Thüringen so lange dauere, bis ausländische Ärzte anerkannt seien.

Hinter der Bühne wird es hektisch. „Katja!“, ruft einer, „Sahra kommt in zwei Minuten.“ Wolf beendet ihre Rede und verlässt die Bühne, um ihre Vorsitzende vom Auto abzuholen.

Die BKA-Beamten setzen ihre Sonnenbrillen auf, die Türen der schwarzen Limousine gehen auf, Sahra Wagenknecht steigt aus – und hat ihren Mann mitgebracht. „Oh“, sagt Wolf zu Oskar Lafontaine, „ich wusste gar nicht, dass du auch kommst.“ Wolf und Wagenknecht umarmen sich. Die Konkurrenz, die es zwischen ihnen gibt, hier die Parteichefin, dort die Realpolitikerin, man spürt sie nicht auf den ersten Blick.

Vielleicht ist es jetzt, im Wahlkampf, auch weniger Konkurrenz als eine gut funktionierende Arbeitsteilung. War Wolf eben noch die pragmatische Bildungspolitikerin, betritt nun die Populistin die Bühne. Es dauert nicht lange, bis Wagenknecht über elitäre Großstädter mit „Hafermilch-Macchiato“ und Lastenrädern schimpft.

Hinter der Bühne tigert Oskar Lafontaine auf und ab. „Ah, meine Lieblingszeitung“, begrüßt er den Reporter der taz sarkastisch. Er selbst will keine Rede halten, wie ein Unbeteiligter wirkt er aber auch nicht. Nichts darf ihm den Blick auf die Menge von der Bühne versperren. „Ich muss sehen, wie die Leute reagieren“, sagt Lafontaine mit einem Lächeln: „Davon verstehe ich was.“

Auf der Bühne galoppiert Wagenknecht durch die Wahlkampfschlager. Von Politikern, die vorschreiben würden, welche Autos wir fahren, über das Gas, das wir vom „bösen Putin“ nicht mehr kaufen dürften, obwohl der Rest der Welt das weiter tue.

Lauten Applaus gibt es, als sie über Armut spricht. Über Rentner, die zur Tafel gehen müssten. In das Bürgergeld-Bashing der ganz großen Berliner Koa­li­tion stimmt sie nicht ein, wie überhaupt interessant ist, worüber sie im Wahlkampf kaum spricht: Migration. Das BSW hat die Wähler mit einem Onlinetool befragt, was für sie die wichtigsten Themen im Wahlkampf seien. Die Migration landete nur auf Platz vier. Das Volk bestellt, Wagenknecht liefert.

Während Sahra Wagenknecht als Marktschreierin durchs Land reist, laden Mario Voigt und Friedrich Merz von der CDU in ein Erfurter Autohaus ein, und Kevin Kühnert geht mit Genossen wandern. Vielleicht ist das nur eine andere Strategie, vielleicht aber auch die Angst mancher Bundespolitiker, auf Protest zu stoßen.

Krieg und Frieden als Thema Nummer eins

Sahra Wagenknecht kommt zum Ende ihrer Rede, dem Höhepunkt. Es geht um Krieg und Frieden, das Thema Nummer eins des BSW. In einem Satz verurteilt sie den russischen Angriff auf die Ukrai­ne, dann schimpft sie auf die Waffenlieferungen der Ampelkoalition, auf „Strack-Rheinmetall“ von der FDP und sagt: „Ohne Frieden ist alles nichts!“

Am meisten Applaus bekommt sie, als sie darauf hinweist, dass Wiesbaden von Eisenach nicht weit ist. Dort sollen 2026 die US-Raketen stationiert werden. Ein möglicher russischer Angriff hätte auch hier katastrophale Folgen: „Natürlich ist das Landespolitik!“

Gerade erst hat Wagenknecht in einem Interview die Ablehnung der Stationierung zur Bedingung für eine Koa­li­tion gemacht. Vom BSW in Thüringen war niemand über ihren Vorstoß informiert. Spricht man die Wahlkämpfer darauf an, wird tief durchgeatmet und dann gelächelt.

War es richtig, die Ablehnung zur Bedingung zu machen, Herr Lafontaine? „Das funktioniert hervorragend“, sagt er, was keine Antwort auf die Frage ist, aber zeigt, dass es vor allem um Wahlkampfstrategie geht. Ob ein bisschen Friedenspolitik im Vorwort des Koalitionsvertrags ausreiche, um die Bedingung zu erfüllen? Oskar Lafontaine winkt ab, das werde man sehen. Nach der Wahl.

Er wendet sich an Katja Wolf, die wieder hinter der Bühne am Auto lehnt. Auch Lafontaine fragt, wie es ihr gehe. „So seh ich aus, wenn ich tiefenentspannt bin“, behauptet Wolf. Man muss ihr das nicht glauben.

Nach der Rede von Sahra Wagenknecht gibt es die Möglichkeit, Fotos zu machen. Katja Wolf nimmt ein Handy nach dem anderen und macht Bilder – von Wagenknecht und Fans. Fotos mit ihr wollen deutlich weniger Menschen machen.

Der Hype um das BSW ist groß. Dutzende Journalisten sind nach Eisenach gekommen. Die „Heute Show“ ist da, die New York Times habe auch schon angefragt. „Ich mein: Hallo!?“, sagt Pressesprecher Steffen Quasebarth, „Wir sind doch nur das kleine Thüringen!“

Wenn aber in einer Partei selbst der Pressesprecher kaum über den Marktplatz laufen kann, ohne für ein Selfie angehalten zu werden, hat man wohl etwas richtig gemacht. „Ich dachte, Sie gibt’s nur um 19 Uhr im Fernsehen“, sagt ein Passant.

Steffen Quasebarth hat 30 Jahre lang das „Thüringen Journal“ moderiert. Für ältere Thüringer ist das ein bisschen, als würde Ingo Zamperoni seine Krawatte ablegen und sich einer Partei anschließen. Quasebarth ist nicht nur BSW-Pressesprecher, er steht auch auf Listenplatz drei. Und es hat ja eine gewisse Logik: Was braucht eine Talkshow-Politikerin wie Sahra Wagenknecht, um erfolgreich zu sein? Einen Moderator.

Am Morgen nach ihrem Auftritt in Eisenach sitzt Katja Wolf in Erfurt unter einem Kreuz in einem Tagungsraum der katholischen Kirche und muss über Familienpolitik reden. Es gibt Schnittchen und Obst auf Zahnstochern. Der Arbeitskreis Thüringer Familienorganisationen hat eingeladen, die anderen Parteien haben ihre fachpolitischen Sprecherinnen geschickt. Da das BSW so etwas noch nicht hat, geht die Spitzenkandidatin eben selbst.

Katja Wolf schwirrt der Kopf, gestern war sie um halb eins zu Hause. „Das war okay. Aber bei der letzten Podiumsdiskussion dachte ich kurz: Wo bin ich? Wie heiß ich noch mal?“ Auf dem Podium kann sie die Finger nicht von ihrem Handy lassen.

Der Sprecher des Familienverbands hat die Wahlprogramme genau gelesen, beim BSW sind ihm Widersprüche aufgefallen. Dort heißt es, dass die „normale Familie“ im Mittelpunkt stehen solle. Was denn normal sei, will er wissen. Außerdem fordert das BSW Sprachtests für Dreijährige. Wer durchfällt, soll verpflichtend in den Kindergarten. Den besuchen aber heute schon 95 Prozent der Thüringer Kinder – wofür braucht es da eine Pflicht?

Die Familienpolitik ist eines von vielen Feldern, auf denen unklar ist, was die Partei will. Beim Wahl-O-Mat hat die Partei 33 von 38 ihrer Antworten nicht begründet. Familie sei „da, wo Verantwortung ist“, sagt Katja Wolf dann und unterscheidet sich damit nicht von SPD, Grünen und Linken. Deutlich wird aber, dass Wolf den Abgeordneten der anderen Parteien rhetorisch überlegen ist: Die Grüne Sprecherin spricht von „Care-Arbeit“ und „Zeitpolitik“, die Linke sagt den schönen Satz: „Wir kennen alle das Familienförderungssicherungsgesetz“. Katja Wolf dagegen reißt als Erste das Publikum im Saal mit, als sie sich empört, dass auf dem heutigen Podium zur Familienpolitik ausschließlich Frauen sitzen.

Da die Populistin Wagenknecht, hier die Real­politikerin Wolf. Kann das klappen?

Antiestablishment mit vielen Etablierten

Während Katja Wolf diskutiert, betritt Frank Augsten die Geschäftsstelle des BSW. Nicht mal ein Schild hängt an der Tür, am Eingang hat jemand den Namen der Partei auf eine Postkarte geschrieben. Zwei Schreibtische, ein alter Teppichboden, ein Chihuahua und ein Drucker, der immer wieder ausfällt. Von hier aus wird die politische Landschaft durcheinandergebracht.

Frank Augsten trägt Socken in Sandalen, äußerlich könnte man ihn für einen Grünen halten, und das war er auch, bis März. Augsten hat mal die Thüringer Landesverbände von Bund und Nabu mitgegründet, war Landesvorsitzender der Grünen – und ist seit Ende März beim Bündnis Sahra Wagenknecht. Ihn stört, dass sich seine Ex-Partei in die erste Reihe derer gestellt hat, die Waffen für die Ukraine fordern. Dass er im Frühjahr bei der Listenaufstellung der Grünen nicht berücksichtigt wurde, dürfte auch eine Rolle gespielt haben. Kurz danach habe es „einen Anruf“ gegeben, mehr will Augsten nicht verraten. Nun steht er auf Platz 5 der BSW-Liste für Thüringen, damit ist er sicher im kommenden Landtag.

Mitglieder hat die Partei in Thüringen immer noch weniger als 100. Jeder Interessent soll sorgfältig geprüft werden, dafür fehlt aber die Zeit im Wahlkampf. In manchen Städten hat das BSW kein Mitglied, in manchen Landkreisen eins. Viele hatten geglaubt, dass das ein Nachteil sein würde im Wahlkampf. Gerade zeigt sich, dass das Hemds­är­me­lige bei den Wählern gut ankommt. Das hat das BSW mit der AfD gemein: Man spricht zwar nicht von „Altparteien“, aber will anders sein als die anderen.

Tatsächlich wird viel improvisiert: Die Wahlplakate lagern in einer Tischlerei, der Meister selbst steht auf Listenplatz 21. Mails an manche der künftigen Abgeordneten kommen mit einer Fehlermeldung zurück, die Adressen werden gerade erst eingerichtet.

Bei all der schönen Erzählung vom Aufbruch könnte man vergessen, dass das BSW ziemlich etabliert aufgestellt ist: Sie hat die größte einzelne Partei­spende der vergangenen Jahre erhalten, 5 Millionen Euro von einem Unternehmerpaar aus Mecklenburg. Sie hat Bundestagsmandate, die aus der Spaltung der Linken hervorgingen. Und in Thüringen stehen auf den vorderen Listenplätzen erfahrene Kandidaten. Neben ehemaligen Grünen kommen Kandidaten von der CDU, den Wahlkampf koordiniert eine ehemalige Bundestagsabgeordnete der Linken.

Sie alle werden nicht durch Amateurfehler auffallen, so das Kalkül. Gleichzeitig ist kaum vorstellbar, dass sich diese erfahrenen Landespolitiker aus Berlin oder dem Saarland diktieren lassen, unter welchen Bedingungen sie einer Koalition zustimmen.

Auf ihrer Wahlkampftour betont das BSW, wie viele Unternehmer, Gastwirte, „ganz normale Bürger“ auf ihrer Liste stehen. Der Staat solle mehr ermöglichen, weniger verbieten, und überhaupt klingt das oft ziemlich wirtschaftsliberal. Hätte es noch einen Beweis gebraucht, dass das Parteiensystem im Umbruch ist und sich nicht mehr klassisch von links bis rechts organisiert, das BSW liefert ihn. Im Osten mit seiner geringen Parteibindung verfängt das.

Der Ex-Grüne Frank Augsten hat nur kurz Zeit für ein Gespräch, gleich ist er mit dem Landesgeschäftsführer verabredet. Sie bereiten die Koalitionsverhandlungen mit der CDU vor, erzählt er. Beim Ökolandbau liege Thüringen ganz hinten, und wie könnte ein Kompromiss bei der Windkraft im Wald aussehen? Augsten ist dafür, viele Thüringer dagegen. Seiner Partei hat er abgerungen, dass sie im Wahlprogramm dazu uneindeutig bleibt. Er will vorbereitet sein für das, was am Wahlsonntag um 18 Uhr beginnt. Wenn es nach Augsten geht, ist er in ein paar Wochen Minister, das gibt er gern zu – bevor er sich verabschiedet.

Augstens Beispiel zeigt, dass das BSW breit aufgestellt ist. Ob die Partei inhaltlich beliebig wird oder sich so als ostdeutsche Volkspartei aufstellen will, dürfte sich nach der Wahl zeigen.

Einen Tag nach dem Marktplatz von Eisenach ist nun der von Altenburg dran, in Ostthüringen, an der Grenze zu Sachsen. Hier hat Katja Wolf keinen Heimvorteil.

Altenburg hat seit der letzten Wahl einen Direktkandidaten der AfD, auch bei den Kommunalwahlen wurde die Partei stärkste Kraft. Auf dem Marktplatz schaut der Bratwurstverkäufer skeptisch auf die Bühne von Sahra Wagenknecht, stützt sich mit den Fäusten auf den Tresen und sagt: „Mir ist die AfD noch zu links.“ Ein älterer Mann schiebt sein Fahrrad über den Platz. Er freut sich, dass Wagenknecht sich gegen die US-Raketen stark macht. „Seit der Wende haben wir die scheiß Amis hier“, sagt er.

Von der Linken-Bürgermeisterin zur BSW-Spitzenkandidatin: Katja Wolf (rechts) mit einer potenziellen Wählerin in Altenburg Foto: Leon Joshua Dreischulte

Und wie hält man es mit der AfD?

Katja Wolf hat ihren Übertritt zum BSW damit begründet, dem Rechtsruck etwas entgegensetzen zu wollen. Und tatsächlich trifft man auf den Marktplätzen viele Menschen, die erzählen, dass sie zu Hause bleiben oder die AfD wählen wollten, aber nun überlegen, dem BSW ihre Stimme zu geben. Die wütend auf die Ampel sind, aber in der CDU und der Linken keine Alternative sehen. Wenn man diese Menschen in ihrem Antiamerikanismus bedient und mit Populismus gegen Lastenräder dafür gewinnen kann, eine populistische, aber demokratische Partei zu wählen statt Höcke – wäre das nicht ein verschmerzbarer Preis?

Einerseits.

Andererseits hat das BSW es bei der Europawahl nicht geschafft, die AfD merkbar zu schwächen. Auch von der Linken dürften bei der Landtagswahl viele Wähler überlaufen. Katja Wolf erzählt, dass sie mit ihrem ehemaligen Genossen Bodo Ramelow weiter Nachrichten schreibe. „Aber keine Herzchen.“

Realpolitisch könnte das BSW den Faschisten Höcke sogar stärken. Katja Wolf hat angekündigt, im Landtag „vernünftigen“ Anträgen der AfD zustimmen zu wollen. Das werde nicht oft vorkommen, verteidigt sie ihren Vorstoß, in Eisenach habe sie keinen einzigen solchen Antrag erlebt. Aber damit war der Geist aus der Flasche.

Beim BSW glaubt man, dass man nicht weiterkommt mit der bisherigen Strategie, auch harmlose Anträge zur Geschäftsordnung lieber mit Copy-and-Paste zu übernehmen und selbst zu stellen. „Das Spiel ist gescheitert“, sagt Katja Wolf, die AfD stehe bei 30 Prozent. „Wenn die AfD sagt, der Himmel ist blau, dann können wir doch nicht aus Prinzip sagen, das ist er nicht.“

Es ist ein Schritt, der die AfD weiter normalisieren wird. Katja Wolf glaubt, dass er sie entzaubert.

Die CDU hat im Landtag bereits Anträge mit Stimmen der AfD durchgebracht, sich aber nicht an deren Initiativen beteiligt. Sollte es nach den Wahlen wieder keine Mehrheitsregierung geben, könnte sich die Frage umso dringender stellen.

Eine Tolerierung durch die AfD oder eine andere Zusammenarbeit schließt das BSW aus. Auf ein Kemmerich-Szenario hat man sich aber bisher auch nicht vorbereitet, heißt es aus der Partei – also auf den Fall, dass es im Landtag keine Mehrheit für einen Kandidaten gibt und die AfD sich wieder einen Trick einfallen lässt, ähnlich wie 2020, als Thomas Kemmerich von der FDP mit ihren Stimmen zum Kurzzeitministerpräsidenten gewählt wurde.

Am Wahlsonntag um 18 Uhr wird sich zeigen, ob sich beides zusammenbringen lässt: Eine pragmatische Lösung für Thüringen und der Aufstieg einer neuen deutschen Oppositionspartei.

„Wenn die AfD sagt, der Himmel ist blau, dann können wir doch nicht aus Prinzip sagen, das ist er nicht“

Katja Wolf, BSW-Spitzenkandidatin in Thüringen
Kompromisslosigkeit oder Realpolitik

Sahra Wagenknecht will kompromisslos in den Bundestagswahlkampf starten, der im Herbst nach den Landtagswahlen beginnt. „Wir werden nie Teil dieses Sumpfes sein!“, ruft sie den Altenburgern von der Bühne aus zu, als sie über die anderen Parteien schimpft. Eine Koalition mit der CDU in Thüringen würde dem widersprechen.

Katja Wolf weiß, dass sie Ende nächster Woche zur ersten Machtbasis für das BSW werden könnte. Sahra Wagenknecht mag ihren Namen gegeben haben – realpolitisch ist sie eine Hinterbänklerin im Bundestag. Das föderale System der Bundesrepublik könnte helfen, den Populismus zu begrenzen: Formal entscheidet der Landesverband.

Anders als Wagenknecht redet Wolf über Friedenspolitik nur, wenn sie darauf angesprochen wird. Arbeitsteilung eben. Dann sagt sie, man werde sich nur an einer Landesregierung beteiligen, die in dieser Frage klar ist. Was das bedeutet, lässt man lieber im Unklaren.

„Wir können in Thüringen nicht beschließen, dass Putin an den Verhandlungstisch kommt“, hatte Katja Wolf hinter der Bühne in Eisenach am Vortag zu einer Traube von Journalisten gesagt. Es müsse aber ein „klares Bekenntnis für Frieden aus Thüringen geben“. Mit der Landes-CDU in scheint das durchaus realistisch. Auch ihr Spitzenkandidat Mario Voigt fordert im Wahlkampf „mehr Diplomatie“.

Ob das der großen Vorsitzenden reicht? Auf dem Marktplatz in Altenburg sagt Sahra Wagenknecht: „Wir werden alles tun, um die Stationierung dieser Waffen in Deutschland zu verhindern“. Alles – das klingt nach mehr als ein bisschen Frieden im Vorwort des Koalitionsvertrags. Dem Spiegel hat Wagenknecht gesagt, sie werde bei möglichen Koalitionsverhandlungen „mit am Tisch sitzen“ – ungewöhnlich für eine Bundesvorsitzende.

Wagenknecht rauscht wieder ab, die nächste Bühne wartet auf sie. Sie liebe Thüringen, ihr Heimatland, den Dia­lekt, hatte sie dem gerührten Publikum noch gesagt. Der Thüringer Senf scheint ihr weniger zu schmecken. Den Präsentkorb, den ihr die stolzen Altenburger auf der Bühne überreicht hatten, hat sie stehen gelassen.

Katja Wolf sagt: „Es muss am Ende immer um Thüringen gehen.“