Imane Khelif steht im Olympia-Finale: Im Olymp der Extremen

Die algerische Boxerin siegt im Halbfinale. Die Debatte um ihr Geschlecht geht weiter. Dabei sind extreme Körper Voraussetzung für Erfolg im Sport.

Zielgenau: Imane Khelif (rechts) schlägt die Tailänderin Janjaem Suwannapheng im Halbfinale am Dienstagabend Foto: John Locher/AP/dpa

Imane Khelif hat sich also durchgeboxt. Am späten Dienstagabend gewann sie überzeugend und einstimmig nach Punkten gegen die Thailänderin Janjaem Suwannapheng. Nun steht die 25-jährige Algerierin im Finale in Paris. Am Freitagabend wird Khelif gegen die Chinesin Yang Liu um Gold im Weltergewicht kämpfen. Und auch die Debatte um die Boxerin wird in die finale Runde gehen. Mit harten Schlägen, vor allem unter die Gürtellinie. Darf die das? Ist Khelif nicht viel zu männlich, um als Frau zu boxen?

Dass die nicht einmal nachgewiesenen körperlichen Besonderheiten bei Khelif zum weltweiten Aufreger werden, ist wenig überraschend, aber dennoch vollkommen absurd. Denn bei vielen Sport­le­r:in­nen in fast allen Disziplinen sind die körperliche Extreme nicht nur unübersehbar, sondern Grundvoraussetzung für ihren Erfolg.

Schwim­me­r:in­nen zum Beispiel kommen besonders schnell voran, wenn die Spannweite ihrer Arme die Länge ihres Körpers deutlich übersteigt. Das hat weniger mit Sport, als mit Biomechanik zu tun. Kommen dann noch extra große Hände und Füße, sowie hypermobile Fußgelenke, die einen erhöhten Vortrieb erlauben, kann ein Sportler wie Michael Phelps über Jahre die olympischen Wettbewerbe dominieren.

Ku­gel­sto­ße­r:in­nen haben einen überdurchschnittlich massigen Körper, schon um in der Drehung genug Wucht hinter die Kugel bringen zu können. Ohne die hätten sie keine Chance.

Zwanzig Zentimeter größer als der Durchschnitt

Beim Basketball hingegen würden sie schnell aussortiert. Dort sind die Spie­le­r:in­nen nicht nur zufällig besonders groß. Nyara Sabally, die größte im deutschen Team in Paris, misst zum Beispiel 1,96 Meter. Und sie ist keinesfalls eine Ausnahme. Im Schnitt kommt das Team auf 1,87 Meter – fast 20 Zentimeter mehr als die gleichaltrigen Frauen Deutschlands.

Kleine Menschen haben dafür im Turnen bessere Chancen. Hier scheinen sie im Vorteil, was Wendigkeit, Beweglichkeit und Hebel betrifft. Der US-amerikanische Superstar Simone Biles misst gerade mal 1,42 Meter. Wäre sie noch zwei Zentimeter kleiner, hätte sie in Deutschland Anrecht auf einen Schwerbehindertenausweis.

Extreme Körpereigenschaften spielen auch beim Laufen eine Rolle. Wis­sen­schaft­le­r:in­nen haben zum Beispiel versucht zu ergründen, warum Läu­fe­r:in­nen aus Jamaika auf kurzen, die aus Ostafrika hingegen auf sehr langen Strecken dominieren. Vorab gesagt: an der Hautfarbe liegt es nicht. Dennoch sind sie durch ihre Genetik offenbar im Vorteil.

Die ungewöhnliche Ausdauer von Menschen aus Ostafrika konnte Wis­sen­schaft­le­r:in­nen vor Jahren auf Angehörige der aus dem kenianischen Hochland stammenden Volksgruppe der Kalendjin eingrenzen. Die sind zwar im Schnitt etwas kleiner als zum Beispiel Dänen, haben aber längere Arme und Beine – entscheidender bio-mechanischer Vorteil.

Bei den Jamaikaner:innen, deren Vorfahren durch den Sklavenhandel oft aus Westafrika kamen, vermuten For­sche­r:in­nen eine genetische Veranlagung, die zu sprintbegünstigenden Muskelfasern führt.

Bei Sprint-Superstar Usain Bolt erkannten For­sche­r:in­nen noch ein anderes Phänomen. Er besitzt, wie die schnellsten der jamaikanischen Kurzstreckensprinter, eine signifikant stärker parallele Knie- und Knöchelanatomie als langsamere Läufer von gleicher Größe und Gewicht. So überrascht es nicht, dass beim 100-Meter-Finale der Herren mit Kishane Thompson wieder ein Jamaikaner ganz vorn mit dabei war – auch wenn es wegen eines Rückstands von fünf Tausendstelsekunden am Ende nur zur Silbermedaille reichte.

Natürlich reicht kein einziger dieser körperlichen Vorteile aus, um Gold bei Olympia zu holen. Bei den Ja­mai­ka­ne­r:in­nen zahlt sich zum Beispiel aus, dass Rennen dort als weit verbreiteter Volkssport gilt. Und ohne langjähriges Training, ohne ausgeklügelte Übung der Technik, ohne disziplinierte Konzentration wird auch aus dem extremsten Körper kei­n:e Medaillenkandidat:in.

Trai­ne­r:in­nen sortieren die Körper der Talente

Aber sicher ist: Nachwuchstrainer:innen, die bei Kindern und Jugendlichen nach Talenten suchen, haben immer auch ein Auge für ihre körperliche Eignung. Die Großen kommen zum Basketball, die Kleinen zum Turnen, die mit den langen Armen zum Schwimmen.

Und wer unter Mädchen ein Talent fürs Frauenboxen sucht, wird selbstverständlich diejenigen bevorzugen, die dank erwartbar höheren Testosteronwerten im Körper das Potenzial für eine extreme Schlagkraft besitzen.

Dass Frauen wie Imane Khelif bei den olympischen Spielen vermehrt in den Blickpunkt geraten, ist also kein Skandal. Im Gegenteil. Es ist die logische Konsequenz aus der olympischen Idee, bei der eben nicht Dabeisein alles ist, sondern bei der nichts mehr zählt als der Glanz der goldenen Medaille.

„Die Überlegenheit der Algerierin ist insgesamt zu groß“, sagte dennoch Khelif eigentlich wohlgesonnene Sportschau-Moderator bei der Live-Übertragung des Boxkampfes. Es müsse daher Klärung geben. Dabei ist Überlegenheit genau das Ziel bei Olympia. So wie bei Stabhochspringer Armand Duplantis, der nur einen Tag zuvor für seinen neuen Weltrekord gefeiert wurde – weil er so überlegen ist, dass er in einer anderen, einer eigenen Klasse springt – ach was – fliegt. Da fragt niemand nach eine Klärung.

Die olympischen Spiele sind ein Wettbewerb der Extreme. Und der Extremen. Menschen mit normalen Körpern, Durchschnittstypen halt, haben dabei niemals eine Chance.

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Leiter des Regie-Ressorts, das die zentrale Planung der taz-Themen für Online und Print koordiniert. Seit 1995 bei der taz als Autor, CvD und ab 2005 Leiter der Berlin-Redaktion. 2012 bis 2019 Leiter der taz.eins-Redaktion, die die ersten fünf Seiten der gedruckten taz produziert. Hat in Bochum, Berlin und Barcelona Wirtschaft, Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation und ein wenig Kunst studiert. Mehr unter gereonasmuth.de. Twitter: @gereonas Mastodon: @gereonas@social.anoxinon.de Foto: Anke Phoebe Peters

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